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GESCHICHTE/123: Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte Teil 27 (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 13 / 24. März 2009
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

1958/I: "Offene Briefe" zwischen Berlin-Ost und Dortmund
Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte (Teil 27)

Eine Serie von Friedrich Mevert


Für den Deutschen Sportbund stand das Jahr 1958 unter dem Motto, den Sport noch mehr als Gegenraum zur modernen Zivilisation und zur technisierten Arbeitswelt zu entwickeln. Doch im Februar hatte sich das DSB-Präsidium zunächst mit einem "Offenen Brief" des DTSB der DDR vom 8.2.1958 zu befassen, in dem DTSB-Präsident Rudi Reichert dazu aufrief, über gemeinsame Aktionen zu beraten, die "die Forderung auf Durchführung eines Volksentscheides in beiden deutschen Staaten über die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Europa unterstützen". Die Ereignisse der letzten Wochen - so Reichert - hätten klar gezeigt, "daß auf deutschem Boden ein Atomkrieg vorbereitet wird". DSB-Präsident Willi Daume wies mit einem ebenso "Offenen Brief" vom 7.3.1958 diesen Vorschlag zurück, da die Bundesrepublik kein totalitärer Staat sei, in den "selbst die Sportverbände ihre Mitglieder noch politisch schulen und zu politischen Fragen Stellung nehmen, wie Sie es tun". Daume nannte stattdessen eine Vielzahl von Fragen sportlicher Natur, über die beide Sportorganisationen in eigener Zuständigkeit besser miteinander verhandeln sollten, um damit auch "der Wiedervereinigung in aller Stille dienen zu können". Dazu bot der DSB-Präsident ausdrückliche Verhandlungsbereitschaft an.


Die beiden Briefe sind nachfolgend im Wortlaut wiedergegeben:

"Deutscher Turn- und Sportbund
Berlin, den 8.2.1958

Offener Brief!
An den Deutschen Sportbund und alle Sportlerinnen und Sportler in der Deutschen Bundesrepublik!

In einer ernsten Stunde der Gefahr für unser deutsches Volk und für die Völker in Europa, wendet sich das Präsidium des DTSB im Namen seiner Sportlerinnen und Sportler an Sie, das Präsidium des Deutschen Sportbundes und an alle Sportlerinnen und Sportler in der Deutschen Bundesrepublik.

Die Ereignisse der letzten Woche haben allen deutschen Menschen klar gezeigt, daß auf deutschem Boden ein Atomkrieg vorbereitet wird. Deutschland, und damit auch die Zukunft des deutschen Sportes, ist in Gefahr. Amerikanische Atomraketen in der Bundesrepublik bedrohen Europa, bedrohen unsere Heimat, unsere Sportplätze, Klubhäuser, Schwimmhallen und Stadien. Sie bedeuten im Falle eines Krieges den Atomtod für Millionen Menschen.

Wieviel Sportler sind im letzten Weltkrieg durch die Schuld der deutschen Imperialisten umgekommen. Wieviel würden aber in einem Atomkrieg zugrunde gehen. Gesundheit und Leben von Millionen sind bedroht.

Wir wollen aber keinen Atomtod. Deshalb treten in Deutschland heute bereits Menschen aus allen Kreisen der Bevölkerung, Angehörige der verschiedensten Weltanschauungen und Konfessionen, für eine atomwaffenfreie Zone in Mitteleuropa ein. Niemand darf in dieser Lebensfrage schweigen; denn ein solches Schweigen läßt sich heute nicht mehr mit "politischer Neutralität" begründen. Immer mehr Bürger stellen sich hinter die Forderung, daß das deutsche Volk entscheiden muß, ob die beiden deutschen Staaten, die Deutsche Bundesrepublik und die Deutsche Demokratische Republik, einer atomwaffenfreien Zone in Europa angehören sollen oder nicht, wie es die Regierung der DDR vorgeschlagen hat. Die Durchführung eines solchen Volksentscheides ist auch im Interesse der deutschen Sportlerinnen und Sportler.

Deshalb wenden wir uns an Sie mit dem Vorschlag, daß die verantwortlichen Leitungen der Sportorganisationen der Deutschen Demokratischen Republik (DTSB) und der Deutschen Bundesrepublik (DSB) zu Verhandlungen zusammenkommen. Als Termin für die gemeinsame Beratung schlagen wir Mitte März 1958 vor.

Wir sollten beraten, wie wir gemeinsam oder auch getrennt Aktionen durchführen, die die Forderung, auf Durchführung eines Volksentscheides in beiden deutschen Staaten über die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone in Europa unterstützen.

Die Millionenzahl sporttreibender Menschen in beiden deutschen Staaten stellt eine Macht dar, die - gemeinsam mit allen, die guten Willens sind - einen solchen Volksentscheid zum Siege verhelfen kann.

Wir, die wir das Leben, die Jugend und den Sport aus vollem Herzen lieben, können in dieser ernsten Stunde für unser deutsches Volk nicht abseits stehen.

Eine atomwaffenfreie Zone in Europa wird ein entscheidender Beitrag zur Entspannung sein und auch uns einen großen Schritt zur Schaffung eines einheitlichen und demokratischen Deutschlands weiter bringen. In Erwartung einer baldigen Antwort verbleibt mit

sportlichen Grüßen

Das Präsidium des DTSB
gez. Reichert - Präsident"


*


"Deutscher Sportbund
Dortmund, den 7. März 1958

Offener Brief! An das Präsidium des Deutschen Turn- und Sportbundes


Sehr geehrte Herren!

Sie haben am 8. Februar einen Offenen Brief an den Deutschen Sportbund gerichtet. Er beginnt mit der Feststellung, daß auf deutschem Boden ein Atomkrieg vorbereitet werde und daß niemand zu dieser Lebensfrage des deutschen Volkes schweigen dürfe, denn ein solches Schweigen ließe sich heute nicht mehr mit politischer Neutralität begründen. Sie schlagen dann vor, daß "die verantwortlichen Leitungen der Sportorganisationen der Deutschen Demokratischen Republik (DTSB) und der Deutschen Bundesrepublik (DSB): zu Verhandlungen zusammenkommen sollten". Beraten werden sollen Aktionen zur Durchführung eines Volksentscheides über eine atomwaffenfreie Zone in Europa. Diese Aktionen würden uns, wie Sie schreiben, "einen entscheidenden Schritt zur Schaffung eines einheitlichen und demokratischen Deutschlands weiter bringen".

Dazu haben wir folgendes zu sagen: In einem totalitären Staat, wo nur eine einzige politische Grundmeinung geduldet wird, mag es vielleicht erforderlich sein, daß selbst die Sportverbände ihre Mitglieder noch politisch schulen und zu politischen Fragen Stellung nehmen, wie Sie es tun. Das ist in Deutschland auch nicht weiter neu, wir erinnern uns dieser Dinge noch aus dem Dritten Reich. In einem wirklich demokratischen Staat, wie es die Bundesrepublik ist, ist so etwas aber weder erforderlich noch möglich.

Es ist nicht erforderlich, weil jeder Sportler als Staatsbürger in den verschiedenen politischen Parteien und in einer ganzen Reihe von anderen, vom Staat völlig unabhängigen Organisationen frei seine Meinung sagen und diese Meinung in freien Wahlen auch durchsetzen kann. Eine politische Willensäußerung ist aber auch gar nicht möglich, weil die Mitglieder unserer Verbände und Vereine durchaus unterschiedlicher politischer Auffassung sind, sich also eine Stellungnahme in einer bestimmten politischen Richtung nicht gefallen lassen würden.

Die Frage einer atomwaffenfreien Zone ist nun unbezweifelbar eine politische. Sie wird auch in der Bundesrepublik sehr lebhaft diskutiert, wobei es darum geht, ob sie die Atomgefahr wirklich aus der Welt schafft. Täte sie es, so würden sich alle vernünftigen Menschen schnell und einhellig "dafür" erklären. In Wirklichkeit gehört aber eine große Menge politischer Fähigkeiten und Voraussicht dazu, abzuwägen, ob die Gefahr eines Atomkrieges oder überhaupt eines Krieges durch die Schaffung einer atomwaffenfreien Zone vermindert oder vermehrt wird. Nun, vielleicht ist jener Plan ein erster Schritt auf dem Wege zu dem Frieden dienenden Vereinbarungen zwischen den Großmächten; es wird ja auch schon von einer neuen Gipfelkonferenz gesprochen. Einem Sportverband aber fehlt unseres Erachtens doch zu allem anderen auch das erforderliche Sachverständnis, um in einer solch schwierigen politischen und militärischen Frage eine zutreffende Ansicht proklamieren zu können.

Wir sind daher außerstande, mit Ihnen über Aktionen zur Schaffung einer atomwaffenfreien Zone zu verhandeln. Aber könnten wir nicht nach dem Grundsatz, daß der Schuster bei seinem Leisten bleiben soll, über einige sportliche Fragen miteinander verhandeln? Über Fragen also, von denen Sportorganisationen nun tatsächlich etwas verstehen und die uns der Niederlegung der Schranken, die zwischen beiden Teilen Deutschlands aufgerichtet sind, auch einen guten Schritt näherbringen würden.

Eine solche Frage wäre zum Beispiel der früher von Ihnen so propagierte gesamtdeutsche Sportverkehr. Warum sollen sich unsere Mannschaften und die Sportler von hüben und drüben nicht ungehindert und so oft wie möglich treffen? Wir möchten das gern und tun alles, was wir können, solche Begegnungen zu ermöglichen. Warum schränken Sie diese Begegnungen, vor allem auch für Berliner Sportler, durch laufende Verbote mit grotesken Begründungen, an die Sie selbst nicht glauben, fast völlig ein? Dient das der Wiedervereinigung? Und ist das der Wunsch Ihrer Sportler?

Oder könnten wir uns nicht einmal grundsätzlich über das Problem gesamtdeutscher Mannschaften und Meisterschaften unterhalten? Wir müssen es sogar, denn in einer Reihe von Fällen binden uns ja internationale Entscheidungen, mit einer gesamtdeutschen Mannschaft zu starten. Finden Sie es nicht beschämend, daß Sie dies Ihren Aktiven nur erlauben, wenn eine internationale Organisation es zwingend vorschreibt? Und in Oberhof haben sogar Ihre höchsten politischen Vertreter die Parole ausgegeben, "daß man es den friedliebenden Sportlern der DDR nicht mehr zumuten könne, gemeinsam mit uns, den Vertretern eines Staates, dessen Regierung ausgesprochen aggressive Absichten habe, aufzutreten".

Sollten wir nicht einmal gemeinsam überlegen, was für den Sport dabei herauskäme, wenn Sportmannschaften als Vertreter ihrer jeweiligen Regierungen angesehen würden und zu Begegnungen nur dann bereit wären, wenn jeweils die politischen Ansichten übereinstimmen? Soll der Sport denn nicht mehr eine Brücke der menschlichen Begegnung sein, über alle politischen Trennungslinien hinweg? Oder soll das nicht einmal mehr innerhalb eines gemeinsamen Vaterlandes so sein?

Und heißt dieses Vaterland nicht Deutschland? Warum schämen Sie sich dieses Begriffs, zum Beispiel jetzt bei den Weltmeisterschaften im Hallenhandball? Sie sagen, Ihre Regierung hätte das Verbot zur Führung des Namens Deutschland ausgesprochen. Warum widersprechen Sie nicht in solchem Falle mal Ihrer Regierung, sei es auch nur mit der Begründung, nicht, wie geschehen, auch noch internationales Ärgernis mit einer so beschämenden Maßnahme provozieren zu wollen? Finden Sie es nicht widersinnig, daß Sie mit uns über die politische Zukunft Deutschlands beraten sollen, wenn Sie nicht einmal den Namen gebrauchen dürfen?

Schließlich sollten wir auch noch über den von Ihnen geprägten Tatbestand der sogenannten "Republikflucht" reden. In den Sportmannschaften der Bundesrepublik befinden sich viele tausend Ausländer. Umgekehrt betätigen sich viele tausend junge Deutsche in Europa und Übersee in ausländischen Sportmannschaften. Dieser ungezwungene und ungelenkte Sportaustausch dient in besonders starkem Maße dem gegenseitigen Kennenlernen und der Verständigung unter den Völkern. Wir legen Sportlern, die in den anderen Teil Deutschlands wollen, bekanntlich nichts in den Weg. Warum sollen sie, wenn sie es wollen, den Sport und das Leben drüben bei Ihnen nicht einmal kennenlernen? Warum kann es aber nicht auch umgekehrt so sein? Warum brandmarken Sie junge deutsche Sportler, die vielleicht ein Jahr oder zwei oder auch für immer in dem anderen Teil Deutschlands Sport treiben wollen, als Verräter und drohen ihnen Gefängnisstrafen an? Warum soll das, was international gang und gäbe ist, innerhalb des zweigeteilten Deutschlands ein Verbrechen sein?

Es gibt noch eine ganze Reihe weiterer Fragen, durch deren einverträgliche Lösung wir als Turner und Sportler in eigener Zuständigkeit und ohne die Politiker zu bemühen der Wiedervereinigung unseres Vaterlandes in aller Stille dienen könnten. Zu Verhandlungen über solche Fragen - möglichst ohne das Vokabularium des "Deutschen Sport-Echos" - fühlen wir uns genügend sachkundig und legitimiert. Wir bieten Ihnen diese Verhandlungen hiermit an.

Mit sportlichem Gruße
Deutscher Sportbund gez. Daume"


*


Quelle:
DOSB-Presse Nr. 14 / 31. März 2009, S. 41
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Mai 2009