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GESCHICHTE/174: Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte Teil 54 (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 44 / 27. Oktober 2009
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

1965/III: "Memorandum zum Stand der schulischen Leibeserziehung" vom DSB an die Kultusminister übergeben
Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte (Teil 54)

Eine Serie von Friedrich Mevert


Das Präsidium des DSB hatte im Jahr 1965 erneut dringenden Anlass, sich mit Qualität und Quantität des Schulsports in der Bundesrepublik zu befassen, und stellte diese Problematik in den Mittelpunkt seiner 55. Sitzung am 25./26. Juni in Hamburg. Am 19. Juli überreichte Willi Daume dann ein mit großer Sorgfalt erarbeitetes "Memorandum zum Stand der schulischen Leibeserziehung" in Stuttgart an den Vorsitzenden der Kultusminsterkonferenz (KMK), Prof. Dr. Wilhelm Hahn. Parallel wurde die gebundene 28-seitige Denkschrift auch den Ministerpräsidenten sowie den Kultus- und Innenministern der Bundesländer, der Bundesregierung, den Parteien sowie den Kirchen und zahlreichen gesellschaftlichen Organisationen übergeben. Bei der Übergabe des Memorandums erklärte Willi Daume damals:

"Die Leibeserziehung an unseren Schulen und Hochschulen liegt im Argen, mehr denn je. Es ist sogar seit der Verkündung der Empfehlungen der Ständigen Konferenz der Kultusminister im Jahre 1956 eine rückläufige Entwicklung im Gange. Der Deutsche Sportbund ist sich seiner Mitverantwortung bewusst. Er darf sich insoweit auch als Beauftragter des Volkes fühlen. Deswegen hat er jetzt den Kultusministern ein Memorandum überreicht.

Um freundliche Durchsicht des Memorandums und Förderung seiner Gedanken darf gebeten werden. Im Interesse der Gesundheit unserer Jugend, der Erhaltung der Volkskraft und auch des Sozialproduktes muss etwas geschehen, wenn ein sich schon abzeichnender nationaler Notstand vermieden werden soll."

Im Memorandum heißt es dann einführend:

"Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland garantiert das Recht auf Bildung und Erziehung für jeden Deutschen. Für die Gewährleistung dieser gesetzlichen Verpflichtung trägt der Staat die Verantwortung. Die Durchführung obliegt zum vorwiegenden Teil den allgemeinbildenden Schulen, den Berufs- und Berufsfachschulen sowie den Hochschulen und Universitäten. Erziehung und Bildung haben als Ausgang und Ziel den Menschen in seiner leibseelischen Einheit. Erziehung vom Leibe her ist daher unentbehrlicher und unauswechselbarer Bestandteil der Gesamterziehung, so wie es die von den Kultusministern der deutschen Länder einstimmig beschlossenen 'Empfehlungen zur Förderung der Leibeserziehung in den Schulen' von 1956 aussagen:

'Die Leibeserziehung gehört zur Gesamterziehung der Jugend; Bildung und Erziehung sind insgesamt in Frage gestellt, wenn sie nicht oder nur unzureichend gepflegt wird.'

Die Kultusminister haben nach vorausgegangenen langen Beratungen nicht nur diese Grundsatzerklärung abgegeben, sondern auch festgelegt, wie dieser Grundsatz in der Schulwirklichkeit durchgesetzt werden soll. Dabei haben sie unterschieden zwischen einem Nah- und einem Fernziel. Das Nahziel, das für den Unterricht in den Schulen 'möglichst schnell verbindlich' zu erreichen ist, wurde wie folgt umrissen:

Im 1. und 2. Grundschuljahr ist die tägliche Bewegungszeit unentbehrlich. Für alle allgemeinbildenden Schulen sind vom 3. Schuljahr an drei Wochenstunden Leibesübungen im Rahmen des geschlossenen Lehrplanes anzustreben. Zusätzlich sind in der Form eines Spielnachmittags oder sportlicher Gemeinschaften zwei Wochenstunden Leibesübungen vorzusehen."

Und im folgenden "Bericht zur Lage" erklärt der DSB:

"Seit der Festlegung dieses Nahziels sind zehn Jahre vergangen. Der Deutsche Sportbund weiß, daß für die Durchsetzung von Richtlinien in die Schulpraxis längere Zeiträume erforderlich sind. Aber auch unter verständnisvoller Berücksichtigung dieser Tatsache erschienen ihm die zweifellos erreichten Fortschritte als unzureichend. Er stellte deshalb eigene Ermittlungen an. Seine anhand von Repräsentativ-Untersuchungen vorgelegten Zahlen über den tatsächlichen Umfang des Unterrichts in den Leibesübungen wurden als einseitig, pessimistisch und teilweise sogar als unzuverlässig angesehen. Daraufhin bat der DSB die Kultusministerkonferenz um eine amtliche Erhebung. Obwohl der für den Abschluß zugesicherte Termin weit überschritten ist und ein Endergebnis noch nicht vorliegt, lassen die Angaben einiger Länder jedoch schon zuverlässige Schlüsse über die tatsächliche Lage zu:

Der Niedersächsische Kultusminister beantwortete am 9.12.1964 eine parlamentarische Anfrage wie folgt: 1. und 2. Schuljahr: Die Forderungen der 'Empfehlungen' erfüllen 3% (!); 36% führen eine regelmäßige, aber nicht tägliche Bewegungszeit durch. 3. - 13. Schuljahr: Im 3. und 4. Schuljahr entsprechen 15% der Volksschulen den 'Empfehlungen', vom 5. - 9. Schuljahr 25%. Die Mittelschulen erfüllen zu 21%, die Gymnasien zu 30% die 'Empfehlungen'.

In Baden-Württemberg wurden vom Kultusministerium auf Anforderung des Landtages folgende Ergebnisse bekanntgegeben: Nur in 49,3% der Volks- und Mittelschulen werden, entsprechend dem Bildungsplan, zwei und drei Stunden Turn- und Sportunterricht gegeben. Die freiwilligen Sportnachmittage fallen zu 90% aus. 28,2% der öffentlichen Höheren Schulen erteilen nicht die im Lehrplan festgelegten zwei Wochenstunden Sportunterricht (wobei anzumerken ist, daß die Lehrpläne nur zwei statt der in den 'Empfehlungen' festgelegten drei Wochenstunden enthalten!) 75% der Gymnasien, Wirtschaftsoberschulen und Höheren Handelsschulen bieten Spiel- und Sportnachmittage nicht einmal an.

Die Ergebnisse im Bundesdurchschnitt werden kaum günstiger kein. Das Nahziel ist von den Kultusministern als Minimum des Verantwortbaren angesehen worden. Wenn man die Ausgangssituation von 1955 mit dem heutigen Stand der Leibeserziehung an den Schulen in bezug auf den zeitlichen Umfang des Sportunterrichtes vergleicht, so kommt man an der alarmierenden Feststellung nicht vorbei, daß das von der Kultusministerkonferenz gesetzte Minimalziel im Laufe von 10 Jahren allenfalls bis zu 25% verwirklicht worden ist. Noch mehreren Generationen der deutschen Jugend wird unter diesen Umständen die Erreichung des Nahziels auch weiterhin versagt bleiben."

Nach den ausführlichen vier folgenden Abschnitten - Politische Frage ersten Ranges, Leibeserziehung nicht austauschbar, Situation an den Hochschulen und Forderungen für die Schulwirklichkeit - heißt es dann in der "Schlussbemerkung" des Memorandums:

"Am 29. April 1955 fand die erste Tagung der Kultusminister mit dem DSB über die Leibeserziehung in der Schule statt; sie führte zu den 'Empfehlungen'.

Am 15.6.1961 fand die zweite Besprechung statt, weil beide Seiten den Eindruck hatten, daß die erzielten Fortschritte unbefriedigend waren. Bei der zweiten Besprechung räumten die Kultusminister freimütig ein, daß ihnen das Anliegen etwas aus den Augen gekommen sei. Es wurde deshalb die Bildung einer gemischten Kommission beschlossen, die baldigst praktische und realisierbare Vorschläge zur Intensivierung der schulischen Leibeserziehung ausarbeiten sollte. Es hat über ein Jahr gedauert, ehe die Kultusministerkonferenz ihre Vertreter benannte. Inzwischen sind weitere drei Jahre vergangen.

Bei aller Würdigung der Vielschichtigkeit der anliegenden Schul- und Hochschulfragen und der dadurch verursachten Belastung der Kultusminister, ist der Deutsche Sportbund dennoch der Auffassung, daß der schulischen Leibeserziehung immer noch nicht die notwendige Aufmerksamkeit gewidmet wird und daß die Lösung dieses brennenden Problems eines anhaltenden Notstandes der Leibeserziehung entschlossener und energischer als bisher in Angriff genommen werden muß. Es steht einfach zuviel auf dem Spiel! Auch der DSB trägt in dieser Sache vor der Öffentlichkeit eine Verantwortung, der er sich nicht entziehen kann und wird; er ist bereit, jeden ihm nur möglichen Beitrag zur Bewältigung dieser für die Zukunft des Volkes vielleicht schicksalhaften Aufgabe zu leisten."

Die Kultusministerkonferenz befasste sich dann in ihrer folgenden Sitzung Ende Oktober mit dem Memorandum des DSB. Über die Beratungsergebnisse informierte der Sportinformationsdienst (sid) wie folgt:

"Die 109. Plenarsitzung der Ständigen Konferenz der Kultusminister am 28./29. Oktober 1965 im Hildesheimer Rathaus beschäftigte sich mit dem Memorandum des Deutschen Sportbundes zum Stand der schulischen Leibeserziehung. Die Konferenz sprach sich grundsätzlich für die Förderung der Leibeserziehung in den Schulen aus und stellte fest, daß die Leibeserziehung zur Gesamterziehung der Jugend gehört. Bildung und Erziehung seien jedoch insgesamt in Frage gestellt, wenn sie nicht oder nur unzureichend gepflegt werden. Es wurde darauf hingewiesen, daß die Schwierigkeiten zur Verwirklichung der Forderung des DSB vor allem im Mangel an geeigneten Lehrern für die Leibeserziehung und in der unbefriedigenden Stellung des Faches Leibeserziehung an den Universitäten und Pädagogischen Hochschulen liegen. Festgestellt wurde auch, daß der geplante Ausbau der Sport- und Übungsstätten zunehmend durch finanzielle Schwierigkeiten verlangsamt wird.

Die Ständige Konferenz faßte folgende Beschlüsse:

1. Die Kultusminister-Konferenz bildet eine Kontaktkommission, die die Verbindung mit dem Deutschen Sportbund aufrechterhalten und vertiefen soll. Die Kontaktkommission soll mit dem DSB über konkrete Maßnahmen zur Verbesserung der Leibeserziehung in den Schulen beraten und entsprechende Vorschläge der Kultusminister-Konferenz vorlegen. Die Kontaktkommission setzt sich zusammen aus Senator Evers (Berlin), Kultusminister von Heydebreck (Schleswig-Holstein), Staatssekretär Lauerbach (Bayern) und Ministerialdirigent Dr. Rönnebeck (Hannover). Die erste Besprechung der Kontaktkommission mit dem DSB ist für Anfang 1966 vorgesehen.

2. Bis dahin werden die Kultusminister der Länder einen Gesamtbericht über den Stand der Leibeserziehung an den Schulen ausarbeiten. Diesen Bericht wird die Kultusminister-Konferenz durch die Kontaktkommission dem DSB zuleiten. Der Bericht soll die Fortschritte aufzeigen, die in Verwirklichung der am 24.9.1956 bekanntgegebenen "Empfehlungen der Kultusminister-Konferenz zur Förderung der Leibeserziehung in den Schulen" erzielt wurden. Ferner soll der Bericht die bisherigen Leistungen und Planungen der Schulträger für den Ausbau der schulischen Übungsstätten ausweisen. Der Bericht soll auch die Unzulänglichkeit darstellen, die auf diesem Gebiet noch besteht, und ihre Ursachen aufdecken, um dadurch Unterlagen für die weiteren Beratungen und Beschlüsse über die wirksame Behebung dieser Mängel bereitzustellen."

Der Hauptausschuß des DSB hat am 29. Oktober 1965 an Kultusminister Prof. Wilhelm Hahn (Stuttgart), den Vorsitzenden der Ständigen Konferenz der Kultusminister, folgendes Telegramm gesandt: "Der in Köln tagende Hauptausschuß des Deutschen Sportbundes hat dankbar die Stellungnahme der Kultusminister in Hildesheim zur Situation der Leibeserziehung an Schule und Hochschule sowie die Beschlüsse mit Befriedigung zur Kenntnis genommen. Er sieht darin einen weiteren Schritt vorwärts auf dem Wege, der Leibeserziehung den ihr zukommenden Rang im Rahmen der Gesamterziehung zu sichern. Der Deutsche Sportbund ist zu einer Fortführung der vertrauensvollen Zusammenarbeit bereit und erhofft davon ein fruchtbares Resultat im Sinne der gemeinsamen Bestrebungen."


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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 44 / 27. Oktober 2009, S. -32
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. November 2009