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FRAGEN/032: Afghanistan hat den Frauenfußball angenommen (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 28-29 / 7. Juli 2008
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

Afghanistan hat den Frauenfussball angenommen

Ein Gespräch mit Fussball-Pionieren des DOSB und des DFB um Holger Obermann


(DOSB PRESSE) Das Gastspiel der afghanischen Frauen-Nationalmannschaft auf Einladung der deutschen Bundesregierung, des DOSB und des DFB im Raum Stuttgart ist noch in bester Erinnerung. Wer sich mit der politischen und gesellschaftlichen Entwicklung dieser durch russische Invasion, den Bürgerkrieg und dem Taliban-Regime gedemütigten Menschen nur ein klein wenig auskennt, weiss um die Brisanz, die mit der Gründung ausgerechnet des Frauenfussballs durch das im Jahr 2003 nach Afghanistan entsandte deutsche DOSB/DFB-Trainerteam verbunden ist. Jahrzehntelang wurden Mädchen und Frauen im Land am Hindukusch in einer Art gedemütigt, die fast ohne Beispiel ist. Und noch heute sind die Vorurteile dem weiblichen Geschlecht gegenüber nicht abgeebbt. Umso mutiger muss die Initiative des deutschen Trainerteams mit Holger Obermann, Ali Askar Lali und später Klaus Stärk angesehen werden, die mit der Gründung des Frauenfussballs die Tür für das weibliche Geschlecht zur Rückkehr in die Gesellschaft um einen kleinen Spalt aufgestossen haben.

Was die 18 Mädchen bei ihrem Aufenthalt in Deutschland den zahlreich erschienenen Reportern erzählten, war inhaltlich von grosser Zurückhaltung geprägt. Zu sehr spielte bei vielen Fragen die Angst mit, dass mögliche Kritik, zum Beispiel am Vorgehen der Taliban in der Vergangenheit und mit Tendenz der Rückkehr, nach Kabul dringen würde. "Wir können nicht alles sagen, was uns bewegt, wir haben Angst, dass unsere Familien zuhause dadurch gefährdet werden!" argumentierten sie. Wie alles begann und mit welchen Problemen die nach Afghanistan entsandten Experten konfrontiert wurden, dokumentiert das folgende Interview mit Holger Obermann und seinen Kollegen.

DOSB PRESSE: Der Katalog der Aufgaben für das Entwicklungsprojekt des DOSB und des DFB für die Arbeit in Afghanistan war facettenreich und beinhaltete den Aufbau des Fussballs als wichtige soziale Aufgabe, die alles, vom Strassenfussball bis hin zur Rückkehr der Nationalmannschaft in den internationalen Spielverkehr, beinhaltete. Woher nahmen Sie den Mut, sich ausgerechnet an den Mädchen- und Frauenfussball heranzuwagen und ihn in das Aufbauprogramm zu integrieren?

Uns kam ein Zufall zu Hilfe. Es war im Juli 2003, als der Deutsche Botschafter in Kabul einen Empfang gab, an dem auch die Präsidentin des Frauen-Ministeriums teilnahm. Nachdem wir bereits den Schulfussball der Jungen organisiert und damit regen Zuspruch gefunden hatten, fragte sie uns: "Sagen Sie mal, können Sie nicht auch etwas für unsere Mädchen tun, nachdem die Jungen an den Schulen dank Ihrer Initiative mit so grosser Begeisterung Fussball spielen?" Das war eine echte Herausforderung. Und so begannen wir schon Tage später an den Schulen nachzufragen, ob Interesse besteht. Von den meisten kam eine Absage mit dem Hinweis auf die Unmöglichkeit einer solchen Massnahme, vor allem im Hinblick auf die damit verbundenen Gefahren. Und Lehrerinnen, die Interesse am Fussball als Teil des Sportunterrichtes hatten, wurden verwarnt. Als einige dennoch ihren Wunsch durchsetzten und in den Pausen Fussball spielen liessen, wurden sie fristlos entlassen.

DOSB PRESSE: Woher nahmen Sie Ausrüstungen wie Trainingsanzüge, Bälle und Schuhe zu eínem Zeitpunkt, da das Land noch in Schutt und Asche lag und es wichtigere Dinge gab als sich ein paar Fussballschuhe "Made in Pakistan" zu kaufen?

Damit hatten wir die geringsten Probleme, denn der Etat erlaubte es, Gelder für den Frauenfussball zur Verfügung zu stellen, ausserdem war die FIFA sehr daran interessiert, dass der Frauenfussball als wichtiger Beitrag der Integration Beachtung fand, nicht nur im Land selbst, sondern weltweit. Die FIFA schickte einen Scheck, der einen grösseren Betrag ausmachte, um auch alle Nebenkosten wie Platzmiete oder Transport begleichen zu können. Als wir nach sechs Monaten Bilanz zogen, stand fest: das Experiment war gelungen. Was uns am meisten freute: an einigen Schulen wurde der anfänglich zu spürende Widerstand geringer, und viele neue Schülerinnen kamen hinzu. Natürlich mussten wir nach wie vor die schriftliche Erlaubnis der Eltern einholen. Aber das war kein Problem.

DOSB PRESSE: Das hört sich so an, als hätte es kaum Hindernisse gegeben, war dem wirklich so?

Natürlich gab es Hindernisse. Viele Familien liessen es nicht zu, dass ihre Töchter Fussball spielen. Sie hatten einfach Angst um das Leben ihrer Mädchen, dachten zurück an die Schreckensherrschaft des Taliban-Regimes und waren im übrigen erstaunt darüber, dass sich ein ausländisches Projekt für ihre Mädchen einsetzte.

DOSB PRESSE: Wie gelang es, den Frauenfußball organisatorisch in den Griff zu bekommen?

Nachdem wir inzwischen an die 200 Mädchen im Grossraum Kabul animiert und zum Fussballspielen angeregt hatten, galt es, sich der Organisation von Wettkämpfen zu widmen. Das war viel schwieriger, als wir anfangs gedacht hatten, denn die Mädchen durften ja nach wie vor nicht in der Öffentlichkeit spielen. So standen uns nur drei Sporthallen zur Verfügung, zu wenig, um der vielen Mädchen und jungen Frauen gerecht zu werden. Nach wie vor wurden die Hallen bewacht, damit die männlichen Zuschauer nicht an den Aktivitäten der Mädchen und Frauen teilnehmen konnten. Im Jahr 2005 wurde - wie zuvor bei den Jungen - die erste Schulmeisterschaft organisiert. Diesmal waren aber bereits die Offiziellen des Fussballververbandes - und erstaunlicherweise einige Fotografen eingeladen worden, ein grosser Fortschritt. Denn nun wurde unser Experiment bekannt, und weitere Neuanmeldungen gingen ein.

DOSB PRESSE: Wie sah das Ausbildungsprogramm aus, wurden Frauen ausfindig gemacht, die daran interessiert waren, als Trainerinnen zu arbeiten?

Hier erwarb sich der später zu uns gestossene Kollege Klaus Stärk Lorbeeren, denn er übernahm diese Aufgabe zweimal im Jahr für jeweils einige Monate. Ich war zu diesem Zeitpunkt bereits in anderen Ländern aktiv - u.a. in Kaschmir nach dem schweren Erdbeben mit 100.000 Toten und Sri Lanka nach der Tsnami-Sturmflut - so dass die Hauptlast auf den Schultern von ihm und Ali Askar Lali lag.

DOSB PRESSE: Wie kam es zum Besuch der weltbesten Fußballerin Birgit Prinz in Kabul?

Grossen Anteil hatten daran der DFB, die FIFA und das "Learn and Play-Programm" der Afghanistan Hilfe Paderborn, in deren Schulen der Sport (auch der Mädchenfussball) eine grosse Rolle spielt. Im Sommer 2006 kamen wir, der DOSB, der DFB und die FIFA, auf die Idee, Birgit Prinz nach Kabul einzuladen, um an einer der drei Schulen von "Learn and Play" Werbung für den Mädchen- und Frauenfussball zu machen. Welch ein Erfolg wurde das! Birgit spielte mit den ca. 100 Mädchen drei Tage lang, hielt Vorträge, führte Einzelgespräche. Ihr Poster hängt heute in allen Klassenräumen, und das eine oder andere sicher zuhause bei den begeisterten Mädchen. Birgit gab dem Frauenfussball in Afghanistan neue Impulse, und wir waren glücklich, denn der Anfang lag gerade mal drei Jahre zurück.

DOSB PRESSE: Gab es zu Beginn Ressentiments in der Öffentlichkeit, als immer mehr bekannt wurde, das viele Mädchen inzwischen Fußball spielen?

In den ersten eineinhalb Jahren war Widerstand zu spüren, doch er war geringer, als wir alle gedacht hatten. Dabei hatten wir das Glück, in den Medien Partner zu finden, die uns unterstützten und für den Mädchenfussball warben. Das war ein entscheidender Schritt nach vorn. Auch das Ministerium stand nach wie vor hinter dem Projekt. Als es gelang, die Mädchen im Olympic-Stadion, in dem während des Taliban-Regimes noch Hinrichtungen stattfanden, trainieren und spielen zu lassen - also erstmals mit Männern als Zuschauer - war ein weiteres Hindernis auf dem Gebiet der Popularisierung dieser Sportart getan. Natürlich gibt es nach wie vor Aversionen, die Sicherheitskräfte überwachen die Spiele der Mädchen und Frauen, doch zu Zwischenfällen ist es bisher nicht gekommen, obwohl die Sicherheitslage in Afghanistan von Monat zu Monat prekärer wird und ein Anschlag auf das "Projekt Mädchenfussball" fatale Folgen hätte.

DOSB PRESSE: Welche Erfolgserlebnisse waren für Sie von besonderer Wertigkeit?

Die Tatsache, dass es überhaupt möglich war, den Mädchen und Frauen in Afghanistan die Chance zu geben, nach allen vorausgegangenen Demütigungen überhaupt wieder spielen zu sehen - das war wohl für uns das grösste Erfolgserlebnis. Und natürlich die Tatsache, dass es uns gelungen war, die Tür um etwas mehr Anerkennung in der (Männer)Gesellschaft ein klein wenig aufzustossen. Ein Erlebnis besonderer Art für 18 Mädchen der Nationalmannschaft war eine Reise nach Deutschland vor zwei Monaten. Klaus Stärk hatte in Kabul eine Auswahl zusammengestellt, die - wieder mit voller Unterstützung aller Beteiligten - eine Reise nach Deutschland antreten durfte, finanziert von der Bundesregierung. Die Gastgeber vom Württembergischen Fussball taten alles, um den jungen Frauen aus dem Land am Hindukusch unvergessliche zwei Wochen zu bereiten, mit Empfängen hier und da, mit Trainingsspielen gegen Mannschaften aus dem Grossraum Stuttgart und einem richtigen Medienrummel, der sich in vielen Artikeln und Fernsehaufnahmen niederschlug.

DOSB PRESSE: Hatten Sie jemals, vor allem in der Anfangsphase der Jahre 2003 und 2004, das Gefühl, dass die Angst beim Spiel der ihnen anvertrauten Mädchen und Frauen mit im Spiel war?

Zumindest nach aussen hin war den Spielerinnen nicht anzumerken, ob hier oder da Gefühle der Angst aufkamen. Dazu vielleicht noch der Hinweis, dass viele der Mädchen bereits Erfahrungen mit anderen Sportarten gemacht hatten, vor allem in den asiatischen Kampfsportarten wie Judo oder Karate, und schon daher genügend Courage besitzen, um sich auch im Fussball zu behaupten. Darüber hinaus legten wir auch immer viel Wert darauf, dass beim Training der Spass und die Freude an erster Stelle standen. Da kamen die Teilnehmerinnen gar nicht auf solche Gedanken, und allein der Entschluss, Fussball zu spielen, setzt ja ein gewisses Mass an Mut und Durchsetzungsvermögen voraus.

DOSB PRESSE: Hat der Mädchen- und Frauenfußball in Afghanistan in naher und ferner Zukunft weiter eine Chance?

Die Antwort fällt ungemein schwer, denn - siehe oben - nur ein einziges Attentat, eine einzige Granate in einer Gruppe fussballspielender Mädchen würde alles zerstören, was wir in wenigen Jahren mit grosser Energie und viel Optimismus aufgebaut haben. Damit ist eigentlich alles gesagt. Wir, Ali Askar Lali, Klaus Stärk und ich können nur hoffen, dass es dazu nicht kommt.


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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 28-29 / 7. Juli 2008, S. 10
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juli 2008