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KOMMENTAR/194: Fortschritt, Fließband, Sportlabor (SB)


Sport und Medizin steigern ihre Leistungen



Leistungssport sei das größte biologische Experiment der Menschheitsgeschichte, wird Prof. Dr. Wildor Hollmann, ehemals langjähriger Präsident des Deutschen Sportärztebundes und des Weltverbandes für Sportmedizin, häufig zitiert. Der frühere Rektor der Deutschen Sporthochschule Köln (DSHS), der auch das Institut für Kreislaufforschung und Sportmedizin an der DSHS gegründet hat, galt auf dem weitläufigen Gebiet des Sports jahrzehntelang als eine der führenden Kapazitäten der experimentellen Forschung und angewandten Wissenschaft.

Abseits der Dopingdiskussion, die die Problematik von Körperschädigungen im Leistungssport wohl nicht zufällig auf die Einnahme unerlaubter pharmakologischer Mittel einengt, um damit grundsätzliche Fragen um die Beschaffenheit des elitären Leistungssports als Vorbildgeber für gesellschaftliche Arbeitsregime gar nicht erst aufkommen zu lassen, bleibt die Rolle all der Professionen, die mit der Nutzbarmachung und Optimierung des leistungssportlichen "Versuchskaninchens" befaßt sind, oft unbeleuchtet.

Das gilt natürlich auch für die Sportmedizin, die mit Hilfe von Prävention, Therapie und Rehabilitation zum Schraubendreher eines Leistungs- und Wettkampfsportes geworden ist, der aufgrund seiner inneren wie äußeren Verfaßtheit ständig nach Steigerung und Rekorden giert. Ähnlich wie Trainingswissenschaftler oder Sportpsychologen sorgen auch Sportärzte dafür, daß das "Sportlermaterial" so lange wie möglich seiner funktionalen Bestimmung im verschleißträchtigen Spitzensport gerecht wird. Kommt es zu Überlastungsschäden, Materialermüdungen, chronischen Verletzungen oder krankhaften Schmerzen, doktern in der Sportmedizin tätige Orthopäden, Unfallchirurgen, Internisten oder Allgemeinmediziner so lange am Sportprobanden herum, bis sämtliche Register der "ärztlichen Heilkunst" gezogen sind und der Athlet aufgrund irreparabler Funktionseinbußen seine Karriere beenden muß.

Die Bereitschaft der Athleten, ihren Körper zu Höchstleistungen zu treiben und gesundheitliche Schäden durch Überziehungen, Unfälle oder "normalen" Verschleiß in Kauf zu nehmen, korrespondiert mit ihrer Erwartungshaltung, daß sie der sportmedizinische Reparaturbetrieb schon irgendwie auffängt. Wäre ein Athlet mit der Versorgung und Behandlung seiner Blessuren und Verletzungen weitgehend auf sich allein gestellt, würde er sich wohl nur in seltenen Not- und Ausnahmefällen zu körperlichen Vabanquespielen und Extremleistungen hinreißen lassen. Es spricht Bände, daß ohne die medizinischen Abteilungen der Vereine und Verbände der Spiel- und Wettkampfbetrieb im Spitzenbereich sofort zusammenbrechen würde. Netzwerke wie z.B. der "Sportmedizinische Leistungsverbund" Leipzig sorgen dafür, daß die "Trainingseffekte" auf dem Olympiastützpunkt dank des Instituts für Angewandte Trainingswissenschaft im Hochleistungsbereich stetig verbessert, Leistungen gesteigert und Verletzungen oder Unfälle sofort in der ambulanten Reha-Klinik Medica oder im Universitätsklinikum Leipzig versorgt werden können.

In einer Studie für den Versicherungskonzern ARAG haben Wissenschaftler der Ruhr-Universität Bochum ermittelt, daß sich in Deutschland, wo Sport ein "gewichtiger Wirtschaftsfaktor" sei, pro Jahr etwa 665.000 Sportler im Verein so schwer verletzen, daß sie ärztlich versorgt werden müssen, bei den Nichtorganisierten sind es 585.000. [1] Vor einigen Wochen wiesen Kinderchirurgen darauf hin, daß Sport bei Kindern und Jugendlichen einer der Hauptgründe sei, einen Arzt aufzusuchen. "Bis zur Hälfte aller Schäden durch Sport sind Folge von zu viel und zu intensivem Training. Gerade in der Wachstumsphase kann Überlastung dauerhafte Folgen haben", warnte die Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie (DGKCH) [2], ohne allerdings auf den Zusammenhang aufmerksam zu machen, daß sich im Bereich des Leistungs- und Wettkampfsports, gedeckt durch eine leistungsfokussierte Ethik, Sportmediziner zu willfährigen Handlangern des Wo-gehobelt-wird-da-fallen-Späne-Gewerbes gemacht haben.

Von den rund 11.000 Sportmedizinern in Deutschland, die Sportunfälle therapieren, vor- oder nachsorgen, sind vergleichsweise wenige im Bereich des Hochleistungssports aktiv. Fachverbände wie die Deutsche Gesellschaft für Sportmedizin und Prävention (DGSP), der Deutsche Verband für Gesundheitssport und Sporttherapie (DVGS) oder die Deutsche Vereinigung für Sportwissenschaft (dvs) betonen zwar immer ihre Bedeutung für "Bewegung und Sport", für "Gesundheit und Lebensqualität" in der Gesellschaft, eine Abgrenzung zum besonders verschleißträchtigen Kinder- und Erwachsenen-Hochleistungssport oder zu seinen "biologischen Experimenten" vollziehen sie jedoch nicht. Das wäre unter den gegenwärtigen Verhältnissen auch schwer möglich, sind doch Breiten- und Leistungssport aufs engste miteinander verzahnt und die Übergänge fließend.

Ziel von Wettkampfmedizinern oder Vereinsärzten, die teilweise auf den Lohnlisten professioneller Sportclubs stehen, ist es, nach dem neuesten Stand der Wissenschaft die Leistungsfähigkeit eines Spielers so schnell wie möglich wiederherzustellen. Brachliegendes Spielermaterial, das zudem lange, teuer und aufwendig therapiert werden muß, bedeutet für die auf sportliche Erfolge und wirtschaftliche Rentabilität achtenden Fußballunternehmen Kostenfaktoren, die es zu vermeiden gilt. Die Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin gibt die durchschnittliche Verletzungsrate bei männlichen erwachsenen Fußballspielern mit 6 bis 10 pro 1000 Spielstunden an. Verletzungen treten bei Bundesligaspielen drei- bis zehnfach häufiger auf als im Training (Vergleich englische Liga: im Training 3,4, im Spiel 25,9 Verletzungen pro 1000 Spielstunden). Durchschnittlich verletzt sich ein Spieler pro Saison ca. zweimal. Zirka 10 - 20 % der Verletzungen führen zu einem Trainingsausfall von mehr als vier Wochen. [3]

Durch die gestiegenen Laufleistungen der Fußballprofis in den letzten Jahren sowie die Erhöhung der Anzahl der Sprints pro Spiel ist auch die Verletzungsanfälligkeit der Spieler gestiegen. Die modernen Tracking-Systeme der Bundesliga (IMPIRE), die seit 2011 Laufwege, Laufleistungen, Sprintstärken und Zweikampfverhalten der Profis haarklein analysieren, dürften den Leistungs- und Konkurrenzdruck auf die gläsernen Spieler, deren Daten noch effizienter miteinander verglichen werden können, weiter erhöht haben.

Mit ähnlich hohen oder noch höheren Verletzungsraten wartet auch der kampfbetonte und temporeiche Handballsport auf. "In 1.000 Handballspielstunden passieren etwa 23 ernste Verletzungen. Am häufigsten sind Sprung- und Kniegelenke betroffen. Während einer Handballbundesligaspielzeit entstehen so ca. 8 Kreuzbandrisse", erklärte Dr. med. Frank Gossé, Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie, Sportmedizin, Rheumatologie an der Orthopädischen Klinik Medizinische Hochschule Hannover. [4] Anläßlich der EM im vergangenen Jahr berichtete dpa von einer Studie der Ruhr-Universität Bochum, wonach in Europa jährlich rund 320.000 Verletzungen verschiedener Art durch Handball hervorgerufen werden, was sehr viel Geld koste: "'Die Gesamtkosten der medizinischen Behandlungen für handballbedingte Verletzungen werden auf bis zu 400 Millionen Euro geschätzt, die Hälfte davon wird für Knieverletzungen eingesetzt', heißt es in der Studie." [5]

Zeit ist Geld. Nationalmannschafts- oder Vereinsärzte wie Dr. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt (Bayern München) haben dazu beigetragen, daß die Zeitspannen bei der Sporttraumatabehandlung immer mehr verkürzt wurden. "Bei ihm sind Muskelzerrungen bereits nach drei bis fünf Tagen und unkomplizierte Faserrisse nach zwölf Tagen auskuriert. Normalerweise werden für einen Riss sechs Wochen veranschlagt", berichtete die Pharmazeutische Zeitung [6].

Zerstörung und Reparatur bedingen sich im Hochleistungssport. Die Anforderungen an die im Akkordtakt arbeitenden Profispieler spiegeln sich auch in den Apparaten und Therapiemaßnahmen der Sportmedizin wider: Leistungsverdichtung in der Arena wie im Lazarett. Die Regenerationszeit muß verkürzt, die Heilung beschleunigt, das Kosten-Nutzen-Verhältnis optimiert werden.

"90 Prozent aller Muskelverletzungen im Fußball betreffen die vier großen Muskelgruppen Hamstring, Adduktoren, Quadriceps, Gastrocnemicus", erklärte jüngst Professorin Dr. med. Andrea Klauser, Leitende Oberärztin der Universitätsklinik für Radiologie, Medizinische Universität Innsbruck. "Bei einem Team aus 25 Spielern bedeutet dies fünf Verletzungen pro Saison mit einer Ausfallzeit im Durchschnitt von 80 Tagen", so Klauser im Vorfeld eines Dreiländertreffens der Deutschen, Österreichischen, Schweizer und Europäischen Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin (DEGUM, ÖGUM, SGUM, EFSUMB) in Stuttgart (9. - 12. Oktober). Zusammen mit ihren Kollegen wirbt die Ärztin für mobile Ultraschallgeräte, die eine schnelle Diagnose schon im Stadion ermöglichen sollen. "Fällt ein Spieler plötzlich verletzt auf den Rasen, ist schnelles Handeln angesagt: Sportmediziner müssen vor Ort so rasch wie möglich feststellen, wo genau die Verletzung vorliegt und ob Bänder, Sehnen oder sogar Knochen betroffen sind", heißt es in einer Pressemitteilung. [7]

Die verbesserte Einschätzung des Schweregrades einer Verletzung mit Hilfe mobiler Ultraschallgeräte dient dazu, überflüssige Ausfallzeiten zu verhindern, damit die Spieler so schnell wie möglich wieder "hundert Prozent" geben können. Die Turbosportmedizin schafft die Voraussetzungen für den modernen Speedfußball und umgekehrt. Unentwegtes Leistungsstreben und kommerzieller Erfolg dynamisieren diese Entwicklung noch - nicht nur im Fußballgewerbe. Die Sportmedizin will ihre Leistungsfähigkeit mit tragbaren Ultraschallgeräten u.a. auch bei Radrennen oder Lauf-Wettkämpfen zur ersten Notfalldiagnostik unter Beweis stellen. Nach Angabe von Kongreßpräsident Prof. Dr. med. Andreas Schuler, Ärztlicher Direktor und Chefarzt der Medizinischen Klinik an der Helfenstein Klinik Geislingen, könnten "Sportler schon während des Rennens zügig untersucht und bei Bedarf vor Ort umgehend sporttherapeutisch behandelt werden, ohne dass der Sportler in eine Praxis oder Klinik transportiert werden muss". [7]

Wie sich doch sportliche Kaputtmachung, ärztliches Gesundheitsmanagement und wohlfeile Kostendämpfungsargumente die Hände reichen. Sport ist offenbar nicht nur Mord, wie der ehemalige Premierminister Winston Churchill befand, sondern der systematisch produzierte Wechselfall sportlichen und medizinischen Leistungsstrebens. Ein "biologisches Experiment", an dem auch die deutsche Sportmedizin, vergangenes Jahr ihr 100jähriges Jubiläum feiernd, maßgeblich beteiligt ist. Da die Illegalisierung bestimmter Formen des pharmakologischen Dopings eine indirekte Aufforderung darstellt, die erlaubten Technologien des sportmedizinischen Dopings in Form präventiver, therapeutischer oder rehabilitativer Maßnahmen voranzutreiben, um die Leistungsfähigkeit der Sportler zu erhalten, wiederherzustellen oder zu steigern, ist klar, wer die eigentlichen Förderer und Nutznießer des "sauberen" Spitzensports sind. Um diese Widersprüche zu verschleiern, bedarf es schon einer kapriziösen Standesethik durch die Sportärzte.

Fußnoten:

[1] http://www.budoten.org/wp-content/uploads/2010/09/arag-sportunfaelle.pdf. Stand 2000.

[2] http://www.dgkch.de/index.php/presse/243-pressekonferenz-september-2013-1. 12.09.2013.

[3] Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin, Jahrgang 64, Nr. 1 (2013), S. 18
https://www.uni-ulm.de/fileadmin/externe_websites/ext.dzsm/content/Archiv2013/Heft_1/20_%C3%9Cbersicht_Schmitt.pdf

[4] http://www.handball-world.com/o.red.c/news-1-1-1-46788.html. 02.04.2013.

[5] http://www.wn.de/Welt/Sport/Handball/2012/01/Handball-Verletzungen-im-Handball-Knie-sind-teuer. 17.01.2012.

[6] http://www.pharmazeutische-zeitung.de/index.php?id=23196. Ausgabe 39/2001.

[7] http://www.schattenblick.de/infopool/medizin/fachmed/mz1sp277.html. 08.10.2013.

21. Oktober 2013