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KOMMENTAR/139: Pyrotechnik-Streit - "Schalke-Boss" Clemens Tönnies stoppt höchstpersönlich die "Chaoten" (SB)



Es fällt leicht, Denunziation in "Unrechtsstaaten" oder "Diktaturen" zu verorten. Doch wie sieht es in "Rechtsstaaten" aus - haben die keine Denunzianten, zumal wenn sich die Leuteanschwärzer auf dem vermeintlich sicheren Boden von Recht und Ordnung bewegen? "Tönnies ruft zum Denunzieren von Pyro-Chaoten auf" titelte die Onlinezeitung DerWesten am 28. November, nachdem der Aufsichtsratschef des Fußballbundesligisten FC Schalke 04 die Fans dazu aufgerufen hatte, "Chaoten im Stadion zu melden", die beim Revierderby beim BVB Dortmund verbotene Pyrotechnik entzündet hatten [1]. Zwar änderte die Onlineredaktion wenige Stunden später ihre Schlagzeile in "Tönnies ruft zum Melden von Pyro-Chaoten auf" um, doch die Google-Suchmaschine spuckte weiter fleißig das häßliche Wort "Denunzieren" aus.

Am Geschehensablauf im ausverkauften Dortmunder Stadion änderte die Korrektur allerdings nichts. Das Internetportal bezog sich mit seinem Bericht ohnehin auf die Bild-Zeitung, wo der "Schalke-Boss" Clemens Tönnies nach seiner Demonstration von "Einsatz, Courage, Charakterstärke" zum Helden des Tages avancierte, weil er "höchstpersönlich die Chaoten zu stoppen" versucht habe. "Ich bin da hin und habe gerufen: 'Dieser Blödsinn muss sofort aufhören!' Mit meinem Handy habe ich Fotos von den Tätern gemacht, die sich schnell die Hände vor ihre Gesichter hielten. Dennoch werde ich die Bilder an unseren Sicherheitsdienst weiterleiten." Für diese Großtat zollten ihm nicht nur einige Liga-Chefs und -Manager, sondern auch Bild höchstes Lob: "Ein starker Auftritt! Solche Typen braucht die Liga." [2] Zudem soll der "steinreiche Fleisch-Fabrikant" (Bild) alle Fußball-Anhänger aufgefordert haben, sich entschlossener zu wehren. "Gegen diese Einzeltäter sollten sich die vielen vernünftigen Fans solidarisieren und sie mit Fotos enttarnen, damit wir eine Datei erstellen können. Diese Leute müssen raus aus den Stadien!" [3]

Wird nach der von Fanvertretern, Juristen und Datenschützern vielkritisierten "Gewalttäterdatei Sport" nun auch noch die "Pyrotäterdatei Sport" im Bundesinnenministerium eröffnet? Sollte es demnächst eine Telefon-Hotline oder eine Internetseite geben, wo Fan-IMs (anonymisiert) Pyrotäter melden, Handyfotos von Ertappten hochladen oder zur Enttarnung vermummter Einzeltäter zweckdienliche Hinweise beisteuern können? Wird der Blockwart im wahrsten Sinne des Wortes wieder hoffähig - als Ausdruck von "Zivilcourage" in den Zuschauerrängen?

Darauf steuert doch der Affront des Deutschen Fußballbundes (DFB) und der Deutschen Fußball Liga (DFL) zu, welche der Initiative "Pyrotechnik legalisieren - Emotionen respektieren" von mehr als 150 Ultra-Gruppen und über 50 Vereinen in Deutschland eine harsche Absage erteilt hatten. Am 14. November hatte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) Vereine, Verbände, Polizei und Behörden zum Runden Tisch nach Berlin geladen. Auf dem als "Gewaltgipfel" oder "Krisengipfel" bezeichneten Spitzentreffen, an dem auch ein Vertreter der vom DFB mitfinanzierten Koordinationsstelle Fanprojekte (KOS), aber kein Ultra-Vertreter teilnahm, wurde eine teilweise Legalisierung von bengalischen Feuern kategorisch abgelehnt.

Bereits im Vorfeld war vom DFB-Präsidenten Theo Zwanziger (CDU) die Gewalt- mit der Pyrotechnik-Debatte munter zusammengemixt worden. Pyrofackeln, die von vermummten Fans hochgehalten die Stadien in grellrotes Licht tauchen und die erhitzte Szenerie mit Rauchschwaden einnebeln, wecken offenbar nicht nur beim Betrachter dieser Bilder Gewaltassoziationen oder Schlachtfeldphantasien, sondern auch in den Köpfen so mancher Funktionäre. "Mit Hassgesängen fängt es an, geht weiter über den gefährlichen Pyro-Einsatz bis zu direkter Gewalt", sagte Zwanziger in der Bild-Zeitung (26.10.11) nach den heftigen Ausschreitungen beim Pokalspiel Dortmund gegen Dynamo Dresden, wo auch Bengalos und Böller geflogen waren. Keine drei Wochen später beim "Krisengipfel" in Berlin wurde dann die keineswegs zwingende Ursachenkette für Gewalt in Stadien noch enger gezogen. "Es fängt mit der verbalen Gewalt an", so Zwanziger. "Wer verbale Gewalt verniedlicht, hat die Grenzziehung zur körperlichen Gewalt sehr, sehr schnell relativiert. Verbale Gewalt gegen Personen können zivilisierte und kultivierte Fans nicht dulden." [4]

Wird es also demnächst auch eine "Verbaltäterdatei Sport" geben? Oder "zivilisierte Fans", die verbale Entgleisungen auf der Tribüne per Handy aufnehmen und Kraft- bzw. Gewaltausdrücke an die Sprach- und Benimmpolizei weitermelden?

Wie "zivilisiert" hat sich denn der DFB verhalten, als er Gespräche mit Faninitiativen, die die Erlaubnis für ein geordnetes und selbstreguliertes Abbrennen von bengalischen Feuern erreichen wollten, abrupt abbrach, nachdem der Verband zuvor sogar ein diesbezügliches Pilotprojekt mit angeschoben hatte? Im Frühjahr war die Faninitiative "Pyrotechnik legalisieren" mit dem DFB-Sicherheitsbeauftragten in Verhandlung getreten. Mehrmals gab es Treffen in Frankfurt, zusammen mit Brandschutzexperten wurde auch über Konzepte und Sicherungsmaßnahmen beraten. Zur Bedingung wurde gemacht, daß die teilnehmenden Ultragruppen drei Bundesliga- bzw. fünf Zweitligaspieltage auf Pyrotechnik verzichten. Doch die Auflagen konnten nicht vollständig erfüllt werden. "Im Zeitraum des Moratoriums sollen 21 Einsätze von Pyrotechnik, von denen neun Einsätze Unterstützern der Initiative zugerechnet werden, gezählt worden sein", berichtete Der Spiegel. Wo diese neun Fälle passiert sein sollen und ob es sich dabei tatsächlich um Vertreter der Initiative handelte - darauf darauf habe der DFB keine Antworten gegeben, schrieb Der Spiegel und stellte die berechtigte Frage: "Sind neun Fälle bei 1.247.804 Stadionbesuchern an den ersten drei Spieltagen wirklich von Gewicht?" [5]

In den Augen der besonders leidenschaftlichen Fangruppe der Ultras, die nach Aussagen namhafter Fanexperten nicht mit "Gewalttätern" oder "Hooligans" zu verwechseln sind, obwohl sie oftmals so behandelt werden, ist das Abbrennen von Pyrotechnik unverzichtbares Stilmittel und Bestandteil des "Supports", der Stimmung in die Stadien bringen soll. Nach Angaben des Fanforschers und Sportsoziologen Prof. Gunter A. Pilz werde Pyrotechnik in der Regel nur noch bei Auswärtsspielen gezündelt: "Das ist dann eine symbolische Eroberung des gegnerischen Stadions. Die Verteidigung des eigenen beziehungsweise die Eroberung von fremdem Territorium ist ein sehr wichtiger Aspekt der Ultrakultur." [6]

Die in Zusammenarbeit mit Juristen und Feuerwehrexperten auf die Beine gestellte Initiative "Pyrotechnik legalisieren, Emotionen respektieren" spricht sich klar gegen Böller oder fliegende Feuerwerkskörper aus. Lediglich in kontrollierten und geschützten Bereichen soll Pyro überhaupt gezündet werden, was schon ein enormes Zugeständnis der Ultras an die nicht gerade stimmungsfördernden Sicherheitsauflagen ist. Weil die Fans nicht mehr gezwungen wären, verbotene Bengalos im Verborgenen oder im dichten Gedränge zu entzünden, wären auch Gefährdungen unbeteiligter Personen nahezu ausgeschlossen.

Außerdem wollen die Fans aus dem Teufelskreis der Illegalisierung und Kriminalisierung herauskommen. Wie die "Arbeitsgemeinschaft Fananwälte", die das Teillegalisierungsprojekt begrüßt, auf ihrer Website darlegt, sei das Abbrennen von Pyrotechnik in Stadien sowohl nach dem Sprengstoffgesetz als auch nach den Stadionrichtlinien sowie der DFB-Sicherheitsrichtlinie verboten. "Der Einsatz von Pyrotechnik führt regelmäßig zu Strafen für die Vereine, aber auch zu strafrechtlichen Ermittlungsverfahren gegen die Beschuldigten." Erwischte Fans riskieren nicht nur Stadionverbot, sondern auch ein Bußgeld wegen einer Ordnungswidrigkeit im Sinne des Sprengstoffgesetzes. "Wenn durch die Verwendung von Pyrotechnik andere Personen verletzt werden, stellt dies eine gefährliche Körperverletzung dar", so die Fananwälte, die gleichwohl die "Tendenz einiger Staatsanwaltschaften, beim Abbrennen von Pyrotechnik im Fanblock grundsätzlich auch dann, wenn niemand verletzt wird, von einer versuchten gefährlichen Körperverletzung auszugehen", kritisieren. [7]

Um den Sanktionsmaßnahmen der früher tolerierten Pyrotechnik im Stadion ein Schnippchen zu schlagen, mußten sich die Schalke-Fans beim eingangs erwähnten Ruhrderby gegen Dortmund etwas einfallen lassen. In der 80. Minute entrollten sie über ihren Köpfen ein blau-weißes Banner. "Plötzlich kamen mit Mützen und Schals vermummte Fans unter dem Stoff hervor, sie kletterten auf den Zaun und ließen bengalische Feuer abbrennen. Schiedsrichter Florian Meyer unterbrach die Partie, bis die Feuerwerkskörper abgebrannt waren", berichtete fr-online. "Dann verschwanden die Pyrotechniker wieder unter dem Tuch und zogen sich um, damit sie später auf den Aufnahmen der Sicherheitskameras nicht identifizierbar sind. Jeder im Block schien zu wissen, was zu tun ist." [8]

Auch dieses Versteckspiel ist eine Folge des Pyroverbotes, das DFB und DFL zusammen mit Bild, Tönnies und anderen Fußball-"Bossen" nun repressiv gegen die als "Chaoten" oder "notorische Krawallmacher" beschimpften Ultrafans durchsetzen wollen - mit allen Gegenreaktionen und Eskalationsstufen, die konsequente, nicht selten überzogene Sicherheits- und Polizeieinsätze mit sich bringen. Mancher mag sich fragen, ob sich demnächst auch die ersten V-Leute unter die Fangruppen mischen werden, um die Pläne der schwer identifizierbaren "Pyrotechniker" auszuspionieren - vielleicht aber auch, um selbst Hand anzulegen oder die Fans zu größeren Missetaten anzustiften.

Die aktuelle Entwicklung war ebenso absehbar wie vorhergesagt. Anläßlich des "Gewaltgipfels" in Berlin hatten Fanvertreter sowie eine Vielzahl von Sport- und Sozialwissenschaftlern, u.a. Gunter Gebauer (Philosoph), Dieter Bott (Soziologe), Lorenz Peiffer (Historiker) und Detlev Claussen (Sozialpsychologe), in einem Offenen Brief die öffentliche Stigmatisierung der Ultras als "folk devils" kritisiert. Sie erinnerten dabei auch an die Worte des DFB-Beraters Prof. Gunter A. Pilz: "Hinter der vorschnellen Einstufung der Fans als Kriminelle, der öffentlichen Verurteilung und Aufbauschung von Gewalthandlungen jugendlicher Fußballfans scheint in der Tat Methode zu stecken: Es lässt sich somit vortrefflich von der eigenen, alltäglichen Gewalt im Sport wie in der Gesellschaft ablenken." Auch über das abschlägige Veto des DFB und der DFL bezüglich der Kampagne "Pyrotechnik legalisieren - Emotionen respektieren" zeigten sich die Unterzeichner verwundert: "Nach dem Verlauf der Gespräche ist nicht zu erwarten, dass die Fan- und Ultraszene nun auf Pyrotechnik verzichtet. Im Gegenteil: Es wird in Zukunft weiter gezündet werden. Besonders aktuell im frischen Frust." [9] Kaum anders Prof. Pilz, der im SZ-Interview erklärte, durch das Verbot habe Pyrotechnik "noch eine ganz andere Dimension bekommen, jetzt geht es um Demonstration von Macht" [6].

Fraglos sitzen Politik/Liga/Verband/Vereine und sich ihnen anheischig machende Medien am längeren Hebel, um mit polizeilichen, ausgrenzenden oder denunziatorischen Mitteln das Pyrotechnikverbot durchzusetzen. Die frustrierten Fans indes, die sich "von denen da oben" hintergangen und schickaniert fühlen, werden allen äußeren Spaltungsbestrebungen zum Trotz mit demonstrativen oder provokanten Aktionen weiterhin versuchen, ihr Stilmittel durchzusetzen. Fanvertreter befürchten nicht zu Unrecht, daß sich die in den letzten Jahren teilweise aufgeweichten Fronten zwischen Liga/Verband und Ultragruppen wieder verhärten, sich die Probleme verschärfen und es zu einer Radikalisierung von Teilen der Fanszene kommt, da sich ja nun am Beispiel Pyrotechnik gezeigt habe, daß Gespräche oder Bemühungen um verantwortungsvolle "Selbstregulierung", wie von den Funktionären so oft gefordert, nichts bringen.

In dem Offenen Brief anläßlich des Runden Tisches beim Innenminister erklären die Initiatoren, daß sich mit dem Auftauchen und der Verbreitung des Fanmodells "Ultra" eine "nach außen bemerkenswert vielfältige, selbstregulierende, self-empowernde, partizipatorische Fankultur" etabliert habe, "die weitestgehend aktiv anti-demokratische Tendenzen vorbeugt und sich für die Umsetzung von Menschen- und Bürgerrechten einsetzt". Beispiele dafür werden angeführt. [9]

Möglicherweise liegt hier der Hund begraben. Die heterogene Ultrabewegung, die sich in weiten Teilen auch gegen die Kommerzialisierung und Eventisierung des Sports wendet, rührt an Fragen gesellschaftlicher Teilhabe und der Politisierung, die ernsthaft zu stellen aus Gründen herrschaftlicher Bestandssicherung und Widerspruchsregulation gerade nicht erwünscht ist. Die übers Knie gebrochene Kausalkette von Theo Zwanziger, "mit Hassgesängen fängt es an, geht weiter über den gefährlichen Pyro-Einsatz bis zu direkter Gewalt", läßt sich auch anders deuten, nämlich als "Methode" der die gesellschaftliche Ordnung repräsentierenden Kräfte, die Repressionsspirale auf dem Nebenkriegsschauplatz Sport anzukurbeln, um mit unsinnigen Verboten, künstlich aufgebauschten Fanbambulen und populistischen Schreckensszenarien von den gesellschaftlichen Grundkonflikten abzulenken.

Anmerkungen:

[1] http://www.derwesten.de/sport/fussball/s04/toennies-ruft-zum-melden-von-pyro-chaoten-auf-id6113902.html

[2] http://www.bild.de/sport/fussball/clemens-toennies/bundesliga-braucht-typen-wie-den-schalke-boss-21264720.bild.html

[3] http://www.bild.de/sport/fussball/clemens-toennies/schalke-boss-zeigt-feuer-chaoten-an-21248586.bild.html

[4] Deutschlandfunk, Sport aktuell, 14.11.2011.

[5] http://www.spiegel.de/sport/fussball/0,1518,787591,00.html

[6] http://www.sueddeutsche.de/sport/sport-soziologe-pilz-ueber-fan-gewalt-man-muss-die-ultras-ernst-nehmen-1.1191711

[7] http://www.fananwaelte.de/Forderungen/Pyro/1,000000306304,8,1

[8] http://www.fr-online.de/sport/pyrotechnik-beim-ruhrderby-spirale-der-eskalation,1472784,11225732.html

[9] http://www.gerd-dembowski.de/wordpress/

5. Dezember 2011