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KOMMENTAR/062: Pechstein-Fall - gerät das Verurteilungskartell des sauberen Sports noch ins Wanken? (SB)



Gerät das öffentliche Meinungs- und Verurteilungskartell im Fall der deutschen Eisschnelläuferin Claudia Pechstein ins Wanken? Eine sich im Geiste einige Allianz aus Sportfunktionären, Politikern, Juristen, Medizinern, Wissenschaftlern und Medienleuten, die den Weg für den indirekten Dopingnachweis und von der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) dekretierten "biologischen Paß" für alle Spitzenathleten ebnen wollen, hatte sich mit Erfolg über alle Zweifel und Bedenken hinweggesetzt und das Indizienurteil gegen die fünfmalige Olympiasiegerin als Meilenstein der Dopingbekämpfung gepriesen. Der Vorwurf der Anti-Doping-Liga, das Pechstein-Lager habe mit seiner ständigen Präsenz in der Öffentlichkeit, "der Verwirrungs- und Desinformationstaktik" (FAZ, Evi Simeoni) und "PR-Show" (DLF, Weinreich), so manchen Fan, aber nicht das CAS-Gericht beeinflussen können, fällt unterdessen immer mehr auf seine Urheber zurück. Nicht die Pechstein-Seite hat ganz offensichtlich betrogen, sondern die Doping-Inquisition und ihre Helfershelfer.

Die "Verwirrungs- und Desinformationstaktik" hat allerdings schon viel früher stattgefunden, denn tatsächlich stellt der Doping-Begriff bereits ein genuines Täuschungsmanöver dar - nicht nur weil mit ihm ein legalistisches Konstrukt nach Maßgabewillkür seiner Erschaffer absolut gesetzt wird, sondern weil er die Gewalt, mit der er durchgesetzt wird, verschleiern muß, um die zur Legitimierung nötigen Fairneß-, Gleichheits- und Schutzversprechen des organisierten Sports nicht mit dem Blut seiner Opfer zu besudeln.

Insofern reflektiert das Skandalurteil ein gesellschaftliches Gewaltverhältnis, das nicht nur in der angepaßten Wahrnehmung und Sprachregelung der Urteilsbefürworter sowie in der sich parallel qualifizierenden Verfügungsgewalt (siehe die neue, "Hintermänner" augurierende Bezichtigungsschiene des DOSB bzw. der NADA, die Anzeige gegen Unbekannt und die sechs Tage nach dem Pechstein-Urteil erfolgte Verabschiedung neuer WADA-Guidelines zum indirekten "Beweis") zum Ausdruck kommt, sondern auch in der Marginalisierung und Unterdrückung unliebsamer Wissenschaft, die sich noch nicht mit dem Verdachts- und Schuldschöpfungssystem des sportmedizinischen und -forensischen Komplexes unter der Fuchtel der WADA handgemein gemacht hat.

Ungeachtet dessen, daß in der Doping-Debatte der politische Charakter des Antidopingkampfes in der Regel ausgeblendet wird und sich der Streit der Experten statt dessen an der naturwissenschaftlich-technischen Methodenfrage entzündet, was impliziert, es könnte einen "gerechten" oder wissenschaftlich "objektiven" Antidopingkampf geben, weist bereits der öffentliche Diskurs so viele Widersprüche und Fragwürdigkeiten auf, daß man sich nur wundern kann, wie wenig Bereitschaft in der Fachwelt vorhanden ist, sich den offiziell verordneten Doping-Wahrheiten zu widersetzen.

So wurde etwa die profunde Kritik des niederländischen Bio-Statistikers Klaas Faber am CAS-Urteil von denselben Großmedien in Deutschland, die Claudia Pechstein frühzeitig aufs Rad geflochten hatten, nahezu vollständig ignoriert, da sie zu viel Sand ins WADA-akkreditierte Verurteilungsgetriebe streut. Der international anerkannte Chemometriker hatte sich weder von der Süffisanz, mit der die drei CAS-Schiedsrichter an mehreren Stellen ihre 69seitige Urteilsbegründung zum Gaudium vieler Journalisten würzten, noch von Hofjuristen wie NADA-Vorstand Martin Nolte, der dem "Spiegel" gegenüber erklärte, "die Urteilsbegründung ist wasserdicht, kein staatliches Gericht hätte es vermutlich besser gemacht", beeindrucken lassen.

Nachdem sein Gutachten für die Pechstein-Seite wie auch das der Anti-Doping-Forscher Rasmus Damsgaard und Walter Schmidt angeblich aus Termingründen vom CAS nicht zugelassen wurde, erhob Klaas Faber schwere Vorwürfe gegen den Internationalen Sportgerichtshof und forderte darüber hinaus den wissenschaftlichen WADA-Direktor Olivier Rabin zu einer öffentlichen Stellungnahme auf, warum Pechstein auf Grundlage der seiner Meinung nach mangelhaften Statistik verurteilt werden konnte. "Was in dem Urteil gemacht wurde, ist eine glatte Fälschung, das grenzt an bewussten Betrug", erklärte Faber am 4. Dezember gegenüber dpa.

In einem ausführlichen Interview mit der holländischen Zeitung "NRC Handelsblad" (5.12.09) sagte Faber, daß im Fall Pechstein nicht sorgfältig genug gearbeitet wurde. Bei Pechsteins Untersuchungen betrug die Sicherheitsquote nicht wie in den neuen WADA-Guidelines 99,99 Prozent, sondern nur 95 Prozent. Das sei viel zu gering, vor allem deshalb, weil sie indirekt erhoben und berechnet wurde. Bei besseren, intensiveren Berechnungen wäre Pechstein nie angeklagt worden.

Nachdem reihenweise Fehler, Dokumentationslücken und Ungereimtheiten aufgetaucht waren, hatte die Internationale Eisschnelllauf-Union (ISU) den ursprünglich fast ein Jahrzehnt umfassenden Anklagezeitraum (2000 bis Februar 2009) schrittweise immer mehr reduziert, so daß vor der Berufungsverhandlung beim CAS nur noch ein Zeitraum von 16 Monaten (Oktober 2007 bis Februar 2009), der vier Wettkämpfe mit erhöhten Retikulozytenwerten in Pechsteins Blut umfaßt, übrigblieb. Weil die ISU selbst für diese Spanne keine vollständigen Meß- und Kalibrierungsprotokolle vorlegen konnte, stützten die CAS-Schiedsrichter ihr Urteil am Ende lediglich auf die Werte eines einzigen Wettkampfes (Mehrkampf-WM, Anfang Februar 2009 in Hamar).

Dem Schattenblick gegenüber erklärte Klaas Faber, daß es "keiner medizinischen Erklärung für die 'abnormalen' Werte in Hamar bedarf, ganz einfach deshalb, weil man es durch das erklären kann, was man Zufall nennt". Darüber hinaus bezeichnete Faber, der selbst zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten zum Thema Werte-Profile und ihre Schwankungsbreiten verfaßt hat, den Entwickler des biologischen Passes, auf den sich die Pechstein anklagende ISU bezieht, als "selbsternannten Statistiker" einer "Hinterzimmer-Wissenschaft".

Gemeint ist der Schweizer Professor Pierre-Edouard Sottas, Leiter des WADA-Labors in Lausanne und neben dem italienischen Wissenschaftler Giuseppe Banfi einer der beiden Hauptgutachter, auf dessen Expertise hin die ISU Pechstein anklagte. Sottas, der auch mitgeholfen hat, den Blutpaß des Weltradsportverbandes UCI zu entwickeln (laut "Spiegel" sagte er, der indirekte Dopingtest sei "30-mal effizienter als alle bisherigen, direkten Nachweisverfahren"), war merkwürdigerweise nicht zur Berufungsverhandlung vor dem CAS erschienen, obwohl er ganz in der Nähe wohnt. Schon bei der Anhörung (22./23. Oktober) glänzte er durch Abwesenheit. Wie von seiten der Pechstein-Verteidigung zu hören war, soll der Sachverständige, der zu den glühendsten Verfechtern des "biologischen Passes" für alle Spitzenathleten zählt, nicht mehr zu seinem eigenen Gutachten stehen. Deshalb sei er auch vom Verhandlungstermin durch die ISU ausgeladen worden, um mit seiner neuen Meinung die Anklage nicht zu gefährden.

All das wurde vom CAS nicht berücksichtigt! Jetzt versteht man auch, warum die CAS-Richter lieber ein medizinisches Diagnostik-Lehrbuch mit Füßen traten. "Sie erklärten ironisch spitz, dass die Autoren schon im 19. Jahrhundert geboren worden seien. Das ist zwar richtig, aber daß medizinische Werke stets wissenschaftlich aktualisiert werden, ist ihnen wohl verborgen geblieben", erklärte der Blutexperte Prof. Dr. Wolfgang Jelkmann gegenüber den "Lübecker Nachrichten" (9.12.09). Der Direktor des Instituts für Physiologie der Uni zu Lübeck war als Gutachter bei der Verhandlung am 22./23. Oktober in Lausanne dabei. Wie die LN berichteten, habe er nach der Urteilsverkündung allen Glauben an die Gerechtigkeit verloren. "Frau Pechstein hätte freigesprochen werden müssen." Denn die sorgfältige Analyse der Blutwerte der vergangenen zehn Jahre zeigte keine wissenschaftlichen Hinweise auf Blutdoping. "Im Gegenteil", sagte Jelkmann, "viele Messwerte widersprechen eindeutig einem Blutdoping". Auch andere Experten, wie Prof. Walter Schmidt (Bayreuth), Prof. Wilhelm Schänzer (Köln) und Dr. Klaus Pöttgen (Darmstadt) hegten Zweifel am CAS-Urteil. Laut Jelkmann, der für das Bundesinstitut für Sportwissenschaft und die WADA Forschungsanträge begutachtet, erinnerte das Urteil "an die Hexenverfolgung im Mittelalter". Pechstein sei "das Bauernopfer, damit das gerade errichtete Gebäude des indirekten Dopingnachweises nicht erschüttert wird".

Während immer mehr Mediziner die Interpretation des Blutprofils zu Lasten von Pechstein sowie das Bezichtigungskonstrukt der ISU, das im Grunde auf die Unterstellung hinausläuft, die Athletin habe zur Verschleierung des vermeintlichen EPO-Blutdopings und zur Manipulation anderer nicht ins Bild passender (normaler) Blutwerte über zehn Jahre lang ständig exzessiv Wasser getrunken, und zwar auch vor unangemeldeten Kontrollen (!), zu hinterfragen beginnen, kritisierte der Chemometriker Klaas Faber vor allem die Statistiken, die "auf Treibsand" gebaut seien. Neben Sottas bezieht sich Faber dabei auch auf den italienische Wissenschaftler Giuseppe Banfi, auf dessen Methode die CAS-Schiedsrichter in der Urteilsbegründung ausdrücklich verweisen. Demnach hält Banfi in seinem Artikel "Reticulocytes in Sports Medicine" eine Sicherheitsquote von 95 Prozent für ausreichend. Laut Banfi-Berechnung wies Pechsteins Blut bei der WM 2009 in Hamar einen um 1,1 Prozent über der festgelegten Norm liegenden Wert auf. Wäre jedoch eine andere Quote zugrundegelegt worden, wäre Claudia Pechstein nie gesperrt worden, erläuterte Faber. Gegenüber dpa verdeutlichte der Fachmann seine Vorwürfe mit folgenden Zahlen: "Wenn jährlich weltweit rund 200.000 Doping-Proben genommen werden, würde eine 95-prozentige Zuverlässigkeit bedeuten, dass 10.000 Athleten-Proben verdächtig auf Doping wären."

Mit andern Worten: Die statistische Methode produziert aus sich heraus Verdächtige und Schuldige! Je niedriger die Sicherheitsquote, desto mehr zufällig "Abnormale" und somit straffällige Dopingsünder!

In Anbetracht der politischen, institutionellen und medialen Gewalt, mit der die Verurteilung von Claudia Pechstein durchgepaukt wurde, ist allerdings nicht auszuschließen, daß selbst die wachsende Zahl von "unabhängigen" Experten, die sich nach dem Schiedsspruch des Internationalen Sportgerichtshofs kritisch zu Wort melden, nicht ausreicht, um das global operierende Meinungs- und Verurteilungskartell der WADA zu Fall zu bringen. Da der Doping-Legalismus einen sozialen Entfremdungsprozessor sondergleichen darstellt, erfährt Claudia Pechstein auch von namhaften Sportlern und Sportlerinnen keine nennenswerte Solidarität. Selbst wenn das Schweizer Bundesgericht das CAS-Urteil gegen Pechstein aufheben oder an den Sportgerichtshof zurückverweisen sollte, heißt das keinesfalls, daß der indirekte Dopingnachweis endgültig Schiffbruch erlitten hätte. Die vielen systemimmanenten Kritiken lassen vielmehr befürchten, daß der Versuchsballon Claudia Pechstein lediglich dazu diente, die wissenschaftlichen und juristischen Fronten zu klären, damit die dopingpolitische Hexenjagd auf Athleten, nunmehr vereint mit den besänftigten Kritikern, um zu reibungsloser - d.h. von verheerender Unangreifbarkeit - fortgesetzt werden kann.

28. Dezember 2009