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GESCHICHTE/251: Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte Teil 88 (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 31-34 / 3. August 2010
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

1972/I: DSB-Bundestag mit Resolutionen zur Herausforderung des Sports
Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte (Teil 88)

Eine Serie von Friedrich Mevert


"Öffnung auf eine ungewisse Zukunft" betitelte im Olympiajahr der Sportinformationsdienst (sid) seinen Beitrag über den Bundestag des Deutschen Sportbundes am 6./7. Mai 1972 in der Berliner Kongresshalle. Der Verlauf der Mitgliederversammlung mit einer sportpolitischen Grundsatzansprache von Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher zu Beginn machte deutlich, dass die gesellschaftspolitische Herausforderung des Sports im Mittelpunkt der Beratungen stand und dass keineswegs eine olympische Medaillenhysterie die Überlegungen bestimmte. Im Beitrag des Sport-Informations-Dienstes schilderte Hans-Dieter Krebs damals Ablauf und Ergebnisse des DSB-Bundestages wenige Monate vor den Olympischen Spielen von München:

"Nicht allein fröhliche Zuversicht auf Olympia oder entschiedene Geschlossenheit kennzeichneten den DSB-Bundestag in Berlin, sondern auch manche gerechtfertigte Verunsicherung und pauschale Wegweisung. Die Vielfalt der Probleme, die dem deutschen Sport hier und heute auf den Nägeln brennen, standen nur bedingt zur Debatte. Die zwei Tage waren vor allem der Perspektive eines sich mit allen Organisationsformen der Zukunft öffnenden Sports gewidmet. Am Ende fanden sich Resolutionen der Hoffnung und des guten Willens zum Leistungssport, zur Freizeit und zu den sogenannten 'Randgruppen' der Gesellschaft. Allein dieses Übermaß neuer Aufgaben von morgen darf nicht das Auge verschließen, dass konkrete Probleme des Heute - angesprochen in den wesentlichen sportpolitischen Beiträgen von Bundesinnenminister Genscher, DSB-Präsident Dr. Kregel und OK-Präsident Willi Daume - zur Lösung anstehen. Auch der Sport kann in programmatischen Appellen nur eine Weichenstellung sehen, die zur Klärung der Prioritäten führen muss. (...)

Die drei Resolutionen der Arbeitskreise eröffnen dem Sport der Zukunft ein weites Aufgabenfeld. Es kann weder ohne Strukturwandlung im Sport noch ohne vielfältige Zusammenarbeit mit der Gesellschaft angegangen und erfüllt werden. Ein klares Ja zum Leistungssport sprachen die Delegierten aus und anerkannten seine Funktion als Leitweg. Gleichzeitig aber werden im Interesse des Athleten selbst die Voraussetzungen zu schaffen sein, dass der Spitzensport Teil der Gesellschaft ist und vor dem Missbrauch bewahrt wird. In zwölf Punkten schlägt der DSB die wesentlichen Maßnahmen vor, die die Herausforderungen des Sports durch die Freizeit verlangt. Dabei versteht sich der DSB als Anwalt aller am Sport Interessierten. (...)

Der Weg zu einem Sportplan '80 ist noch mühevoll und weit. Die Probleme der Herausforderung des 'Sports für alle' türmen sich auf. In diesem Ergebnis spiegeln sich die Debatten in den drei Arbeitskreisen des DSB-Bundestages in Berlin wider. Dabei wurde die Herausforderung des Sports durch die Leistung (Referent Prof. Dr. Hans Lenk), durch die Freizeit (Prof. Dr. Jürgen Dieckert) und durch Randgruppen der Gesellschaft (Dr. Hermann Rieder) behandelt. Es zeigte sich, dass in vielen Bereichen kaum konkrete Zukunftsaussagen gemacht werden konnten. Die Sicherheit und Geschlossenheit im bundesdeutschen Sport auf dem Weg in die Zukunft muss erst noch erreicht werden. (...)"



Herausforderungen des Sports

Nach den Beratungen in den drei Arbeitskreisen verabschiedete der DSB-Bundestag 1972 folgende drei Resolutionen:

"I. Herausforderung durch die Leistung

Der Spitzensport bietet ein Feld aktiver Selbstdarstellung und -bewährung. Er schafft Leitbilder, die über den Sport hinaus in unsere Gesellschaft hineinwirken. Daher bejaht der Deutsche Sportbund mit seinen Mitgliedsorganisationen den Leistungssport in differenzierten Formen für alle Altersstufen. Er ist sich seiner Verantwortung für den Leistungssportler bewusst und erwartet von der Wissenschaft eine fortlaufende Beobachtung und Durchdringung vorhandener und aufkommender Probleme.

Aus dieser Bejahung folgt, dass die Voraussetzungen des Spitzensports für seine Durchführung, z. B. der Leistungszentren, der Traineraus- und -weiterbildung, der Trainings- und Wettkampfsysteme sowie der pädagogischen, sportmedizinischen und sozialen Betreuung der Aktiven während und nach ihrer aktiven Wetftkampfzeit voll anerkannt werden. Diese Bedingungen sind durch den Sport allein nicht mehr zu erfüllen, sondern sie erfordern die ideelle und materielle Unterstützung der Gesellschaft.


II. Herausforderung durch die Freizeit

Der Deutsche Sportbund nimmt die Herausforderung durch die Freizeit an. Er vertritt die Interessen aller am Sport Interessierten. Seine Aufgaben wachsen weit über den bisherigen Rahmen hinaus. DSB, Verbände und Vereine können sie nur durch Verbesserung und Vermehrung der räumlichen und personellen Voraussetzungen, durch moderne Führungs- und Organisationsstrukturen, durch entsprechende finanzielle Förderung und in Kooperation mit gesellschaftlichen Partnern lösen.

Für diese Ausweitung müssen die bisherigen und bewährten Leistungen und Funktionen des Sports sichergestellt sein. Ein umfassender Plan des Sports muss im Hinblick auf die Herausforderung durch die Freizeit vordringlich folgende Maßnahmen enthalten, begründen und zur Verwirklichung führen:

1. Ermittlung des Sportbedürfnisses in der Bevölkerung

2. Schaffung und Pflege entsprechender Spiel-, Sport- und Freizeitstätten unter Einbeziehung besonderer Anlagen des Freizeit- und Breitensports, Erhaltung und Verbesserung der Möglichkeiten für den Wassersport

3. vermehrte Ausbildung nebenamtlich tätiger Übungsleiter und hauptamtlicher Mitarbeiter und Führungskräfte

4. verstärkte Berücksichtigung des Freizeit- und Breitensports in allen Bildungs- und Ausbildungsbereichen

5. Bildung von Ausschüssen für Freizeit- und Breitensport in Verbänden und Vereinen

6. Bewusstseinsbildung durch Öffentlichkeitsarbeit in allen Formen und Medien

7. Fortführung der Aktion "Trimm dich durch Sport"

8. Beratungsstellen für Freizeit- und Breitensport auf allen Ebenen

9. Gründung neuer Übungsgruppen und -abteilungen mit dem Ziel, in jedem Verein ein Angebot für jung und alt, beide Geschlechter und unterschiedliche Leistungsfähigkeit zu schaffen; besondere Aufmerksamkeit muss alten Menschen und Vorschulkindern gewidmet werden

10. Finanzierung spezifischer Maßnahmen des Freizeit- und Breitensports durch Bund, Länder und Gemeinden

11. Erschließung zusätzlicher Finanzierungsmöglichkeiten; Verwirklichung einer sport- freundlichen Steuergesetzgebung

12. Kooperation mit anderen im Freizeitleben wirkenden Organisationen und Einrichtungen.


III. Herausforderung durch die "Randgruppen" der Gesellschaft

1. Sport für die "Randgruppen" der Gesellschaft ist ein gesellschaftliches Problem und eine sozialethische Aufgabe. Die soziale Bedeutung des Sports wird in Zukunft wesentlich daran gemessen, inwieweit es ihm gelingt, sportliche Maßnahmen für diese Menschen einzuleiten und verwirklichen zu helfen.

2. Aufmerksamkeit und Verständnis, konkrete Vorstellungen und Pläne sowie ausreichende finanzielle Unterstützung sind notwendige Voraussetzungen für einen gezielteren Einsatz des Sports als Lebenshilfe für sozial benachteiligte Menschen.

3. Alle praktischen Sondermaßnahmen hängen von einigen grundlegenden Bedingungen ab:

3.1. Aufklärung über Gesamtproblemafcik der "Randgruppen"

3.2. gezielte wissenschaftliche Untersuchungen (Kooperation der zuständigen Wissenschaftsbereiche in Verbindung mit der Praxis)

3.3. Einrichtung von Modellversuchen für einzelne Randgruppen zur systematischen Sammlung von Erfahrungen

3.4. Entwicklung spezieller Einrichtungen mit geeigneten Sportanlagen und Sportgeräten

3.5. Herausgabe von Schriften zur Übungsanleitung

4. in die einzelnen Gebiete der Sozialisation und Resozialisierung (physisch Behinderte, emotional Gestörte und Intelligenzbehinderte, sozial benachteiligte Suchtkranke und Straffällige) ist der Sport mit konkreten Maßnahmen zu integrieren, wie sie in der Orientierungshilfe ausgeführt sind

5. von besonderer Bedeutung ist dabei die Ausbildung spezieller Lehrkräfte und deren gezielter Einsatz in eigens zu schaffenden Planstellen

6. um die gegebenen Anregungen und Forderungen verwirklichen zu können, ist es dringend erforderlich, einen umfassenden Stufenplan für diesen wichtigen Bereich des Sports auszuarbeiten. Das Präsidium des DSB wird beauftragt, zu diesem Zweck ad-hoc-Kommissionen zu bilden, an denen zuständige staatliche und gesellschaftliche Institutionen von Anfang an beteiligt werden. Dazu sollten auch internationale Erfahrungen einbezogen und ausgetauscht werden."


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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 31-34 / 3. August 2010, S. 20
Der Artikel- und Informationsdienst des
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veröffentlicht im Schattenblick zum 12. August 2010