Schattenblick →INFOPOOL →SPORT → MEINUNGEN

KOMMENTAR/205: Der Preis für Brot und Spiele (SB)


Friedliche WM-Spiele: Brasilien treibt Militarisierung der inneren Sicherheit voran



Der über Generationen hinweg aufgebaute Common Sense, bei internationalen Sportgroßereignissen wie Fußball-Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen handele es sich um gemeinwohlorientierte Weltbeglückungsveranstaltungen, zeigt immer tiefere Risse. Nicht auszuschließen, daß der nur mit massiver polizeilicher, militärischer und geheimdienstlicher Repression zu haltende Herrschaftskonsens irgendwann vollständig zusammenbricht. Vielleicht nicht zuerst in Deutschland, wo Fans, Medien, Politik und Business in besinnungsloser Eintracht die Rekordmeisterschaft der FC Bayern München AG, die Potenz des Wirtschaftsunternehmens und die Verdienste des Steuerhinterziehers Uli Hoeneß feiern. Aber womöglich in Brasilien, wo die Sport- und Spielekonzerne FIFA und IOC ihre kommerziellen Raubzüge gegen alle sozialen Widerstände im Land durchzusetzen gedenken.

Wie die Organisatoren im Februar mitteilten, soll ein Aufgebot von 170.000 Sicherheitsleuten, einschließlich Militärs, spezialisierter und privater Sicherheitskräfte, einen friedlichen und reibungslosen Ablauf der Fußball-WM in Brasilien garantieren. In Rußland waren anläßlich der Winterspiele zwischen 40.000 und 100.000 (je nach Quelle) Sicherheitskräfte im Einsatz. In Brasilien indes werden offenbar neue Rekordmarken gesetzt. Präsidentin Dilma Rousseff kündigte am 12. März auf einer Pressekonferenz an, falls nötig werde man auch die Armee mobilisieren, um die Sicherheit von Fans, Touristen, Teams und die der Staatsoberhäupter zu garantieren.

Die polizeilichen und militärischen Truppen sind faktisch schon im Einsatz. "Seit 2009 sind insgesamt 9000 Polizisten in 38 sogenannten Befriedungseinheiten in den Favelas tätig, um die Lage in den Griff zu bekommen", übernehmen hiesige Medien die einseitigen Sprachregelungen aus Brasilien, wonach die Wurzel des Übels vor allem in den Armenvierteln liege, da dort Verbrechen, Gewalt und Chaos herrschten. "Trotz jahrelanger Bemühungen um eine Eindämmung von Gewalt und Bandenkriminalität herrscht weitgehend Anarchie in den Armenvierteln von Rio", wußte SZ-online am 25. März zu berichten. Aktueller Anlaß der Regierung, "im Kampf um größtmögliche Sicherheit bei der Fußball-WM" die Militärs in die dichtbesiedelten Favelas schicken zu wollen, sei der Tod eines Polizisten bei einer Schießerei in einem Slum von Rio de Janeiro. [1]

Den über die internationalen Medien verbreiteten Ankündigungen ließ die brasilianische Regierung wenige Tage später Taten folgen. Am vergangenen Sonntag haben Sondereinheiten in der Nähe von Rio eine Armensiedlung gestürmt. Bei der großangelegten Aktion sollen bis zu 1500 Militärpolizisten, unterstützt von Hubschraubern und gepanzerten Fahrzeugen, handstreichartig den aus 16 Favelas mit insgesamt fast 140.000 Bewohnern bestehenden Komplex Maré besetzt haben. Als Rechtfertigung für die Aktion dient - wie schon bei ähnlichen Einsätzen dieser Größenordnung - "Banden- und Drogenkriminalität". Der eigentliche Grund dürfte aber darin liegen, daß das Armenviertel in der Nähe des internationalen Flughafens liegt - ein für das Fußball-Event und den Transport der Fans neuralgischer Verkehrsknotenpunkt. Soldaten sollen die Kontrolle über das Stadtviertel übernehmen und bis nach Ende der Fußball-WM dort stationiert bleiben, heißt es in nahezu gleichlautenden Agenturmeldungen. Anschließend sollen 1.500 Beamte der sogenannten Befriedungspolizei (UPP) die Arbeit fortsetzen. Die armen Menschen in den besetzten Favelas sind letztlich ebensolche Störgrößen für den schönen Schein der Megaevents wie die über 100.000 Vertriebenen und Zwangsumgesiedelten, die sowohl aus Gründen der Privatisierung öffentlicher Räume als auch unter Zuhilfenahme des Sicherheitsarguments in die urbane Peripherie abgedrängt wurden.

In den hiesigen Berichten, die sich weitgehend auf brasilianische Mediendarstellungen beziehen, wird darauf verwiesen, daß seit Jahresbeginn Mitglieder der UPP "zunehmend ins Visier von Kriminellen" geraten seien. "Dabei wurden acht Polizisten getötet - vier in sogenannten befriedeten Distrikten." [2] Eher selten finden sich Hinweise darauf, daß Gewalt und Verbrechen auch von den Militärpolizisten, die viele als Erbe der Militärdiktatur in Brasilien kritisieren, ausgehen. Spiegel-Online schrieb immerhin: "Rios Polizisten genießen bei vielen Favela-Bewohnern einen schlechteren Ruf als die Verbrecher der Drogengangs: Sie gelten als Schläger und Mörder. Oft zu Recht, hatte selbst Sicherheitsminister José Mariano Beltrame im vergangenen Jahr eingeräumt." [3]

Auch das Verschwindenlassen von mißliebigen Personen wird von Favela-Bewohnern immer wieder beklagt. Der Soziologe Fábio Araújo von der Föderalen Universität von Rio de Janeiro kam bei einer Untersuchung auf 91.807 Fälle von Verschwundenen zwischen 1991 und Mai 2013. Meistens handelte es sich um Männer, die aus Favelas oder anderen Armenvierteln stammten. Der Internationale Pressedienst IPS zitiert Araújo mit den Worten: "Die Polizei verhält sich äußerst brutal, ebenso wie die paramilitärischen Milizen und die Drogenhändler. Mal bekämpfen sie sich, mal helfen sie sich gegenseitig bei der Beseitigung der Leichen." [4]

Bei den Massenprotesten im Sommer vergangenen Jahres anläßlich des Confed-Cups der FIFA waren Polizei- und Militäreinheiten zum Teil mit großer Brutalität gegen Demonstrierende vorgegangen. Auch Dutzende Journalistinnen und Journalisten bekamen die Polizeigewalt am eigenen Leib zu spüren. Zudem hatten rechtsnationale bis faschistische Schlägertrupps die Proteste genutzt, um sich an gewalttätigen Übergriffen auf Demonstranten zu beteiligen. Den reaktionären Kräften in dem Schwellenland geht es auch darum, die links-progressiven Elemente der zwischen Neoliberalismus und reformerischer Sozialdemokratie schwankenden Regierungspolitik zurückzudrängen. Dies stärkt wiederum die reichen und konservativen Eliten im Land, denen die Sozialprogramme der regierenden Arbeiterpartei (PT) ohnehin ein Dorn im Auge sind. Allerdings hat die PT von Anfang an mit dem Feuer gespielt, da sie zwecks Regierungsfähigkeit Bündnisse mit Parteien der bürgerlichen Mitte und konservativen Kräften geschlossen hatte, welche sich nun nach Rousseffs Ansehensverlusten und der wirtschaftlichen Wachstumsflaute Brasiliens wieder im Aufwind sehen.

Bei den Protesten im vergangenen Jahr, an denen Hunderttausende Menschen vor allem aus der Mittelschicht teilnahmen, ging es vor allem um mehr Teilhabe und Gerechtigkeit, um die Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen, der gesundheitlichen Grundversorgung und die Rücknahme der Preiserhöhung im öffentlichen Nahverkehr. Die Massenproteste richteten sich aber ebenso gegen die Zwangsumsiedlungen im Zuge der kommenden Megaevents sowie gegen Korruption und die Verschwendung von Steuermilliarden für die Spiele - kurzum gegen FIFA und IOC, welche sich wie privatwirtschaftliche Besatzungsmächte in Brasilien aufführen. Allerdings ist die Privilegierung der Spiele-Unternehmen nur durch die Komplizenschaft der Regierung möglich, die sowohl die Vergünstigungen und Sondergesetze als auch die verfassungsrechtlichen Ausnahme- und militärpolizeilichen Belagerungszustände im Land durchsetzt.

In Anbetracht der Unsummen, die die Arbeiterpartei um Dilma Rousseff in Überwachungs-, Aufklärungs- und Rüstungstechnologien investiert - allein in São Paulo soll sich die Zahl der Überwachungskameras von 50 auf 1500 verdreißigfacht haben - sowie der Militarisierung der inneren Sicherheit mehren sich die Stimmen, die Brasiliens "Metamorphose vom sozialen Vorzeigeland zum Polizeistaat" [5] beklagen. Es gehört zur Ironie der Geschichte, daß sich Rousseff mit starken Worten gegen die Ausspionierung Brasiliens durch den US-amerikanischen Nachrichtendienst NSA wendet, ihre eigenen Dienste aber eine weitreichende Ausspähung von sozialen Netzwerken und des Telekommunikationsverkehrs betreiben, um aufkeimende Proteste nicht nur von WM- oder Olympiagegnern, sondern auch von Umwelt- und Sozialverbänden, die sich z.B. gegen die widerrechtliche Einvernahme indigener Gebiete für Militärbasen, Staudämme, Bergbau und andere Industrieprojekte stark machen, zu neutralisieren. Wiederholt haben Umweltorganisationen Gesetzesinitiativen kritisiert, die darauf hinauslaufen, den indigenen Widerstand zu kriminalisieren oder gar unter Terrorverdacht zu stellen.

Sozial- oder Umweltproteste, bei denen es auch zu Ausschreitungen kommen kann, könnten während der Sportevents von eigens dafür ausgebildeten Sondereinheiten der Polizei massiv bekämpft werden. Bereits im Dezember 2013 hatte der brasilianische Verteidigungsminister Celso Amorim die gesetzliche Durchführungsbestimmung N° 3.461/MD über die "Gewährleistung von Gesetz und Ordnung" unterzeichnet. Diese bezieht sich explizit auf den Zeitraum vor oder während der (Sport-)Events. Proteste während der WM können damit als "terroristische Akte" eingestuft und mit 15 bis zu 30 Jahren Haft bestraft werden, berichtete das Internetportal amerika21. Weitere Verschärfungen der Anti-Terror-Gesetze sind im Gespräch. [6] Zudem werden Forderungen laut, "verdächtige" Personen bereits vor angekündigten Demonstrationen in Präventivhaft zu nehmen. Das betrifft auch Menschen, die nach ihrer Teilnahme an Demonstrationen 2013 Anzeigen wegen Sachbeschädigungen erhielten. [7]

Die Euphorie darüber, daß Brasilien die WM-Endrunde und Olympische Spiele ausrichten darf, ist längst verraucht, seitdem die Menschen immer deutlicher die sozialrepressiven Folgen der Veranstaltungen zu spüren bekommen. Während die FIFA-Bosse sich oder "den Fußball" als Opfer der sozialen Unruhen darzustellen versuchen und vor einer Politisierung der Spiele warnen, haben WM- und Olympiakritiker in Reaktion auf die mannigfaltigen Zwangsmaßnahmen zur Gewährleistung der Spiele ihr Motto bei Demonstrationen verändert. Der Slogan der Comitês Popular da Copa lautet nun nicht mehr "eine WM für alle", sondern "die WM wird es nicht geben". Das Anti-WM-Bündnis wird von sozialen Bewegungen, Bildungs- und Gesundheitsorganisationen sowie linken Parteien getragen. Zwei Tage vor der aktuellen Besetzung der Favelas im Komplex Maré demonstrierten etwa 2000 Menschen in São Paulo und Rio de Janeiro gegen die WM. Das waren weit weniger als bei den drei vorangegangenen Demonstrationen seit Anfang des Jahres. Eine Demonstrantin hatte eine plausible Erklärung dafür: "Nach dem Tod des Journalisten vor einigen Tagen und der Gewalt durch die Polizei haben die Menschen Angst, auf die Straßen zu kommen. Deshalb sind wir so wenige." [8]

Anfang Februar, bei einem Protestmarsch gegen Fahrpreiserhöhungen in Rio, war ein brasilianischer Kameramann von einem Feuerwerkskörper so schwer am Kopf getroffen worden, daß er an den Folgen verstarb. Vermutlich handelte es sich hierbei um einen Unfall, der allerdings von der Politik genutzt wurde, die Sicherheitsfrage und den lange geplanten Einsatz der Militärs im Innern zu popularisieren. Bereits bei der zweiten Demonstration des Anti-WM-Bündnisses am 22. Februar kesselte die Polizei rund eine Stunde nach Beginn den vorderen Teil des Protestzuges ein und nahm 262 Demonstranten vorübergehend fest, wie amerika21 meldete. Anwälte und Journalisten berichteten zudem von massiven Übergriffen und Behinderungen seitens der Polizisten. [7]

Die massiven Einschüchterungsmaßnahmen der Polizei in Verbindung mit der militärpolizeilichen Besetzung von WM-wichtigen Favelas sowie die rigorose Ausspähung sozialer Netzwerke und Bewegungen könnten das gewünschte Resultat hervorbringen: Die Welt freut sich über sichere Spiele in einer schwerrepressiven Demokratie.

Fußnoten:

[1] http://www.sueddeutsche.de/sport/sicherheit-bei-wm-brasilien-schickt-militaer-in-favelas-1.192128. 25.03.2014

[2] http://www.sueddeutsche.de/politik/vor-fussball-wm-in-brasilien-polizei-besetzt-favela-siedlung-in-rio-1.1925070. 30.03.2014.

[3] http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/fussball-wm-in-brasilien-polizei-kontrolliert-favelas-in-rio-a-961541.html. 30.03.2014.

[4] http://www.schattenblick.de/infopool/politik/fakten/pfmen262.html. IPS-Tagesdienst vom 27.08.2013.

[5] https://www.iz3w.org/zeitschrift/ausgaben/340_brasilien/alptraum. Januar/Februar 2014.

[6] http://amerika21.de/2014/02/97340/senat-demo-terrorismus. 17.02.2014.

[7] http://amerika21.de/2014/03/98708/proteste-gegen-fussball-wm. 21.03.2014.

[8] http://video.tagesspiegel.de/wm-erneute-demos-in-brasilien.html. 28.03.2014.

2. April 2014