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GESCHICHTE/395: Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte Teil 204 (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 15 / 9. April 2013
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

1993/II: Zur kritischen Lage des Schulsports
Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte (Teil 204)

Eine Serie von Friedrich Mevert



In der ersten DSB-Hauptausschuss-Sitzung des Jahres am 15. Mai 1993 in Frankfurt am Main standen Offensiven gegen Sparmaßnahmen der öffentlichen Hände in der Sportförderung und gegen die kritische Schulsportsituation im Mittelpunkt der Beratungen. In seinem "Bericht zur Lage" kritisierte DSB-Präsident Hans Hansen die wachsende Zahl von Stilllegungen von Hallenbädern und Sportanlagen in den Kommunen, um damit - vergleichsweise geringe - Energie- und Personalkosten einzusparen, und mahnte nachdrücklich bei der Bundesregierung die Bereitstellung von Bundesmitteln für die Verwirklichung des "Goldenen Planes Ost" an.

Prof. Helmut Digel, im Präsidium des DSB für Wissenschaft, Bildung und Gesundheit zuständig, berichtete umfassend über die zunehmend kritischer werdende Situation im Schulsport in den Bundesländern, für deren Verbesserung künftig noch stärker im Zusammenwirken mit anderen bedeutsamen gesellschaftlichen Organisationen gekämpft werden müsse.

"Angesichts der Tendenz zu Ganztagsschulen" sprach Digel auch "mögliche Gefahren" an, die "offensichtlich" seien. Die heute zu fällenden Entscheidungen berührten nicht allein den Schulsport, "sondern den Sport in seiner Gesamtheit" und beträfen insbesondere den Kinder- und Jugendsport.

Nachfolgend Auszüge aus Digels eindrucksvollen Bericht:

"Vor wenigen Monaten verabschiedete der Deutsche Sportbund bei seinem Bundestag in Berlin eine Resolution, in der mit großem Ernst die kritische Lage des Schulsports beschrieben wird und einmal mehr die verantwortlichen Partner in den Schulbehörden der Bundesländer darauf hingewiesen werden, bei ihren Entscheidungen über den Schulsport die Vereinbarungen mit dem Deutschen Sportbund zu berücksichtigen. Heute steht erneut das Thema Schulsport auf der Tagesordnung. In der Geschichte des Deutschen Sportbundes, seiner Hauptausschüsse und Bundestages ist dieser Vorgang einmalig.

Kommt damit eine besondere Dramatik zum Ausdruck? Wird damit sichtbar, dass die Krise des Schulsports noch sehr viel größer ist, als sie nur wenige Monate zuvor bei unserem Bundestag bereits beklagt wurde?

In der Tat hat sich seit dem Bundestag des Deutschen Sportbundes die Lage des Schulsports dramatisch verschärft. Mit der Vorentscheidung der Ministerpräsidenten der Länder zur Abschaffung des 13. Schuljahres wurde eine bildungspoltische Weichenstellung vorgenommen, die die weitere Entwicklung des Schulsports ganz wesentlich treffen wird. Betrachtet man darüber hinaus die bereits heute existierende Situation des Schulsports, die wohl von Land zu Land sehr unterschiedlich ist, so muss in der Tat von einer ernsten Lage gesprochen werden. Für die alten Länder kann die aktuelle Situation so beschrieben werden:

  • Qualität und Quantität des Schulsports in den Grundschulen ist nach wie vor katastrophal,
  • mehrheitlich unterrichten Lehrer ohne qualifizierte Ausbildung in dieser Schulstufe,
  • gerade in dieser Schulstufe ist der Ausfall des Sportunterrichts an der Tagesordnung,
  • Dramatisch sind nach wie vor die Tendenzen zur Kürzung im Bereich der Sekundarstufe 1. Von einer gesicherten dritten Sportstunde kann bezogen auf diese Schulstufe nicht gesprochen werden.
  • Der Schulsport in der Sekundarstufe 2 weist ebenfalls erhebliche Lücken auf.
  • Völlig indiskutabel ist nach wie vor die Situation im Bereich des Berufsschulsports. Hier gelten die Forderungen aus den 60er Jahren; in keinem westlichen Bundesland in Deutschland wurden diese Forderungen auch nur annähernd erreicht. Für die neuen Länder müssen diese Defizite in Teilbereichen zwar modifiziert dargestellt werden, gleichwohl ist die Schulsportsituation auch hier beschämend. Zu den Schwierigkeiten im Bereich der Sportstätten und Sportgeräte kommen erhebliche Probleme im personellen Bereich. Das System der Arbeits- oder Schulsportgemeinschaften existiert nicht mehr. Ersatz ist noch nicht gefunden.

Mit der Abschaffung des 13. Schuljahres wird es nicht nur zu einer Infragestellung des Schulstufengefüges kommen, es wird vielmehr nun die Frage zu beantworten sein, wie und wann überhaupt Schulsport im öffentlichen Schulwesen organisierbar ist. Angesichts der Tendenz zur Ganztagesschule, die europaweit schon seit längerer Zeit zu beobachten ist, mit der Einführung des freien Samstags und insbesondere mit der Verkürzung der Gesamtschulzeit auf 12 Jahre wird es vermutlich keinen anderen Weg geben, als den Schulsport vermehrt in die Nachmittagsstunden zu verlagern. Dies kann durchaus auch eine Chance sein. Neue Formen der Kooperation zwischen Schule und Verein könnten dadurch entstehen, Impulse für den Vereinssport könnten aus einem neu gestalteten Schulsport erwartet werden.

Mögliche Gefahren sind jedoch mindestens ebenso offensichtlich. Die heute zu fällenden Entscheidungen berühren nicht allein den Schulsport, sondern den Sport in seiner Gesamtheit. Schulpolitische Entscheidungen, die sich organisatorisch auf die Nachmittagsgestaltung auswirken, betreffen den Kinder- und Jugendsport in seiner Gesamtheit.

Sollten die öffentlichen Hallen und Sportanlagen wochentags bis 18.00 Uhr zur Nutzung des Schulsports benötigt werden, wie es jetzt oft schon der Fall ist, so wäre in hohem Maße die Kinder- und Nachwuchsarbeit der Sportfachverbände und damit der eigentlichen Klientel des Deutschen Sportbundes in Frage gestellt, Schule und Verein sind dabei nicht nur Partner, sondern Konkurrenten und der Schulsport befindet sich dabei in der Gefahr, dass er als Partner für die Vereine und Verbände uninteressant wird.

Die Situation, in der sich der Deutsche Sportbund heute befindet, ist deshalb neu. Der Deutsche Sportbund hat sich zu Recht als Fürsprecher aller Sporttreibenden verstanden. Seit seiner Gründung fühlte er sich für die Entwicklung des Schulsports verantwortlich und hat seit der Entschließung des Sportbeirats zum Schulsport im Jahre 1952 in elf Grundsatzdokumenten und einer Vielzahl zusätzlicher Erklärungen auf Fehlentwicklungen in der schulischen Sporterziehung aufmerksam gemacht. Der Deutsche Sportbund hat dabei sowohl Verantwortung gegenüber Kindern und Jugendlichen als auch gegenüber deren Eltern übernommen. Erklärungen, Resolutionen, Empfehlungen und öffentliche Verlautbarungen, die der DSB mit seinen Mitgliedsorganisationen zur Situation des Schulsports und vor allem zur Aufrechterhaltung der dritten Sportstunde abgegeben hat, dokumentieren die Wachsamkeit der Sportorganisationen. Insbesondere der Deutsche Sportlehrer-Verband und der Deutsche Sportärzte-Bund haben sich mit aller Entschiedenheit und besorgt dazu geäußert, dass der Schulsport immer mehr zum Stiefkind einer ohnehin restriktiven Bildungspolitik wurde, und der Deutsche Sportbund hat nicht zuletzt auf der Grundlage dieser Interventionen auf seinem Berliner Bundestag 1992 eine Resolution gegen die Flexibilisierung der Stundentafel und deren Folgen für den Schulsport verabschiedet. Die Befürchtungen, die darin geäußert wurden, dies bestätigt eine Untersuchung des Deutschen Sportlehrer-Verbandes in Nordrhein-Westfalen, sind mehr als berechtigt. (...)

Die heutige Diskussion über die Probleme des Schulsports sollte nicht in eine neue Resolution münden. Wer zu früh sein Pulver verschießt, dem mangelt es an Waffen, wenn die Auseinandersetzungen um den Schulsport in die entscheidende Phase eintreten.

Heute sollte vielmehr eine selbstkritische Diskussion über unsere Handlungsmöglichkeiten gegenüber der Politik stattfinden. Es müsste über neue Instrumente gesprochen werden, die von uns zu entwickeln sind, wollen wir uns wirklich für den Schulsport einsetzen. Der Ernst der gegenwärtigen Finanzlage darf dabei nicht unterschätzt werden. Auch vom Sport, das heißt auch vom Schulsport, werden Opfer abzuverlangen sein.

In aller Entschiedenheit muss jedoch die Form und die Art und die inhaltliche Auseinandersetzung zurückgewiesen werden, in der von einigen Kultusbehörden die Situation des Schulsports bagatellisiert wird und empirische Sachverhalte überdeckt bzw. falsch dargestellt werden. Es muss auch mit Nachdruck deutlich gemacht werden, was die anstehenden Kürzungen im Bildungs- und Schulsportetat bedeuten angesichts der gesellschaftlichen Probleme, denen Kinder und Jugendliche nicht nur unter sozial- und gesundheitspolitischen Gesichtspunkten heute ausgesetzt sind. (...)

Der Deutsche Sportbund selbst wird sich mit aller Vehemenz weiter darum bemühen, dass die von ihm angeregte und konzeptionell erarbeitete Schulsportanalyse Deutschland endlich genehmigt und durchgeführt wird. Die verantwortlichen Gremien des Sports haben sich aber auch mit der Frage auseinanderzusetzen, wie sie selbst ihre Interessen gegenüber dem Schulsport in deren weiteren Entwicklung definieren möchten. Die Frage des Kinder- und Jugendsports ist zunächst und vor allem eine Frage, die unsere Fachverbände und Landessportbünde selbst betrifft. Hier bedarf es einer klaren Prioritätenfestlegung. Erst auf der Grundlage einer derartigen Vereinbarung können sinnvolle Forderungen über die quantitative Ausstattung des Schulsports vorgetragen werden. Meine Ausführungen sollen Ihnen deutlich machen, dass wir - wollen wir in der weiteren Auseinandersetzung um den Schulsport gerüstet sein - zunächst unsere Hausaufgaben zu machen haben. Mit Resolutionen erreichen wir nichts mehr. Erst wenn eine solide Position erarbeitet ist, macht es Sinn, in die harte politische Auseinandersetzung einzutreten."

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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 15 / 9. April 2013, S. 23
Der Artikel- und Informationsdienst des
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. April 2013