Schattenblick →INFOPOOL →SPORT → MEINUNGEN

KOMMENTAR/090: German Dream - erst das Sommer-, dann das Migrationsmärchen (SB)



Dem "Sommermärchen" bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 in Deutschland folgte das während der Titelkämpfe in Südafrika erzählte "Migrantenmärchen" auf dem Fuße. Weil elf der 23 Mann im Kader von Bundestrainer Jogi Löw einen Migrationshintergrund haben, wird die "Multikulti"-Nationalelf allenthalben als "ein gelungenes Beispiel für Integration" (Thomas de Maizière, Innenminister) und "Ausdruck unseres Zusammenlebens und Zusammengehörigkeitsgefühls" (Maria Böhmer, Integrationsbeauftragte der Bundesregierung) gepriesen. "War die Entdeckung der Begeisterung für Schwarz-Rot-Gold 2006 schon eine Form von aufgeklärtem Patriotismus, so gilt dies 2010 umso mehr", halluziniert Volker Wagener im Deutschlandfunk (11.07.2010) und stilisiert den Fußball gar zum Vorbild, der "Politik und weiten Teilen der Gesellschaft" nun Nachhilfe darin gebe, was "gelungene Integration" leisten könne. Die Begeisterung über diesen neuen deutschen Fußball, so Wagener weiter, wirke sogar gesamtgesellschaftlich: "Wie ist es sonst zu erklären, dass sich Heerscharen von Fans mit Migrationshintergrund zu Schwarz-Rot-Gold bekennen und die deutsche Fahne buchstäblich handgreiflich gegen sogenannte linke Autonome verteidigten?"

Die Antwort darauf ist nicht so schwer, wie es die Meinungsmacher der Mehrheitsgesellschaft suggerieren wollen. Wenn Mitbürger mit migrantischem Hintergrund im Reigen um symbolpolitisch gestiftete Zusammengehörigkeitsgefühle "positiv" handgreiflich werden, dann beweisen diese über die reine Verteidigung des Eigentums hinausweisenden Vorfälle geradezu das aggressive Eskalationspotential des "positiven Patriotismus", der Inklusion nicht ohne Exklusion zu erwirtschaften vermag. Wer seine sozialen Umgangsformen an ein nationalstaatliches Symbol wie die Fahne knüpft und dies im Sport mehr oder weniger überschwenglich zur Schau stellt, der will Zugehörigkeit zu einer definierten nationalen Gruppe demonstrieren, die sich ostentativ gegen andere nationale Gruppen abzugrenzen sucht. Wer sich nicht einschließen läßt, nicht unter einer ihm gleichgültigen oder abgelehnten Fahne mitjubelt, mitleidet oder mittriumphiert, signalisiert eine mehr oder weniger entwickelte latente bis offene Renitenz, die abhängig von den gerade erwünschten Eskalationsstufen emotionaler, sozialer oder politischer Hegemonie entweder toleriert oder bekämpft wird. Im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Integrationsforderungen wird Fremden, Migranten, Asylanten oder Ausländern eben diese Renitenz, die auf soziale und kulturelle Eigenständigkeit beharrt, als fehlende Anpassungsleistung von der Mehrheitsgesellschaft zur Last gelegt. Entsprechend ist der soziale und politische Konformitätsdruck, der insbesondere auf Migranten oder Ausländern in Deutschland liegt, sehr hoch. Sie stehen meistenteils am untersten Rand der gesellschaftlichen Stufenleiter, verrichten oft die am schlechtesten bezahlten Arbeiten unter prekären Bedingungen, stehen überdurchschnittlich häufig unter Hartz-IV-Verwaltung und sehen sich nicht selten einer besonders "intensiven" Strafverfolgung durch die Behörden ausgesetzt. Mitunter werden sie auch durch Sozialrassisten vom oberen Rand der Gesellschaft als "integrationsunwillig", "dumm" oder zu viele "Kopftuchmädchen" in die Welt setzend diffamiert oder vom rechten Rand mit Baseballschlägern durch die Städte gehetzt.

In Anbetracht der realen sozialen Ausgrenzungs-, gesellschaftlichen Gewalt- und ökonomischen Ausbeutungsmechanismen, von denen keineswegs nur Migranten oder Ausländer, sondern alle gesellschaftlich deklassierten Gruppen im hohen Ausmaß betroffen sind, erscheint vielen das kulturindustrielle Angebot, Verbundenheit und Eintracht durch Sport zu demonstrieren und sich unter der schwarzrotgoldenen Fahne emotional zu verbrüdern, als höchst verlockend. Wo sie die gnadenlose Konkurrenzgesellschaft vorher zu "Überflüssigen" oder "Verlierern" gestempelt hat, können sich Ausländer und Migranten nun auf scheinbar selbstbestimmte Weise den zweifelhaften Rückhalt der jubelnden Mehrheitsbevölkerung verdienen, die im mindesten mit Unverständnis und im äußersten mit verbaler Wut oder Handgreiflichkeiten auf die "Verweigerer" und "Störer" des vermeintlich aufgeklärten (= vernünftigen) Nationalgefühls "reagiert".

Was die Nationalspieler betrifft, so sind sie erst dann vollständig integrierte und akzeptierte Deutsch-Türken, -Polen, -Ghanaer, -Nigerianer, -Spanier, -Bosnier, -Tunesier oder naturalisierte Brasilianer, wenn sie, wie es sich "Kaiser Franz" und Innenminister Thomas de Maizière wünschen, auch die deutsche Nationalhymne noch mehr mitsingen. "Aber das braucht vielleicht auch ein bißchen Zeit", so de Maizière Milde walten lassend. Auch Gül Keskinler, seit 2006 Integrationsbeauftragte des Deutschen Fußballbundes (DFB), zeigte zwar Verständnis für den Zwiespalt der Söhne aus Zuwandererfamilien oder mit einem Elternteil ausländischer Herkunft, die nicht die Hymne anstimmen, sagte der Stuttgarter Zeitung [1] aber auch: "Es muss selbstverständlich sein, dass die Spieler mitsingen, daran müssen wir als Gesellschaft arbeiten, nicht allein der Fußball."

Der Soziologieprofessor Holger Lengfeld vermochte im Deutschlandradio Kultur [2] gar eine Gesellschaft zu erkennen, in der der Fußball derzeit eine große Idee vorlebe, "die Idee der 'offenen Gesellschaft'. Im Prinzip ermöglicht die offene Gesellschaft Menschen (nicht nur) mit Migrationshintergrund, durch Leistung aufzusteigen, soziale Anerkennung zu erlangen und sogar berühmt zu werden".

In den Märchenerzählungen über die Aufstiegschancen von Migranten wird auf einmal wieder das Hohelied der Wettbewerbsgesellschaft gesungen, in der sich nur jeder tüchtig anstrengen muß, um erfolgreich zu sein. Als eine der wenigen Zeitungen im Sportmainstream, der voll des Lobes über die "gelungene Migrationsarbeit" des DFB ist (CDU-Politikerin Böhmer: "Es gibt keinen besseren Integrationsmotor als den Fußball."), muß man der Stuttgarter Zeitung zugute halten, daß sie wenigstens erwähnt, was Aufstieg und Integration im Fußball, die sich über Leistung definieren, bedeuten: "Es gibt kaum ein selektiveres System als den Leistungssport. Er ist gnadenlos, ein darwinistisches Konstrukt, das nur jene durchlässt, die den Willen, das Talent und die nötige Anpassungsfähigkeit mitbringen." [1]

Die alte Tellerwäscher-Mär vom sozialen Aufstieg unabhängig von Hautfarbe, Religion, Geschlecht oder Herkunft, wie sie als Archetype einen Teil des Nationalbewußtseins im Einwandererland USA ausmacht, erlebt derzeit in Deutschland, wo knapp 20 Millionen Menschen mit migrantischem Hintergrund leben, fröhliche Urständ. Zweifellos sind Vorzeigeprofis wie Özil, Gomez, Boateng und Co. von "Tellerwäschern zu Millionären" aufgestiegen. Doch was ist mit der Masse der Spieler, deren Begabung trotz größter Anstrengungen nicht reicht, die in den Auslesesieben des DFB hängenbleiben, die körperlich frühzeitig verschlissen oder austherapiert sind und die dem Erfolgs- und Leistungsdruck im Spitzensport nach dem Motto 'Vogel friß oder stirb' nicht mehr standhalten? Schon vergessen - Ende vergangenen Jahres, nachdem sich Nationaltorwart Robert Enke vor einen Zug geworfen hatte, wurde der Profifußball noch als "Theater der Grausamkeit" mit unmenschlichen Konkurrenzregeln beschrieben. Ein Sportphilosoph wie Prof. Gunter Gebauer, der damals den Spitzensport als System anprangerte, in dem Menschlichkeit eigentlich keinen Platz habe, wo Spieler zu Übermenschen aufgebaut, dann als Flasche verhöhnt und als Ware verhökert würden, vermag nun in Fußball spielenden Migrantenkindern eine neue Art von "Weltbürgertum" zu erkennen. Özil, Khedira und Boateng sind für ihn "intelligente, maßvolle, verantwortungsvolle Spieler", "die wunderbar in das Konzept des deutschen Spiels hineinpassen". "Sie sind Musterbeispiele dafür, dass man über Bildungsangebote, in diesem Fall über Fußballschulen, Migrantenkinder sehr gut schulen kann und dass sie dann zu den Besten unseres Landes gehören können." [3]

Klar, wenn man dem "American dream" vom Tellerwäscheraufstieg nachhängt, sich dem bürgerlichen Versprechen der Leistungskonkurrenz hingibt und auch ansonsten alles andere auszublenden bereit ist, was die weitreichende Fremdbestimmung der in den Sporteliteschulen zurechtgeschliffenen, zu Marktkonformität und Medienwohlverhalten herangezogenen Profis betrifft, kann man sich natürlich herrlich mit den migrantischen Vorzeigespielern, deren "Intelligenz" keineswegs in Abrede gestellt werden soll, identifizieren.

Zweifellos hat die Jugend- und Migrationsarbeit des DFB sportliche Erfolge vorzuweisen. "Das führt dazu, daß diese jungen Spieler Vertrauen gewinnen in unser Land, auch in die sportliche Führung und sportliche Leitung. Hier herrscht Gerechtigkeit. Das ist natürlich ein Signal auch in die Gesellschaft hinein - offen zu sein, tolerant zu sein und sich nicht an diesen Äußerlichkeiten zu orientieren, sondern an der Leistung und an dem Charakter eines Menschen", sprudelte DFB-Chef Theo Zwanziger nach dem 4:0-Auftaktsieg der Deutschen gegen Australien [4]. Indes, was sportliche Erfolge mit gesellschaftlicher Gerechtigkeit in "unserem Land" zu tun haben, dürfte sich nur einem Fußballpräsidenten erschließen, der die Signalverläufe der Hofberichterstattung mit den Krisenzeichen des kapitalistischen Leistungsregimes verwechselt, das bürgerliche Wohlfahrt verheißt, aber repressive Toleranz und autoritätshöriges Anpassungsverhalten meint.

Anmerkungen:

[1] www.stuttgarter-zeitung.de. Nationalspieler mit
Migrationshintergrund. Von Tobias Schall. 11.06.2010.

[2] www.dradio.de. Aufstieg durch Leistung, Integration durch Leistung. Von Holger Lengfeld. 02.07.2010.

[3] www.dradio.de. Der Philosoph Gunter Gebauer über die Entttäuschung nach dem deutschen WM-Aus. 08.07.2010.

[4] Deutschlandfunk, Sport aktuell, 14.6.2010.

19. Juli 2010