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GESCHICHTE/436: Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte Teil 238 (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 1-3 / 14. Januar 2014
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

1997/VI: Sport und Medizin sind Bündnispartner für die Gesundheit
Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte (Teil 238)

Eine Serie von Friedrich Mevert



Bereits im "Bericht zur Lage" beim DSB-Bundestag Ende November 1996 in Leipzig hatte DSB-Präsident Manfred von Richthofen deutlich gemacht, "dass sich in der jüngsten Zeit das Thema 'Sport und Gesundheit' zum Problembereich entwickelt" habe und wörtlich erklärt: "Man kann seine Verärgerung und Enttäuschung über die politischen Entwicklungen im Rahmen der angeblichen Gesundheitsreform nicht laut genug Ausdruck verleihen". Die gesetzliche Streichung der Gesundheitsförderung sei ein Schritt in die falsche Richtung gewesen.

Dass Sport und Medizin Bündnispartner bei der Gesundheitsförderung seien, betonte auch der Präsident der Ärztekammer Berlin, Dr. Ellis Huber, in einem Grundsatzreferat zur gesundheitspolitischen Bedeutung des Sports bei der Bundeskonferenz Breitensport des DSB am 10. Oktober 1997 in Weimar. Aus dem Referat veröffentlichen wir nachstehend Auszüge:

"In allen Kulturen, in allen Zeiten, in allen Gesellschaften gibt es Krankheit und das Bemühen der Menschen, ihre Krankheiten zu bekämpfen. Aufgabe der Gesundheitspolitik ist es, in einem Land oder in einer Stadt für Verhältnisse zu sorgen, die möglichst alle Menschen angemessene Gesundheit erreichen und erhalten lässt und dies so preiswert wie möglich im Rahmen des volkswirtschaftlichen Vermögens. Wir Ärzte haben daran einen nicht geringen Anteil. Denn 80 Prozent der Ausgaben im gesundheitlichen Versorgungssystem werden nur getätigt, wenn ein Arzt dies anordnet, dem zustimmt oder meint, dass eine Maßnahme richtig sei. Das soziale Immunsystem zur Abwehr der Krankheitsgefahren in unserer Gesellschaft ist ein großes Unternehmen. Mehr als 430 Milliarden DM werden jährlich in diesem System ausgegeben. Den Löwenteil tragen mit mehr als 200 Milliarden DM die gesetzlichen Krankenversicherungen. Wenn man demgegenüber vergleicht, dass die privaten Haushalte etwa 36 Milliarden DM für sportliche Betätigung ausgeben, und die Gesamt-Förderung von Sport durch die Bundesregierung und die Länder insgesamt in einer Größenordnung von sieben Milliarden DM und zusätzlich 3,5 Milliarden DM für die Sportlehrer liegt, dann erkennt man die unterschiedlichen Dimensionen der Bedeutung des Gesundheitssystems und des Sportsystems in unserem Land. Ihre Gesundheit lassen sich die Deutschen einiges kosten. Im Jahr 1992 gaben sie insgesamt 429,1 Milliarden Mark dafür aus; das waren 13 Prozent mehr als im Jahr zuvor. Am teuersten war die Behandlung. Stationär in Krankenhäusern und ambulant in Arzt- und Zahnarztpraxen wurden für die medizinische Behandlung 170 Milliarden Mark ausgegeben. Aber auch die Kosten der Krankheitsfolgen schlugen beträchtlich zu Buche: Lohnfortzahlung, Frührenten und Rehabilitation verursachten zusammen Kosten in Höhe von 94 Milliarden Mark. Knapp die Hälfte der Gesundheitsausgaben finanzierte die Gesetzliche Krankenversicherung. Die andere Hälfte trugen Arbeitgeber und Staat, Renten- und Unfallversicherung, die private Krankenversicherung sowie die privaten Haushalte, die neben ihren Beiträgen zur Krankenversicherung 32,3 Milliarden Mark direkt für ihre Gesundheit ausgaben.

Das gesundheitliche Versorgungssystem kriselt zur Zeit. Eine Gesundheitsreform folgt der anderen. Offensichtlich sind Staat und Gesellschaft unzufrieden mit dar Effizienz und der Effektivität dieses Versorgungsgefüges. Nach Überzeugung der Ärzteschaft ist das Gesundheitswesen eine kulturelle Leistung ebenso wie die Situation des Sportes Ergebnis einer kulturellen Organisation unserer Bevölkerung ist. Ein soziales Immunsystem wie das Gesundheitswesen ist darauf angewiesen, dass alle Beteiligten im Sinne der gemeinsamen Aufgabe und im Bewusstsein der Verantwortung für das Gemeinwesen zusammenwirken. Das Gesundheitssystem ist also ein Gesamtunternehmen, in dem Zielorientierung, Mittelbereitstellung, Heilkunst und heilsame Prozesse miteinander abgestimmt werden müssen. Es hängt alles mit allem zusammen, und auch der Breitensport und die allgemeine Sportbetätigung in der Bevölkerung tragen zur Gesundheit bei.

Altersgebrechen beschäftigen die ambulante Versorgung; Schwindelgefühle, Unsicherheiten im alltäglichen Leben sind die häufigsten von Menschen über 65 Jahren in der Arztpraxis geäußerten Symptome. Es sind Phänomene wie Angst und andere psychosoziale Befindlichkeitsstörungen, die das Gros der Behandlungsbedürftigkeit in der ambulanten medizinischen Versorgung ausmachen. Angst geht um in unserem Lande, und wir spüren sie. In Vereinen ebenso wie in Arztpraxen erkennen wir, dass unter uns das soziale Bindegewebe brüchiger geworden ist als es noch vor Jahren war, dass offenbar die Ellenbogengesellschaft ein gesundes Verhältnis zwischen individuellem Egoismus und Dienst an der Gemeinschaft nicht mehr optimal herstellen lässt. (...)

Das alte Maschinenbild vom Leben bricht. Überall auf der Welt sind Ärztinnen und Ärzte dabei, eine Neuorientierung für ihr Denken und Handeln durchzusetzen. Diese neue Orientierung geht davon aus, dass in jeder Gesellschaft kränkende und heilsame Kräfte miteinander im Widerstreit liegen. Ein kommunikatives Gewebe von genetischen und psychosozialen und kulturellen Verhältnissen entscheidet über mehr Gesundheit oder mehr Krankheit. Eine ökologische, ganzheitlich denkende Medizin setzt sich durch.

Soziale Unterstützung, das Gefühl, nicht allein zu sein, das Gefühl, Geborgenheit zu finden, das Gefühl und die Realität, sich mit anderen austauschen zu können, sind ganz wesentliche gesundheitsförderliche Kräfte. Die neue Orientierung der Medizin drückt sich auch in einem gesundheitspolitischen Programm der Weltgesundheitsorganisation zur Gesundheitsförderung (Ottawa-Charta) aus. Die Strategie der Gesundheitsförderung geht davon aus, dass die Entwicklung einer gesundheitsförderlichen Gesamtpolitik unverzichtbar notwendig ist.

Sportliche Betätigung hilft bei den meisten Krankheiten, die auch das medizinische Versorgungssystem betreffen. Zu niedriger oder zu hoher Blutdruck, Zuckerkrankheiten, hoher Fettspiegel, Übergewicht, Herzbeschwerden, Durchblutungsstörungen, Herzinfarkt oder Herzoperation, Rückenbeschwerden, Lungen- und Nierenerkrankung, überall hat sportliche Betätigung, in Maßen, sinnvolle und heilende Wirkung. Wir müssen solche gesundheitsförderlichen Angebote in vielen Bereichen - etwa in der Synergie von Volkshochschule und Erwachsenenbildung, von Sportverein und Landessportbund, von medizinischem Versorgungssystem und Ärzteschaft noch mehr ausbauen und fördern. (...)

Es gibt genügend Chancen und Möglichkeiten, Gesundheitsförderung oder gesundheitliche Reformen mutig und vorbildlich durchzuführen. Wo die Gefahr groß ist, wächst das Rettende auch. Voraussetzung für den Reformprozess ist, dass alle Beteiligten aufhören, bei der Frage, wer trägt für das individuelle und das allgemeine Wohl denn Verantwortung, auf den jeweils Nächsten zu zeigen. Ich empfehle daher, die vorhandenen Ansätze zur Kooperation auszubauen und eine strategische Allianz zu bilden: Sportorganisationen, Krankenkassen, Ärzteschaft, Wohlfahrtsverbände und die Gesundheitspolitik müssen gemeinsam für die Verbesserung der Verhältnisse eintreten.

Es entwickelt sich eine Organisationskultur, in der selbständig tätige Einheiten wie Vereine, Verbände, aber auch Arztpraxen und Krankenhäuser und die Ärztekammer oder einzelne Krankenkassen zusammenwirken, damit möglichst viel Gesundheit für alle erreicht werden kann. Deutlich wird, dass eine Kooperation zwischen medizinischem Versorgungssystem und Sport die Chance beinhaltet, die Krise des Gemeinwesens und die Not eines zerbrechenden sozialen Bindegewebes zu überwinden. Kooperation und Gemeinsamkeit helfen dann auch besser, mit begrenzten finanziellen Ressourcen optimale Leistungen für das Gesundheitswesen zu erreichen. Sport und Medizin sind Bündnispartner."

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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 1-3 / 14. Januar 2014, S. 49
Der Artikel- und Informationsdienst des
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veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Januar 2014