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GESCHICHTE/334: Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte Teil 153 (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 7 / 14. Februar 2012
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

1984/V: IOC-Präsident Samaranch: Geiselnahme schafft neue Konflikte
Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte (Teil 153)

Eine Serie von Friedrich Mevert


"Fair miteinander leben" hieß das Generalthema des 18. des Deutschen Sportbundes am 25./26. Mai 1984 in Bad Homburg. Aus diesem Anlass konnte der DSB mit IOC-Präsident Juan Antonio Samaranch und Bundespräsident Karl Carstens an der Spitze zahlreiche prominente Ehrengäste begrüßen. Der Bundespräsident nutzte den festlichen Rahmen für die erstmalige Verleihung der neu gestifteten "Sportplakette des Bundespräsidenten" an fünf Verbände und 15 über hundertjährige Vereine.

IOC-Präsident Samaranch sprach in seinem Grußwort nicht nur das Fair Play in der olympischen Bewegung, sondern auch aktuelle olympische Sorgen und Zukunftsperspektiven an. Insbesondere gelte es, mit aller Kraft gegen eine Geiselnahme des Sports zu politischen Zwecken zu kämpfen, da dies nur neue Konfliktquellen schaffen würde.

Aus der Ansprache Samaranchs wird nachfolgend - auszugsweise - zitiert:

"In der Welt des Sports wird die Bedeutung des deutschen Beitrags und der deutschen Leistung hoch geschätzt, und ich glaube, dass dies durchaus berechtigt ist. Deutsche Sportprogramme für Hochleistungssportler wie auch für den Massensport werden dank der engen Zusammenarbeit Ihrer Fachleute als ein Beispiel in aller Welt benützt. Ihre Hilfe für die Entwicklungsländer - sei es im Training, sei es im Sportstättenbau usw. - setzt einen sehr hohen Maßstab und wird von allen, die daraus Nutzen ziehen, sehr gewürdigt.

Ich habe selbst diese Hilfe anlässlich zahlreicher Besuche bei unseren NOKs in einer ganzen Anzahl von Ländern überall in der Welt sehen können. Dabei möchte ich auch die beachtlichen Ergebnisse erwähnen, die ihre Spitzensportler erreicht haben. Ich würde sagen, dass die Bundesrepublik Deutschland zu den zehn besten Ländern im Sport gezählt werden kann. Das kann man nicht ignorieren oder bagatellisieren, und ich möchte Ihnen versichern, dass die gesamte olympische Bewegung Ihnen allen äußerst dankbar für das ist, was Sie leisten.

Diese Tagung findet in einem sehr kritischen Zeitpunkt für die olympische Bewegung statt und, obwohl man mich gebeten hat, über "Fair play" zu sprechen, muss ich wenigstens kurz an die Schwierigkeiten erinnern, denen wir uns jetzt im Zusammenhang der Organisation der Spiele der XXIII. Olympiade in Los Angeles gegenübersehen.

Sie sind sich alle der Tatsache bewusst, dass mehrere unter den größeren Sportländern, einschließlich besonders der Sowjetunion und der Deutschen Demokratischen Republik, entschieden haben, es ihren Athleten "aus Sicherheitsgründen" nicht möglich ist, an den Wettkämpfen in Los Angeles teilzunehmen. Wir erinnern uns auch gut der Spiele der XXII. Olympiade in Moskau vor vier Jahren, als ein vom Präsidenten der Vereinigten Staaten eingeleiteter politischer Boykott die Ursache vieler Schwierigkeiten für die Organisatoren und bitterer Gefühle unter den Sportlern aus aller Welt war; Ihr eigenes Land gehörte dazu. (...)

Eines ist sicher: dass solche Entscheidungen, seien sie getroffen oder direkt veranlasst von politischen Gewalten und nicht von Gremien des Sports, der gesamten internationalen Sportbewegung nur schaden können.

Es ist darum unsere Verantwortlichkeit als Mitglieder des Internationalen Olympischen Komitees, der Nationalen Olympischen Komitees und der internationalen Föderationen, ebenso wie aller anderen Sportorganisationen, stark und unnachgiebig zu kämpfen bei dem Versuch, Politiker davon zu überzeugen, dass eine Geiselnahme des Sports aus politischen Motiven nur dazu dient, neue Konfliktquellen in aller Welt zu schaffen.

Wir würden auf solche Weise unwiderruflich eine der wichtigsten Möglichkeiten verlieren, die uns in unserem jetzigen Alltag zur Verfügung steht, um der Bevölkerung der Welt eine Chance zu geben, einander zu begegnen und einander verstehen zu lernen.

Wie immer sind es die Athleten, die auf höchst unfaire Weise bestraft werden, und nur sie. Sie dienen einmal mehr als Faustpfänder, denn sie haben kaum eine Chance, dass man ihre Meinung in Betracht zieht. (...)

Gegenseitiger Respekt: Das ist das Schlüsselwort unserer Politik und eines der grundlegenden Ziele der olympischen Bewegung. Man kann es auch "Fair play" nennen, wobei dieses nicht ganz gleiche Bedeutung hat. Gegenseitiger Respekt darf nicht mit Toleranz verwechselt werden. Toleranz ist gelegentlich nur eine Form der Gleichgültigkeit zwischen Menschen, die einander nicht kennen. Respekt kann nur zwischen Menschen entstehen, die einander bekannt sind.

Was "Fair play" betrifft, so ist das im wesentlichen eine moralische Größe, derer die Herstellung von gegenseitigem Respekt bedarf. Aber "Fair play" selbst kann von jedem ausgeübt werden, selbst ohne Gegner. Es ist etwas, das ein Individuum als solches betrifft, sich selbst oder anderen gegenüber. Ich habe gerade gesagt, dass "Fair play" eine "moralische Größe" ist. Was begründet diese Behauptung? Und, wichtiger noch, was ergibt sich daraus für den Sport? Dieses Thema werde ich nun entwickeln. Ist "Fair play" eine moralische Größe oder ein Charakterzug? Mit anderen Worten, ist es etwas, das der Menschheit angeboren ist, oder ist es ein bestimmtes Verhalten, das man sich als solches aneignen kann? Es ist allgemein bekannt, dass Charaktereigenschaften nicht notwendigerweise in einer Beziehung stehen zu moralischen Größen, so wie sie auch nicht Teile des Gewissens sind. Diese Eigenschaften sind: Mut, Energie, Willensstärke, Beharrlichkeit, Ausdauer. Sie dienen sowohl dem Guten wie dem Bösen. Darum ist die Lehre von einer direkten Anhebung der Moral durch körperliche Entwicklung falsch und beunruhigend. Eine Verbesserung des Muskelapparates sichert nicht an sich das Gedeihen des Gehirns oder den Fortschritt der Moral. Der Sport kann deshalb nur eine direkte Ergänzung der moralischen Haltung sein. "Fair play" kann also diesen Eigenschaften nicht ohne weiteres angepasst werden, selbst wenn sie damit übereinstimmen.

Pierre de Coubertin pflegte zu sagen, dass man sich zwar nicht vervollkommnet, wenn man einige Runden läuft, dass aber diese angeborene Unvollkommenheit den Wert des Sports an sich nicht in Frage stellen kann. Über die physischen und physiologischen Wohltaten des Sports ist mittlerweile alles gesagt und alle Welt stimmt dem zu. Was aber kann er zur moralischen und geistigen Erbauung des Menschen beitragen?

Offensichtlich trägt der Sport zur Entwicklung jener Charaktereigenschaften bei, die ich vorhin erwähnt habe. Es ist nicht nötig, die Nützlichkeit dieser Eigenschaften herauszustellen. Jedes menschliche Wesen, das sie besitzt, hält damit den Schlüssel zu einem erfolgreichen Leben in seinen Händen. (...)

Wenn wir also über unsere eigene Tätigkeit sprechen - den Sport -, sollten wir uns auch dessen bewusst sein, dass jetzt die ganze Frage des Verhaltens im Leben auf dem Spiel steht. Es ist evident, dass es stets unmöglich sein wird, einen strikten Verhaltens-Codex für Fair play zu verkünden, denn Sport, wie das Leben überhaupt, hängt von den Wertmaßstäben und Normen der Gesellschaft ab, die ihn ausübt.

Wir werden daher die folgende Tatsache anzuerkennen haben: Wir werden niemals in der Lage sein, die Lehre vom "Fair play" zu kodifizieren; das gleiche gilt übrigens für den Olympismus. Wir werden nicht in der Lage sein, diese Lehre in detaillierte Regeln zu konzentrieren; wir werden sie auch nicht mittels Sanktionen stützen können. Es handelt sich nämlich um eine Geisteshaltung, die verbreitet werden muss, nicht um ein Gesetz, das es zu verkünden gilt.

Unsere Pflicht ist darum deutlich: Wir alle werden unaufhörlich dahin wirken, dass diese Geisteshaltung verbreitet werde, wobei wir im vorhinein schon wissen, dass es immer wieder zur Gewaltanwendung kommen wird. Unsere Hoffnung, dies zu erreichen, beruht auf der Erziehung, nicht nur im Sport, sondern auch in der Moral und im Geist. Das ist kein leichter Prozess, besonders unserer Zeit.

Aber was macht denn den Sport so lebendig, so spannend und interessant? Ist es nicht gerade die Tatsache, dass, sobald ein Rekord gebrochen wird, auf diese Weise eine neue Herausforderung entstanden ist?

Ich bin zuversichtlich, dass es immer Sportler und Sportlerinnen geben wird, die sich diesen Herausforderungen stellen werden. Das Jahr 1984 ist der richtige Moment dafür."


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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 7-8 / 14. Februar 2012, S. 21
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Februar 2012