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KOMMENTAR/146: Kinderhandel und Talentezucht - Hochleistungssport weitet Zugriff aus (SB)



Was sind Kinder und Jugendliche für den profitorientierten Hochleistungssport? Für die Trainer sind sie "Material", das für den beiderseitigen Erfolg hergerichtet werden muß. Für die Funktionäre sind sie "Nachwuchsressource für den Spitzen- und Profisport". Für die Manager "käufliche Ware". Für die Marketingexperten "Produkte und Zielgruppen". Für die Sponsoren "Reklameträger und Markenweißwäscher". Für die Sportwissenschaftler "Optimierungsmaschinen". Für die Sportärzte "Therapiekörper". Für die Politiker "nationale Aushängeschilder und Medaillenbringer". Für die Dopingkontrolleure "potentielle Betrüger". Für die Medien "Skandal- und Themenspender". Und für die Zuschauer "Animations- und Unterhaltungsobjekte". Die Verwertungskette und die pointierten Zuschreibungen könnte man endlos fortsetzen.

Die Entwicklung des Kinder- und Jugendhochleistungssports wird seit jeher mit einigem Argwohn betrachtet. Solange man noch auf die Kinder- und Jugendsportschulen (KJS) einprügeln konnte, den straff organisierten Talenteschmieden der DDR, schien die Welt des vermeintlich humaneren Westsports noch in Ordnung zu sein. Während der medaillenträchtige Spitzensport staatssozialistischer Prägung mit dem Mauerfall für erledigt erklärt wurde, lebt der marktwirtschaftlich organisierte Spitzensport des kapitalistischen Westens, der als politik- und ideologiefrei, bisweilen auch als "neutral" inszeniert wurde und wird, in den Herzen, Köpfen und Körpern der Kinder und Jugendlichen unvermindert fort. Mehr als 11.000 junge Talente fördert der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) derzeit in seinen 39 Eliteschulen des Sports, den Nachfolgeeinrichtungen der KJS, um international konkurrenzfähig zu bleiben.

Zugleich unterhält das "Fußball-Land" Deutschland zahlreiche Leistungs- und Jugendzentren, wo die minderjährigen Kicker unter der Ägide von Deutschem Fußballbund (DFB) und Deutscher Fußball-Liga (DFL) für eine Karriere im Profisport vorbereitet werden. Die aktuelle Diskussion um "Kinderhandel im Fußball" dokumentiert, daß nicht nur der olympischen Hochleistungssport, der erstmals Sommer- und Winterspiele für Minderjährige durchführte, alle Mühe hat, die häßlichen, mit der ökonomischen Ausbeutung des Sports untrennbar verknüpften Folgewirkungen der Talenteförderung zu verschleiern.

Menschenrechtler hatten bereits vor Jahren den "Kinderhandel" mit talentierten Minderjährigen vornehmlich aus Afrika oder Südamerika kritisiert, die in landeseigenen Talenteschmieden für den europäischen Fußballmarkt gezüchtet werden. Geködert mit "Ausbildungsvergütungen" oder Amateurverträgen sowie Versprechungen, der Armut zu entkommen, wurden junge Talente (und ihre Eltern) frühzeitig an die wie Wirtschaftsunternehmen geführten Fußballklubs gebunden - mit der vagen Aussicht, daß sie vielleicht einmal zu den wenigen Auserwählten gehören könnten, die es in den Eliteligen zu Ruhm und Reichtum bringen. Naturgemäß erreichten in der Pyramidenstruktur des Hochleistungssports nur die wenigsten die Spitze, viele landeten mittellos und ausgebrannt auf der Straße. Angesichts der unwürdigen Verhältnisse bekamen selbst die Fußball-Bosse Joseph Blatter (FIFA) und Michel Platini (UEFA) Gewissensbisse und prangerten die "Wiederkehr der Sklaverei" bzw. die "sportliche Zuhälterei" im internationalen Fußballgeschäft an. Neue Regeln wie ein "Transferabgleichungssystem" (TMS) wurden auf internationaler Ebene eingeführt, um die "Auswüchse" einzudämmen. Seit 2010 gilt generell ein Transferverbot für 12- bis 18jährige. Doch es gibt drei Ausnahmen: 1) Transfers sind zulässig, falls die Eltern eines minderjährigen Spielers aus Gründen, die nichts mit dem Fußball zu tun haben, in ein anderes Land umziehen. 2) In der EU gilt das Transferverbot nur bis 16 Jahre. 3) Transfers sind zulässig, wenn der neue Verein nicht weiter als 50 km von der Landesgrenze entfernt ist.

Viele Möglichkeiten also, das Transferverbot zu umgehen. Da die Unterzwölfjährigen nicht vom Reglement erfaßt werden, geraten zunehmend jüngere Kinder ins Visier der internationalen Talentescouts und -händler. So berichten Medien immer häufiger über Kleinkinderverträge. Im vergangenen Jahr sorgte die Vertragsunterzeichnung des erst siebenjährigen Argentiniers Leonel Angel Coira bei Real Madrid sowie des zehnjährigen Yokohama Kubo beim FC Barcelona für Aufsehen. Manchester United sicherte sich gar die Dienste des fünfjährigen "Wunderkinds" Charlie Jackson. Die internationalen Fußballfunktionäre spielen die Kleinkindertransfers als Ausnahmen herunter. Gleichzeitig erklären Vereinsmanager, daß die Verpflichtung von vielen Jungtalenten für sie rentabler sei, als später einzelne Superstars für hohe Millionenbeträge einkaufen zu müssen.

Auch in Deutschland beginnt sich im Kampf um die vielversprechendsten Fußballtalente ein Verjüngungstrend zu verstetigen. Die sogenannte Selbstbeschränkung der Profivereine in der Fußball-Bundesliga, die kürzlich mit dem siebten Umsatzrekord in Folge, Bestwerten bei der Zuschauerzahl und einer veritablen Steigerungsrate bei der Auslandsfernsehvermarktung renommierte, scheint sich unter dem wirtschaftlichen Druck immer mehr zu verflüchtigen. Die Transfers der erst 13 Jahre alten Nico Franke und Alexander Laukart nach Hoffenheim bzw. Wolfsburg waren von bundesweiten Diskussionen begleitet, die zwischen Empörung über den gegenseitigen Talenteklau der Vereine und das Herausreißen der Jungen aus ihrem gewohnten sozialen Umfeld sowie dem Vorwurf der Scheinheiligkeit schwankten. Normalerweise nehmen die Fußballinternate der Bundesliga Jugendliche erst ab 16 Jahren auf. Doch das scheint längst der Vergangenheit anzugehören. Der Sport-Informations-Dienst (13.01.12) zitierte den Bremer Klubchef Klaus Allofs mit den vielsagenden Worten: "Man muss aggressiv sein, sonst bekommt man keine Spieler." Auch andere Funktionsträger sprechen von "verschärften Konkurrenzbedingungen" im härter werdenden globalen Wettbewerb.

Die für das große Geschäft herangezüchteten Toptalente werden mit kleinen Geldbeträgen angefüttert, damit sie hungrig bleiben. Ab dem 15. Lebensjahr dürfen sie offiziell 250, ab dem 17. Lebensjahr 500 Euro Ausbildungshonorar pro Monat einstreichen. In privat organisierten Fußballinternaten wie dem Deutschen Fußball Internat (DFI) verhält es sich sogar anders herum: Die Sprößlinge reicher Eltern müssen bis zu 2000 Euro pro Monat mitbringen, damit sie in den Genuß einer umfangreichen Ausbildung und Betreuung kommen. In den Internaten von 1899 Hoffenheim und VfL Wolfsburg werden die Kinder pädagogisch und psychologisch betreut, heißt es. Fußballerische und schulische Ausbildung gingen Hand in Hand und seien zum Wohle der Heranwachsenden ausgerichtet. Niemand werde zum Bleiben gezwungen.

Unerwähnt blieb, was der Kinder- und Jugendhochleistungssport sonst noch alles mit dem "biologischen Material" anstellt, damit es auf der Konkurrenzleiter den Weg "nach oben" findet. Wer sich ein offenes Ohr für die Leiderfahrungen von Athleten bewahrt hat, die durch die Tretmühlen leistungssportlicher Körperzucht gegangen sind, dem dürfte kaum in den Sinn kommen, in die normativen Ethik-Debatten über "sinnvolle Talenteförderung im Hochleistungssport" einzustimmen oder gar versuchen, mit kriminalistischen Mitteln Topsportler der unerlaubten Leistungssteigerung zu überführen (siehe der vollkommen irregeleitete, an den realen Problemen von Leistungssport und -gesellschaft vorbeiführende Antidopingkampf). Auch unterhalb der Schwelle medial verstärkter Empörungsszenarien sprechen die Berichte von Ex-Spitzensportlern, so sie denn nicht aus identitätssichernden oder berufstaktischen Gründen ihre Karriere schönreden müssen, eine eindeutige Sprache: Kinder, aus denen im Elitesport etwas werden soll, haben in der Regel eine 60-Stunden-Woche zu bewältigen - 30 Stunden nahezu tägliches Training in der Woche plus 30 Stunden Schule. Darüber hinausgehende Freizeitaktivitäten liegen meist nicht drin. Wer nicht früh lernt, "positiv" zu denken, ständig Gewicht und Ernährung zu kontrollieren, Muskel- und Gelenkschmerzen wegzustecken oder mit Ermüdungsbrüchen, grippalen Infekten, Burn-out-Symptomen und anderen, oft chronisch werdenden "Bagatellverletzungen" sowie Tapeverbänden, Orthesen und pharmakologischen Schmerzdämpfern umzugehen, der hat im Hochleistungssport nichts verloren. Verstärkt durch den sozialen Druck von Trainern, Mannschaft, Verband, Sponsoren, Familie und Medien werden die Jugendlichen frühzeitig einem körperlichen und seelischen Aushaltungssystem überantwortet, dessen Zwangscharakter durch sublimierte Formen pädagogischer, ärztlicher und in letzter Zeit auch immer häufiger psychologischer Interventionen nicht etwa aufgehoben, sondern in seiner Eindringtiefe lediglich qualifiziert wird. Ganz zu schweigen vom menschenverachtenden Antidopingregime, das mit den zu Kontrollsklaven degenerierten Athleten mediale und sportgerichtsmedizinische Hetzjagten veranstaltet, die jeder Beschreibung spotten.

Die Durchleuchtung professioneller Mannschaftssportarten mit Hilfe von speziellen Kamerasystemen (Tracking), die bis aufs Haar die Laufwege und Verhaltensweisen der Akteure aufzeichnen und analysieren, werden den Druck im leistungssportlichen Bezichtigungsgefüge, das Schwäche straft und Stärke belohnt, noch weiter erhöhen. Den gläsernen Spielern, die nach knallharten sportwissenschaftlichen Effizienzkriterien beurteilt werden, sollen auch noch die letzten Räume genommen werden, in denen sie nicht hundertprozentigen Einsatz zeigen, auf Fußballdeutsch "lauffaul" sind oder sich "versteckt" halten. "Objektive Meßdaten", wissenschaftlich verabsolutiert, bieten Trainer, Managern und Funktionären ein erweitertes Instrumentarium, schwächelnde oder ineffektive Spieler auf "rein sachlicher" Ebene zu disziplinieren und gegeneinander auszuspielen. Der soziale oder subjektive Faktor, Grundlage vieler, auch aus dem Bauch heraus getroffener (Fehl-)Entscheidungen, soll zugunsten der ameisengleichen Funktionalisierung der Akteure aller Leistungsklassen möglichst weitreichend eliminiert werden.

Kommerzielle Medien- und Datendienstleister wie das bayerische Unternehmen Impire, das im Auftrag der DFL sämtliche Spiele der 1. und 2. Bundesliga in Zahlen zerlegt und sich im Wettbewerb mit anderen Anbietern wie Opta oder MasterCoach befindet, drängen auf den Markt und schaffen Angebot und Nachfrage. Bewegungswissenschaftler des Fraunhofer-Instituts für integrierte Schaltungen (IIS) tüfteln bereits daran, mit in Stadien installierter Funkortung die Analyse von Fußballspielen und Trainingseinheiten im Echtzeitmodus zu verbessern und die genaue Auswertung von Ballbesitzen, Torschüssen, Flanken, Pässen und Laufleistungen auch kleineren Vereinen oder anderen Sportarten zur Verfügung zu stellen. "Medienunternehmen können mit RedFIR ® Ballsportereignisse attraktiver gestalten und dadurch mehr Zuschauerinteresse wecken", lautet das marktschreierische Versprechen dazu. Das System RedFIR ® wird bereits im Nürnberger Frankenstadion getestet [1]. Das Institut für Bewegungswissenschaften und Sport an der Universität Flensburg wirbt mit einem sogenannten Meßplatz ("Motion Lab for talents"), der Trainern bei der Suche und Sichtung von Handballtalenten auf Landes- und Bundesebene wertvolle Dienste leisten soll, "indem es den Sichtungstrainern objektive Daten zu den taktischen Kompetenzen [der Spieler - Anm. d. Red.] zur Verfügung stellen kann". Der Messplatz ersetze das übliche Sichtungsverfahren nicht, es diene der Ergänzung, heißt es [2].

Die auch zu Medien- und Vermarktungszwecken genutzte Objektivierung des Spielgeschehens steuert absehbar auf die totale Verfügbarmachung des Sportlermaterials zu. Hier sind noch längst nicht alle "Potentiale", auch was die Erfassung, Zurichtung und Selektion von talentierten Kindern und Jugendlichen betrifft, ausgeschöpft, da die biometrischen Analysen und ihre großmaßstäblichen Anwendungen - auch bezogen auf die Zuschauer (siehe die Forderung nach Gesichtsscannern an Stadioneingängen und die profitable Zusammenarbeit von Forschung, Wissenschaft und Politik) - noch in den Anfängen stecken. Ganz sicher geht es dabei nicht an erster und einziger Stelle um das Wohl der Kinder und Jugendlichen, sondern um ihre dem technologischen Stand angepaßte industrielle Verwertung. Demgegenüber ist der subjektive oder soziale Faktor vorerst noch unverzichtbares Bindemittel, damit das System der Fremdverfügung nicht aus dem Leim geht.

Anmerkungen:

[1] http://www.iis.fraunhofer.de/bf/ln/referenzprojekt/redfir/

[2] http://www.uni-flensburg.de/portal/presse/?no_cache=1&tx_cwtpresscenter_pi1[showUid]=483&cHash=e3f0e27088

8. Februar 2012