Schattenblick →INFOPOOL →SPORT → FAKTEN

GESCHICHTE/265: Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte Teil 98 (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 44 / 2. November 2010
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

1974/I: Bundeskanzler Willy Brandt übergibt SPD-Leitsätze zum Sport
Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte (Teil 98)

Eine Serie von Friedrich Mevert


"Wir haben uns - zugleich mit der Förderung des Spitzensports - um die wichtigen sportlichen Aufgaben in den Bereichen von Freizeit und Erholung, Schule und Hochschule verstärkt zu kümmern." So fasste Bundeskanzler Willy Brandt bei der Übergabe der neuen SPD-Leitsätze zur Sportförderung im Februar 1974 in Bonn die wesentlichen Inhalte zusammen. Dabei sprach er ein klares Wort zur Ausgewogenheit und Gleichrangigkeit der Förderung aller Teilaspekte des Sports. Willy Brandt gab zu bedenken, dass "im Rahmen des gesamtgesellschaftlichen Geschehens auch die Entwicklung und Aufgabenstellung des Sports nicht problemlos sein können, aber in Verständnis der meisten von uns ist der Sport doch gewiss dort einzuordnen, wo es um Lebensfreude, Erlebnisreichtum und Persönlichkeitsentfaltung geht, um Gesundheit und sinnvolle Gestaltung der Freizeit". Als Vorsitzender der SPD bekannte er, dass sich seine Partei durch ein Sportprogramm in die Pflicht genommen sehe und stellte als einen wesentlichen Grundsatz eine praxisnahe Konzeption heraus, die für die Gesamtbevölkerung möglichst vorteilhaft sein solle.


Kommerzialisierung abgelehnt

Die Übergabe der Leitsätze an DSB-Präsident Dr. Wilhelm Kregel, NOK-Präsident Willi Daume, den Sporthilfevorsitzenden Josef Neckermann und Jan Eilers für die DOG bezeichnete Brandt als mehr als nur eine freundliche Geste. "Für meine Freunde wollte ich damit nachdrücklich unterstreichen, welche Position der Sport aus unserer Sicht heute in der Gesellschaftspolitik einnimmt und wie gern wir unser Angebot an die Sportorganisationen erneuern, die partnerschaftliche Zusammenarbeit auszubauen." Friedel Schirmer, der Vorsitzende des SPD-Sportbeirats, bejahte die sportliche Leistung und Höchstleistung "als einen wesentlichen Teil des sportlichen Angebotes für alle", forderte Chancengleichheit für alle Befähigten, lehnte nachdrücklich die Kommerzialisierung des Sports ab und sprach sich gegen eine unvertretbare kommerzielle Verwertung der Leistung der Athleten aus. Schirmer betonte auch die Rolle der Vereine als Träger des Breiten- und Freizeitsports: "Sie bilden auch die Grundlage des Leistungs- und Spitzensports. Ihnen muss eine besondere Förderung zukommen."


Aus den Leitsätzen der SPD zur Förderung der Vereine und Verbände

"Die im Deutschen Sportbund und seinen Verbänden zusammengeschlossenen rd. 40.000 Sportvereine mit etwa 12 Millionen Mitgliedern erfüllen für die verschiedenen Gruppen und Menschen in unserem Lande eine wichtige gesellschaftspolitische Aufgabe.

Sie übernehmen mit ihrem sportlichen und sozial integrierenden Wirken eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Die dem Gemeinwohl dienenden, sich ausweitenden Bemühungen für den schnell zunehmenden Kreis interessierter Bürger können sie nur mit der Förderung durch Gemeinden, Länder und Bund erfüllen. Es entspricht den Zielen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, dass kommunale und staatliche Stellen die Förderungsmaßnahmen gewähren, ohne in die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Sportorganisationen einzugreifen. Die Würdigung der Gemeinschaften ergibt sich auch aus dem Godesberger Programm: 'Die Verbände, in denen sich Menschen der verschiedenen Gruppen und Schichten zu gemeinsamen Zwecken zusammenschließen, sind notwendige Einrichtungen der modernen Gesellschaft.'

Zeitgemäß geführte Sportvereine sind Träger des Breiten- und Freizeitsports, sie bilden die Grundlage des Leistungssports. Die Fachverbände und Sportbünde im Deutschen Sportbund koordinieren zentrale wie allgemeine Aufgaben und gewährleisten die organisatorische Abwicklung.

Das Streben aller Vereine und Verbände, sich den gesellschaftlichen Veränderungen und den damit verbundenen Zielsetzungen anzupassen und sie mitzugestalten, bedarf der ausgewogenen und gezielten Unterstützung von Staat und Gesellschaft.

Hierfür sind besonders folgende Maßnahmen geeignet:

die Förderung zur qualitativen und quantitativen Ausweitung der vielfältigen Möglichkeiten für den Breiten- und Freizeitsport;
Hilfen für sportliche Angebote an die Bürger in neuen oder sanierten Wohn- und Siedlungsgebieten;
die Förderung der Aus- und Fortbildung der in den Sportorganisationen tätigen Führungskräfte, der Trainer und Übungsleiter, des Verwaltungspersonals und der sonstigen Mitarbeiter sowie die Gewährung von Zuschüssen zum Gehalt der in diesen Funktionen hauptamtlich tätigen Personen;
die Förderung von Talent- und Leistungsgruppen sowie von deren Trägern;
das möglichst miet- und kostenfreie Überlassen öffentlicher Spiel-, Sport- und Erholungsanlagen;
die finanzielle Unterstützung von Sportorganisationen beim Bau und bei der Unterhaltung von Sport- und Spielanlagen, sofern öffentliche Einrichtungen nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung gestellt werden können.


Leistungs- und Spitzensport

Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands bejaht die sportliche Leistung und Höchstleistung als einen wesentlichen Teil des sportlichen Angebots für alle. Sie geht davon aus, dass jeder das Recht auf Ausübung von Leistungs- und Spitzensport hat. Zur Entfaltung aller Talente und Neigungen ist der Sport in das Angebot aller Bildungschancen einzubeziehen. Leistungs- und Spitzensport sind von Gesellschaft und Staat zu fordern. Dafür sind die organisatorischen, fachlichen und personellen Voraussetzungen zu schaffen. Die Mithilfe des Bundes, der Länder und der kommunalen Gebietskörperschaften ist erforderlich.

Diese Forderung hat folgende Voraussetzungen:

Chancengleichheit für alle zum Leistungssport Befähigten und Motivierten,
Schutz des Leistungssportlers vor unvertretbarer Verwertung seiner Leistung durch Wirtschaft, Massenmedien, Organisationen, Staat und Gesellschaft; Aufklärung heranwachsender Leistungssportler über mögliche Risiken durch die Beanspruchung im Leistungs- und Spitzensport;
Vorrang der Selbstbestimmung des Spitzensportlers auch bei der Repräsentation von Staat und Gesellschaft. Der Spitzensport muss sich von nationalistischen und chauvinistischen Tendenzen freihalten.

Der Bund setzt die Förderung der zentralen Maßnahmen fort, die grundsätzlich vom DSB und seinen Fachverbänden durchzuführen sind.

Zur Förderung des Leistungs- und Spitzensports sind
insbesondere folgende Maßnahmen geboten:

1. Verstärkte soziale Hilfen für die Spitzensportler, um das hohe Maß ihrer Beanspruchung auszugleichen und um dadurch Beeinträchtigungen des schulischen oder beruflichen Werdeganges zu vermeiden.

2. Angemessene Berücksichtigung des Leistungssports im Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule, insbesondere durch Bildung von Neigungsgruppen, Leistungsgruppen, Schulsportzentren und ähnlichen Einrichtungen. Für die Talentförderung: ist eine enge Zusammenarbeit von Schule, Vereinen und Verbänden erforderlich.

3. Aus- und Weiterbildung von qualifizierten Trainern mit eigenem Berufsbild. Aus- und Weiterbildung von Übungsleitern für das fachbezogene Leistungstraining.

4. Erarbeitung und Realisierung eines Gesamtplanes für Leistungszentren auf örtlicher, Landes- und Bundesebene mit entsprechender Aufgabengliederung, gesicherter optimaler Nutzung, richtiger Standortwahl, leistungsgerechten Sportstätten und Sportgeräten.

5. Das Bundesinstitut für Sportwissenschaft muss in die Lage versetzt werden, in enger Zusammenarbeit mit den Sportorganisationen und den wissenschaftlichen Einrichtungen der Bundesländer seine Arbeit zu intensivieren. Eine wesentliche Aufgabe des Bundesinstituts muss es sein, die Forschungsförderung zu koordinieren. Aufbau und Auswertung einer Sportdatenbank unter Einbeziehung der Daten-, Literatur- und audiovisuellen Dokumentation sind anzustreben."


Die Antwort des DSB

Einige Monate später antwortete der DSB der SPD in einem Memorandum zu den Leitsätzen für die Sportförderung:

"Der Deutsche Sportbund begrüßt die Ausgewogenheit dieses Versuches, alle Aspekte des Phänomens Sport in einem angemessenen und abgestuften Rahmen darzustellen, wobei er davon ausgeht, dass diese Aussagen ein Teil der Gesellschaftspolitik der SPD sind und auch so den Mitarbeitern der Parteiorganisation dargestellt und von ihnen weiter vertreten werden."

So steht es in einem Memorandum, in dem der Deutsche Sportbund zu den von der SPD verabschiedeten Leitsätzen für die Sportförderung Stellung nimmt. Besonders begrüßt wird, dass die SPD ihre Leitsätze unter die Prinzipien der Eigenverantwortlichkeit, Chancengleichheit und gesellschaftlicher Verpflichtungen stellt. Der Deutsche Sportbund dankt der SPD, dass sie in ihren Leitsätzen

die Bedeutung der freien Sportorganisation für wichtige gesellschaftspolitische Aufgaben unterstreicht,
den Verzicht auf kommunale und staatliche Eingriffe in die Selbständigkeit der Sportorganisationen herausstellt,
die Förderung des Sports durch Gemeinden, Länder und Bund in enger Kooperation fordert,
den Sport als wesentlichen Bildungsfaktor junger Menschen anerkennt,
das elementare Recht des Menschen auf Sport unterstreicht.

In einigen kritischen Anmerkungen stellt der Deutsche Sportbund aber auch fest, dass bei der Trennung zwischen der Forderung der Vereine und Verbände sowie der Forderung des Leistungs- und Spitzensports die neuen Maßnahmen des dezentralisierten Stützpunkttrainings nicht hinreichend berücksichtigt worden seien. Außerdem wird die Einordnung des Bundesinstituts für Sportwissenschaft in das Kapitel Leistungs- und Spitzensport nicht für glücklich gehalten, da dieses. Institut zur Koordinierung der gesamten sportwissenschaftlichen Forschung errichtet worden sei und nicht nur für die weitere Entwicklung des Spitzensports.


*


Quelle:
DOSB-Presse Nr. 44 / 2. November 2010, S. 18
Der Artikel- und Informationsdienst des
Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)
Herausgeber: Deutscher Olympischer Sportbund
Otto-Fleck-Schneise 12, 60528 Frankfurt/M.
Tel. 069/67 00-255
E-Mail: presse@dosb.de
Internet: www.dosb.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. November 2010