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GESCHICHTE/241: Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte Teil 82 (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 25 / 22. Juni 2010
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

1971/II: Genscher: "Wir wollen Partner - keine Zuwendungsempfänger"
Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte (Teil 82)

Eine Serie von Friedrich Mevert


Vor allem das selbstbewusstere Auftreten des Sports gegenüber dem Staat betrachtete Bundesinnenminister Hans-Dietrich Genscher als einen wesentlichen Entwicklungspunkt für den Deutschen Sportbund im vorolympischen Jahr. In einem Interview im April 1971 mit dem Chefredakteur des Sportinformationsdienstes, Alfons Gerz, erklärte der damalige "Sportminister": "Wir wollen Partner, die aus eigenem Recht Ansprüche stellen, und keine Zuwendungsempfänger".
Der Minister äußerte sich in diesem Gespräch u. a. über Grenzen und Chancen der Deutschen Sportkonferenz, zur Frage des staatlichen Einflusses auf den Sport, zur Bundeskonzeption für den Sport in Schule und Hochschule und zur Mitverantwortung für die Durchführung der Fußball-Weltmeisterschaft 1974 "aus dem Gesichtspunkt der gesamtstaatlichen Repräsentation". Besonders bemerkenswert aber war seine Stellungnahme zu Aufgaben und Zukunft der Stiftung Deutsche Sporthilfe, die auch nach 1972 tatkräftig unterstützt werden müsse.



Das damalige Interview im Wortlaut:

FRAGE: "Herr Minister, Sie wünschten sich bei Ihrer Amtsübernahme einen aktionsfähigeren und politisch selbstbewussteren Deutschen Sportbund. Hat die Entwicklung seit dem Mainzer DSB-Bundestag 1970 Ihren Vorstellungen entsprochen?"

MINISTER GENSCHER: "Ich sehe eine solche Entwicklung. Sie zeigt sich zum Beispiel in den Initiativen des DSB im Zusammenhang mit der Bildung der Deutschen Sportkonferenz, im Aktionsprogramm für den Schulsport, das bei den Ländern und der Kultusministerkonferenz eine gute Chance hat, weitgehend verwirklicht zu werden, in den entschiedenen Bemühungen um eine Verbesserung der innerdeutschen sportlichen Beziehungen und um die Verdeutlichung der Einheit des West-Berliner Sports mit dem Sport der Bundesrepublik, vor allem in dem selbstbewussten Auftreten des Sports gegenüber dem Staat, was ich ausdrücklich begrüße. Wir wollen Partner, die aus eigenem Recht Ansprüche stellen, und keine Zuwendungsempfänger."

Koordination schafft Fakten

FRAGE: "In der Deutschen Sportkonferenz sitzen Sport und Politik gemeinsam am Runden Tisch. Gibt es Hindernisse, um zu raschen Ergebnissen zu kommen?"

GENSCHER: "Eigentlich nicht. Im Sport ist gelegentlich Skepsis angeklungen, der Staat könne die Sportkonferenz zur Ausweitung seines Einflusses auf den Sport nutzen. Ich glaube, die bisherige Arbeit der Sportkonferenz hat bereits gezeigt, dass solche Befürchtungen nicht gerechtfertigt sind und dass die staatlichen Vertreter den echten Willen zu einer wirkungsvollen und partnerschaftlichen Zusammenarbeit haben."

FRAGE: "Herr Minister, Sie sind Vorsitzender dieser ersten Deutschen Sportkonferenz. Wo liegt ihre größte Chance?"

GENSCHER: "Die Deutsche Sportkonferenz soll in erster Linie mittel- und langfristige Zukunftskonzeptionen entwickeln. Echte Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern in verfassungsrechtlichem Sinn, wie sie der Bund für den Sportstättenbau angestrebt hatte, kann die Deutsche Sportkonferenz nicht übernehmen. Sie kann Empfehlungen geben, aber keine Entscheidungen treffen. Nach der Geschäftsordnung sollen die Zuständigkeiten der beteiligten Körperschaften und Verbände unberührt bleiben. Sie ist ein Koordinationsgremium. Koordination, die auf einer gemeinsamen, durch Diskussion gewonnenen Grundlage beruht, schafft Fakten. Hier liegt die große Chance der Sportkonferenz."

FRAGE: "Wird die finanzielle Förderung des Leistungssports über die Stiftung Deutsche Sporthilfe nach München 72 zurückgestellt, wenn das direkte Engagement und das damit verbundene Prestige der Politik fehlen?"

GENSCHER: "Ich werde mich dafür einsetzen, dass das Engagement der Politik am Leistungssport nach 1972 weiter anhält. Denn der Leistungssport sollte keineswegs in erster Linie um des nationalen Prestiges willen, sondern wegen seiner Ausstrahlung auf die sportliche Einstellung und Beteiligung der ganzen Bevölkerung unterstützt werden. Die Stiftung Deutsche Sporthilfe muss auch nach 1972 tatkräftig gefördert werden. Denn nur ihre Arbeit gewährleistet eine Lösung der Probleme der Leistungssportler und damit eine positive weitere Entwicklung des Leistungssports. Ich sehe Aufgaben und Zukunft der Deutschen Sporthilfe unabhängig von den Olympischen Spielen in München."

FRAGE: "Freizeit- und Breitensport sind ein wesentlicher Teil der sozialen Vorsorge für den Menschen von morgen. Ermöglicht das Grundgesetz hier eine Ausweitung der Kompetenz des Bundes bis zur Errichtung einer Bundeszentrale für Breitensport?"

GENSCHER: "Die Errichtung einer Bundeszentrale für den Breitensport ist derzeit aus rechtlichen Gründen nicht möglich. Nachdem der Vorschlag des Bundes, den Sportstättenbau zur Gemeinschaftsaufgabe # von Bund und Länder zu machen, nicht die Zustimmung der Länder gefunden hat, dürfte erst recht eine Ausweitung der verfassungsrechtlichen Zuständigkeit des Bundes für den Freizeit- und Breitensport sehr schwierig sein. In den Ausnahmefällen, in denen Maßnahmen des Breitensports über die Förderungsmöglichkeiten der Länder hinausgehen, wie z. B. bei der Trimmaktion und vergleichbaren zentralen Maßnahmen, stellt der Bund schon heute Förderungsmittel zur Verfügung."

FRAGE: "Wird der Bund seine Vorstellungen über den Schulsport in der Bildungsplanung mit entsprechendem Nachdruck vertreten?"

GENSCHER: "Ja. Der Bundesminister für Bildung und Wissenschaft hat bereits eine klare Konzeption zum Schulsport entwikkelt, die eine angemessene Berücksichtigung des Sports in allen Schulstufen und eine zunehmende Differenzierung des Sportunterrichts nach Neigung und Leistung vorsieht. Die Konzeption hat allgemeine Zustimmung gefunden."

FRAGE: "Sehen Sie, Herr Minister, einen Unterschied in der Förderungsmotivation zwischen den Olympischen Spielen 1972 und der Fußball-Weltmeisterschaft 1974?"

GENSCHER: "Die Bundesregierung hat sich entsprechend einem Beschluss des Deutschen Bundestages vom 6. Mai 1970 bereiterklärt, die beteiligten Städte bei den Stadionausbauten für die Fußball-Weltmeisterschaft mit einem Gesamtbetrag bis zu 50 Millionen DM zu unterstützen. Die Stadionausbauten in Berlin und München werden darüber hinaus gesondert vom Bund finanziert. Berlin sogar zu 100 Prozent. Die Fußball-Weltmeisterschaft 1974 ist ein Ereignis von herausragender sportlicher Bedeutung. Der Bund fühlt sich aus dem Gesichtspunkt der gesamtstaatlichen Repräsentanz für die Durchführung mitverantwortlich. Hinsichtlich des Publikumsinteresses ist die WM mit den Olympischen Spielen vergleichbar. Im übrigen besteht jedoch keine vorbehaltlose Vergleichbarkeit; Vergleiche können allenfalls zu Fußball-Welt-Meisterschaften in anderen Ländern gezogen werden (Mexiko 1970: keine staatlichen Zuschüsse für Ausbauten; England 1966: ca. 400.000 Pfund für Ausbaumaßnahmen)."

FRAGE: "Was kann man Ihrer Meinung nach tun, um den Sport in West-Berlin nicht zu einem Fürsorgefall werden zu lassen?"

GENSCHER: "Nach den Beschlüssen des Internationalen Olympischen Komitees vom 8. Oktober 1965 in Madrid und vom 12. Oktober 1968 in Mexiko gehört West-Berlin zum Zuständigkeitsbereich des NOK für Deutschland. Die Beschlüsse gelten formell zwar nur für die Olympischen Spiele, jedoch verfahren nach ihnen auch die Weltfachverbände, die diese natürliche Zuordnung des West-Berliner Sports nie in Frage gestellt haben. Versuche, diese gewachsene Verbindung des Berliner Sports zu missachten oder zu lockern, verstoßen gegen den Geist der internationalen Bestimmungen und Regeln, deren Geltung die andere Seite in anderen Fällen auch für sich in Anspruch nimmt. Berlin ist und wird kein Fürsorgefall. Der DSB und seine Spitzenverbände haben durch ihre in Frankfurt am 13. Januar 1971 gefasste Resolution klargestellt, dass sie weiterhin entschieden für Berlin eintreten werden. Das in der Resolution vereinbarte Verfahren ist meines Erachtens ein aussichtsreicher Weg, die Stellung West-Berlins im Sportverkehr zu stärken. Es wird auch im Sport keine besondere Einheit West-Berlin geben."


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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 25 / 22. Juni 2010, S. 25
Der Artikel- und Informationsdienst des
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juni 2010