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GESCHICHTE/289: Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte Teil 118 (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 16-17 / 19. April 2011
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

1978/II: Willi Weyer zum Sport im Sinne unserer Verfassung...
Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte (Teil 118)

Eine Serie von Friedrich Mevert


Die ehrenvolle Aufgabe, den Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes der Bundesrepublik als Repräsentant der größten deutschen Organisation im Zweiten Deutschen Fernsehen (ZDF) zu kommentieren, übernahm am 23. Mai 1978 der Präsident des Deutschen Sportbundes. Willi Weyer führte aus diesem Anlass im ZDF aus:

"Heute vor 29 Jahren wurde das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verkündet. Dieses Grundgesetz ist eine Urkunde über die Verpflichtung der staatlichen Organe zur Sicherung der Grundrechte der Bürger unseres Landes. Freiheit des Bürgers heißt nicht Hemmungslosigkeit und Rücksichtslosigkeit anderen gegenüber, die die freiheitliche Gemeinschaft unseres Volkes stärken sollen. Gibt es eine Übereinstimmung unseres Volkes zwischen Verfassung und Verfassungswirklichkeit? Ich möchte diese Übereinstimmung am Beispiel der deutschen Turn- und Sportbewegung vortragen. Lässt die Verfassungswirklichkeit unseren rund 47.000 Sportvereinen mit ihren 15 Millionen Mitgliedern die Freiheit, oder geraten diese Vereine nicht auch ständig in stärkere staatliche Abhängigkeit?

Professor Carlo Schmid hat die Problematik aufgezeigt, als er sagte: 'Der Sport war einmal das Privateste, was man sich vorstellen konnte. Heute hat der Sport die gesellschaftspolitische Aufgabe der Lebenshilfe. Er ist Selbstdarstellung des Einzelnen und Selbsterhaltung der Nation.' Unser Staat kann und darf nicht alles allein leisten. Unser Staat braucht die freien gesellschaftlichen Kräfte und er kann auf die tätige Mithilfe seiner Bürger nicht verzichten. Präsident Kennedy rief dereinst der amerikanischen Jugend zu: 'Fragt nicht immer: Staat, was kannst du für mich tun, sondern Staat, was kann ich für dich tun?'

Es gibt in unserem Volk Millionen Menschen, die nach diesem Prinzip leben, darunter auch mehr als eine Million Menschen in unseren Turn- und Sportvereinen, die freiwillig und ohne jegliche finanzielle Vergütung helfen, wie es karitative Organisationen u. a. auch tun.

Eine der Krankheiten unserer Zeit ist die Bewegungsarmut. 60 Milliarden - so haben Wissenschaftler errechnet - werden jährlich in unserem Staat durch Krankheiten verschwendet, die dadurch entstanden sind, dass wir nicht mehr gehen, nicht mehr laufen, radfahren oder schwimmen oder aber dies zu wenig tun. Wenn nur zehn Prozent dieser Summe, also sechs Milliarden, eingespart werden könnten - wie viele Kinderspielplätze, Turnhallen oder Trimm-Pfade könnten wir bauen, um wirklich 'Sport für alle' zu praktizieren?

Ortega y Gasset, der große spanische Philosoph, hat uns gewarnt: 'Es gibt nur einen bedingungslosen Niedergang - und der besteht im Schwinden der vitalen Kräfte eines Volkes'. Wir leben gottseidank nicht in einer reglementierten Gesellschaft. Unsere Verfassung garantiert uns die Freiheit. Doch wenn wir diese Freiheit behalten wollen, dann müssen wir auch gewillt sein, uns jene Gesundheit zu erhalten, von der auch Tüchtigkeit und Intelligenz des Bürgers abhängen. Gewiss, Gesundheit ist nicht alles, aber ohne Gesundheit ist alles nichts, so lehrte es uns Schopenhauer.

Der Sport hat sich in der Verfassungswirklichkeit an seine veränderte gesellschaftliche Rolle gewöhnt. Der Staat, d. h. Regierung und Parlament, werden sich an einen neuen politischen Partner gewöhnen müssen. Die Partnerschaft gilt verbal in der politischen Aussage, aber viele Aufgaben sind noch zu lösen - Probleme des Schulsports, des Numerus clausus bei Spitzensportlern, oftmals kleinkarierte Steuerpolitik gegenüber Amateurvereinen und vieles mehr. Zwischen verfasstem Recht und der Wirklichkeit klaffen oft Lücken. Aber eines ist sicher: Der Turn- und Sportverein ist ein Glücksfall für unsere Gesellschaft. Er ist nicht nur Ausdruck der in unserem Volk vorhandenen Freiheit; er fördert die Freiheit auch, die ein Volk erringen oder verteidigen will.

Dieses hohe Gut unseres Verfassungsrechts müssen wir täglich in der Verfassungswirklichkeit praktizieren."


... und Weyer zum Boykott durch den Sport

In ihrer Sitzung am 25. Februar 1978 hatte sich die Deutsche Sportkonferenz (DSK) neu formiert, die jetzt nur noch insgesamt 24 Vertreter des Bundes, der Länder, der Kommunen und des Sports umfasste, ihre Bewährungsprobe als wirksames Koordinierungsgremium zwischen Politik und Sport aber erst noch vor sich hatte. Der Vorsitz der DSK wechselte alle zwei Jahre zwischen dem Präsidenten des DSB, dem Bundesminister des Innern und dem Vorsitzenden der Sportministerkonferenz der Länder.

In der DSK-Sitzung am 9. Oktober 1978 in Frankfurt/Main betonte Dr. Willi Weyer in seinem Bericht als DSK-Vorsitzender aus gegebenem Anlass u. a., dass der Sport sich nicht als "Stoßtrupp für politische Zwecke" eigne. Nachfolgend Auszüge aus Weyers damaligen Bericht:

"Alle sollen teilnehmen können, die die Regeln achten, unabhängig von der jeweiligen politischen Lage. Dieses Gebot der Universalität des internationalen Sports und der Integrität der Teilnehmer ist die alleinige Grundlage des internationalen Austausches. Jede andere Formel würde die Fortsetzung der Politik mit den Mitteln des Sports bringen. Es ist dabei unerheblich, ob es sich um den proklamierten Boykott der Fußball-WM 1978 in Argentinien durch einschlägige Aktions-Komitees oder der Olympischen Spiele 1980 in Moskau durch den israelischen Premier Begin - jeweils unter Berufung auf die Menschenrechte - handelt.

Der Kampf um die Menschenrechte wird im übrigen auf einem ganz anderen Feld geführt. Der Sport eignet sich nicht als Stoßtrupp für politische Ziele. Sein Wirken ist begrenzt. Es ist deshalb auch müßig, jetzt aus der Berichterstattung über die Weltmeisterschaften 1978 in Zeilen etwa die Prozente der politischen Sensibilität hierzulande herausrechnen zu wollen.

Man stellt schließlich den Falschen an den Pranger, wenn Sportjournalisten vorgehalten wird, dass sie mehr über Deusers Apotheke als von den argentinischen Verhältnissen berichtet hätten, wenn Sportführern nachgesagt wird, kein politisches Fingerspitzengefühl zu besitzen, oder wenn Sportler als ahnungslose Zeitgenossen karikiert werden.

Solche leichtfertigen Urteile sind eine üble Nachrede. Man sollte sich vielmehr an Bundeskanzler Helmut Schmidt halten, der in seinem Bericht zur Lage der Nation 1975 formulierte: 'Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen, Schießbefehl und Kerker haben ihre Unmenschlichkeit nicht verloren. Es wäre aber eine Illusion zu glauben, mit Protesten hier Abhilfe schaffen zu können. Langfristige politische Prozesse sind dafür vielmehr erforderlich.'

Auf Südafrika, Taiwan, Israel oder Berlin übertragen heißt dieses doch, dass auch der Sport die ungelösten politischen Rätsel, die ebenfalls vor seiner Tür liegen, nicht entschlüsseln kann. Über die Grenze des politisch Machbaren kann auch der Sport nicht hinweg. Wenn es nämlich alle so machen wollten, wie der sozialistische Block vor wenigen Tagen bei den Weltmeisterschaften 1978 der Schützen in Seoul,

- dann müssen wir wegen des Terrors gegen die Meinungsfreiheit etc. nicht zu den Olympischen Spielen 1980 nach Moskau gehen,

- dann müssten wir wegen der Todesschüsse an der deutschen Grenze den innerdeutschen Sportverkehr wieder einstellen,

- dann sollten wir wegen der Verfolgung andersdenkender Menschen die sportliche Entwicklungshilfe weithin aufgeben.

Begegnung und nicht Boykott aber ist das Ziel des Sports! Gerade wir Deutschen wissen aus den Erfahrungen olympischer Ausschlüsse 1920, 1924 und 1948, wie wichtig es ist, noch eine schmale sportliche Brücke zu besitzen, wenn die politischen Grenzen geschlossen sind, um den Weg der Menschen zueinander offen zu halten.

Nur eine Welt der Partnerschaft bietet deshalb die Chance der Verwirklichung der Menschenrechte zur Ausrottung des Terrors von rechts und von links. Die Menschenrechte sind außerdem nicht teilbar, denn die Freiheit von Not ist kein anderes Menschenrecht als die Freiheit von Angst. Zwischen dem sportlichen Wunsch und der politischen Wirklichkeit, dass der Missbrauch des Sports zu politischen Zwecken wohl niemals ganz auszuschließen sein wird, müssen wir leben. Doch diese Auseinandersetzung zwischen den olympischen Prinzipien und der politischen Indoktrination des Sports ist letztlich auch ein Kampf um Menschenrechte. Er ist allerdings nur durch offizielles Stillschweigen der Probleme zu bestehen.

In diesem Sinne ist die vom DSB vertretene Konzeption internationaler Sportpolitik an der freiheitlich-demokratischen Grundordnung unseres Staates und an der Tatsache orientiert, dass der internationale Sportverkehr kein staatliches Instrument ist und auch nicht werden darf. Dieses Prinzip der offenen und freiwilligen Teilnahme hat sich in diesem Jahrhundert bewährt. Es gibt deshalb keinen Grund dafür, es zu ändern. Unbestritten, es ist auch ein politisches Prinzip, das wir hier vertreten: für Freiheit und Freiwilligkeit und gegen jede Form von staatlichem Dirigismus oder ideologischer Ausrichtung. Wir wollen miteinander Sport treiben, weltweit! Aber warum sollen dabei denn Marx und Mao, General Videla oder Generalsekretär Breschnew gleich mitlaufen müssen? Es geht auch ohne sie!"


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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 16-17 / 19. April 2011, S. 25
Der Artikel- und Informationsdienst des
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. April 2011