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GESCHICHTE/394: Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte Teil 203 (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 14 / 2. April 2013
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

1993/I: DSB-Präsident Hansen würdigt Leistungen des Arbeitersports
Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte (Teil 203)

Eine Serie von Friedrich Mevert



Als sich in den Jahren 1945/46 nach und nach die neuen politischen und auch sportlichen Strukturen im geteilten und zerstörten Nachkriegsdeutschland bildeten, kamen viele der führenden Persönlichkeiten, die sogenannten 'Männer der ersten Stunde', aus der Arbeitersportbewegung oder standen beim Aufbau der Landessportbünde deren Zielsetzungen nahe. Dennoch wurde in zahlreichen Beratungen mehrheitlich eine Wiederbelebung des vom NS-Regime zerschlagenen Arbeiterturn- und Sportbundes (ATSB) zugunsten einer künftigen Einheitssportbewegung abgelehnt.

Ein führender Kopf der Befürworter einer Einheitssportbewegung des Arbeitersports mit den konfessionellen und bürgerlichen Sportorganisationen war der letzte Geschäftsführende Vorsitzende der Zentralkommission für Arbeitersport und Körperkultur, Fritz Wildung, der sich in dieser Frage wohl auch mit dem damaligen SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher einig war. Das Wirken Fritz Wildungs als profiliertesten Führer des Arbeitersports würdigte der Deutsche Sportbund 1986 mit der Schaffung der Fritz-Wildung-Plakette, die alle zwei Jahre an Vereine verliehen wurde, die ein vorbildliches Modell von sozialer Hilfe im Sport oder durch Sport aufgebaut haben.

Ein deutliches Bekenntnis zur Tradition und zu den Wurzeln des Arbeitersports gab der Präsident des Deutschen Sportbundes, Hans Hansen, anlässlich des Wissenschaftlichen Symposiums '100 Jahre Arbeitersport in Deutschland', das vom 1. bis 3. April 1993 in Leipzig stattfand, ab. Dabei betonte Hansen vor allem die maßgeblich aus der Arbeitersportbewegung resultierenden Verpflichtungen vor allem im sozialpolitischen und humanitären Bereich des Sports.

Der Festvortrag des DSB-Präsidenten lautete wie folgt:

"In der Festschrift zur Gründungsgeschichte des DSB wird beschrieben, wie die Arbeitersportbewegung 1950 im DSB aufgegangen ist. Erbe und Tradition des Arbeitersports leben seither in den Vereinen und Verbänden weiter. Sichtbar wird dies auch in der Verleihung der Fritz- Wildung-Plakette. Sie erinnert an einen bedeutenden Arbeitersportführer und ehrt Sportgruppen und Vereine, die sich besonders für Benachteiligte in unserer Gesellschaft einsetzen. Als Präsident, der bedeutende Ereignisse im Arbeitersport nie ausgelassen hat, bekenne ich mich zu seiner Tradition. Der DSB fühlt sich besonders seiner sozialpolitischen, humanitären und solidarischen Ausrichtung verpflichtet. Ich sage das auch im Wissen darum, dass wir es immer noch nicht geschafft haben, allen Bevölkerungsgruppen gleichermaßen den Zugang zum Sport zu ermöglichen.

'Arbeiter' sind in der Sportbewegung nach wie vor unterrepräsentiert, was nichts anderes heißt, als dass sie in unseren Vereinen weniger häufig Sport treiben als Angestellte, Beamte und Selbständige. Dies trifft vor allem auch für Arbeiterinnen und ausländische Mitbürger zu. Zu diesem Kreis zählen auch jene Menschen, die in unserer Gesellschaft ohne Arbeit bleiben. Dies ist um so bitterer, als sich der Mensch nicht zur puren Passivität eignet.

Das zeigen uns auch die mit dem Wohlstandsniveau nicht schwindenden, sondern wachsenden Depressionen und Aggressionen. Deshalb ist die Entwicklung neuer Formen einer eigenständigen und aktiven Freizeitkultur nichts Überflüssiges, ist kein Luxus, sondern geradezu lebenswichtig für die Zukunft. Dass das begriffen wird, zeigt die Entwicklung der Mitgliederzahlen: Der Deutsche Sportbund umfasste 1954 3,7 Millionen Mitglieder, inzwischen sind es 24 Millionen.

Es gehört zu den historischen Leistungen, dass die Arbeitersportbewegung durch die Gründung von Turn-, Radfahr-, Schwimm-, Athleten-, Schach- und Ballspiel-Vereinen zur mitgliederstärksten Einzelorganisation innerhalb der gesamten Arbeiterkulturbewegung wurde und durch ihre Kraft, ihre Stärke und ihre Geschicklichkeit ihr 'symbolisches Kapital' im Kampf gegen vielfältige Formen sozialer Ächtung und Diskriminierung einzusetzen verstand. Der Sport bot dabei eine attraktive Möglichkeit, in dieser Situation Stolz und Selbstbewusstsein zu entwickeln.

Die Ausgrenzung der Arbeiter durch die bestimmenden Kräfte der damaligen Gesellschaft in Deutschland hat nicht zuletzt auch zur Selbstbehauptung und zum Entstehen einer starken Arbeitersportbewegung beigetragen.

Was Arbeit bedeutet, ist eine Sache der Bewertung.Im Gegensatz zu der Zeit der Gründung der Arbeitersport-Organisation wird Arbeit heute positiv eingeschätzt. Sie gehört zur Selbstverwirklichung der Menschen. In Umkehrung der Verhältnisse von vor 100 Jahren, in denen Muße das Kennzeichen und das Privileg der Oberschicht war, rechtfertigen sich moderne Eliten heute durch ihr Übermaß an Arbeit, durch die Achtzig-Stunden-Woche, durch den ausgebuchten Terminkalender und mit dem Hinweis auf den Herzschrittmacher als Statussymbol der permanenten Überlastung.

Am anderen Ende der gesellschaftlichen Pyramide von heute befinden sich jene, denen das Übermaß an freier Zeit zum Fluch und zur Plage wird: Das sind unsere arbeitslosen Mitbürger. In dem Maße, in dem die Arbeit zum strukturell knappen Gut wird, erhöht sich das Selbstwerterlebnis derer, die über Arbeit verfügen.

Der Arbeitslose ist dagegen doppelt arm dran. Er hat nicht nur ein vermindertes Einkommen, er muss auch jenes Selbstwerterlebnis vermissen, das Arbeit dem Menschen vermitteln kann. Daraus ergibt sich für den Sport, für seine Vereine eine Verpflichtung, seinen sozialen Aufgaben durch besondere Aktivitäten gegenüber diesem Kreis unserer Mitbürger gerecht zu werden und damit in dieser schwieriger gewordenen Zeit selbstverständliche Solidarität zu praktizieren.

Der Sport bekennt sich zu seiner sozialen Verantwortung und hat ein Recht auf Unterstützung durch die, die politische Verantwortung tragen! Wer heute den Goldenen Plan Ost zur Verbesserung der Sportstättensituation in den neuen Ländern für nicht machbar hält, dem müssen wir sagen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen der Bindungs- und Orientierungslosigkeit der Menschen und dem Vorhandensein von sozialen Räumen der Begegnung, wie dies Sportanlagen sind.

Deshalb können wir das Argument, für Sportanlagen im Osten fehle Bund, Ländern und Gemeinden gegenwärtig das Geld, zwar nachvollziehen. Dennoch müssen wir darauf verweisen, dass die Folgeprobleme für unsere Gesellschaft weitaus kostspieliger sein werden, wenn entsprechende Einrichtungen des Sports nicht geschaffen werden, ganz abgesehen davon, dass das Grundgesetz gleiche Lebensverhältnisse gebietet!

Die Gründung des DSB, die Schaffung einer Einheit von bürgerlicher und Arbeiter-Sportbewegung, die Integration des konfessionell organisierten Sports bleibt eine historische Leistung. Einheit als aktuelle Herausforderung für den Sport bedeutet Solidarität zwischen Arm und Reich, zwischen Jung und Alt, zwischen Frauen und Männern, zwischen Leistung und Breite, zwischen Ehren- und Hauptamt.

Einheit bedeutet auch, alles zu tun, um nach dem Einreißen der Mauer aus Beton und Stahl keine neue geistige Mauer zwischen Ost und West zu schaffen. Solidarität und Einheit sind auf Dauer nur zu gewinnen, wenn Toleranz und Verständnis füreinander unser Tun und Handeln bestimmen.

Diese Tugenden haben den Arbeitersport in Deutschland über 100 Jahre geprägt. Sie waren 1950 bei der Gründung des Deutschen Sportbundes - gepaart mit Weitsicht und mit Klugheit - das bestimmende Element.

Denen, die danach handelten, gilt auch heute der Dank des Deutschen Sportbundes und mein hoher Respekt."

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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 14 / 2. April 2013, S. 35
Der Artikel- und Informationsdienst des
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. April 2013