Schattenblick →INFOPOOL →SPORT → FAKTEN

GESCHICHTE/120: Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte Teil 23 (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 10 / 3. März 2009
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

1956/IV: "Kaiserauer Beschlüsse" der Deutschen Sportjugend
Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte (Teil 23)

Eine Serie von Friedrich Mevert


Die "Kaiserauer Beschlüsse" vom November 1956 waren sechs Jahre nach der Gründung der DSJ ein historisch ganz bedeutsames Ereignis in der Entwicklung der sportlichen Jugendarbeit in der Nachkriegszeit und gleichzeitig ein Zeitdokument für das eigene Selbstverständnis von sportlicher Jugendarbeit im Gesamtbereich des DSB. Unter dem Motto "Reform des Sports - eine Aufgabe der Jugend" war von der DSJ bei ihrer 8. Vollversammlung in der westfälischen Sportschule Kaiserau die Frage nach dem inneren Wert der sportlichen Jugendarbeit, ihrer erzieherischen Bedeutung und ihrer Stellung innerhalb der Sportorganisation wie in der Gesellschaft überhaupt eingehend in Arbeitskreisen und im Plenum beraten worden. Die Ergebnisse dieser Beratungen waren in den folgenden Monaten und Jahren als "Kaiserauer Beschlüsse" Ausgangspunkt von wichtigen Reformen in der deutschen Turn- und Sportbewegung wie z. B. dem "Zweiten Weg" des deutschen Sports.


Die kurz und prägnant formulierten "Kaiserauer Beschlüsse" hatten folgenden Wortlaut:

"Die Jugendleiterinnen und Jugendleiter aller deutschen Landessportbünde und Spitzenverbände der deutschen Turn- und Sportbewegung, die zur 8. Vollversammlung der Deutschen Sportjugend in der Sportschule Kaiserau versammelt sind, stellen einmütig fest:

Der Sport in unserer Zeit zeigt Erscheinungsformen, die unseren Vorstellungen von der Leibeserziehung nicht entsprechen. Seine Zielsetzung richtet sich häufig nach Äußerlichkeiten. Er bedarf daher der Reform. Für uns Jugendleiter muß der junge Mensch im Mittelpunkt aller Bestrebungen stehen. Nur wenn Turnen und Sport im Sinne erzieherischer Leibesübung betrieben werden, können sie ihre Aufgabe innerhalb der Erziehung zur Persönlichkeit erfüllen.

Die Vollversammlung bittet die Verantwortlichen der Spitzenverbände, in ihrem Bereich folgende Punkte vordringlich zu prüfen:

Die Häufigkeit der Wettkämpfe,
die sportärztliche Betreuung,
die Gestaltung der Übungsstunden.

Kaiserau, den 4. November 1956"


Die Verwirklichung der Ergebnisse dieser Beratungen, die in entsprechenden Protokollen über die vier Referate und Arbeitskreisberatungen festgehalten worden waren, bildeten den Schwerpunkt in der Tätigkeit des Arbeitsausschusses (Vorstandes) der DSJ im folgenden Jahr, insbesondere bei seiner Sitzung am 11. Mai 1957 in Landau/Pfalz. Im Protokoll dieser Sitzung hieß es (auszugsweise): "Das Ergebnis der Kaiserauer Vollversammlung führte zu der Überzeugung, dass die angeschnittenen Fragen und Probleme weder den Jugendraum allein berühren, noch separat in ihm gelöst werden können. Außerdem sind nach Kaiserau aufgrund der dort gehaltenen Referate und stattgefundenen Diskussionen vielfach Missverständnisse aufgetreten bezüglich der Beurteilung und Einordnung des Wettkampfsportes und Leistungsstrebens.

Die führenden Kräfte der Deutschen Sportjugend sind weit davon entfernt, sowohl Wettkampf als auch Leistungsstreben als zentrales Mittel pädagogischer Leibesübungen und als permanenten Motor der Turn- und Sportbewegung zu verkennen. Sie anerkennen weiterhin, dass für bestimmte Teile auch der jugendlichen Mitgliedschaft der auf fast allen Gebieten der sportlichen Arbeit vorherrschende Zustand das Gewünschte und Gegebene ist. Sie sind jedoch der Auffassung, dass das heutige System in unseren Vereinen, das im wesentlichen von den Notwendigkeiten des organisierten und zum Teil schematisierten Wettkampfbetriebes bestimmt wird, nicht ausreichend ist, um der gegenwärtigen und der zu erwartenden gesellschaftlichen Gesamtsituation und den Anforderungen gerecht zu werden, die an die Organisation der Leibesübungen gestellt werden müssen, wenn sie ihrer Aufgabe als Kulturfaktor gerecht werden will.

Sie glauben vielmehr, dass zur Erfüllung dieser Aufgaben innerhalb der Gemeinschaften der Vereine Neues geschaffen oder Bestehendes erweitert werden muss, damit auch solchen Menschen - Jugendlichen wie Erwachsenen - Raum zur Betätigung in den Leibesübungen geschaffen wird, die aus Neigung oder Veranlagung, zeitlicher Gebundenheit oder anderen Gründen nicht willens oder in der Lage sind, diese ihre Leibesübungen von den Notwendigkeiten des organisierten Wettkampfbetriebes bestimmen zu lassen. Die Führungskräfte der Deutschen Sportjugend gehen bei diesen ihren Überlegungen primär von pädagogischen Gesichtspunkten aus. Sie glauben nicht, dass dem oft proklamierten Tatbestand der körperlichen Überforderung die Bedeutung zukommt, die ihr in der öffentlichen Meinung - beeinflusst durch diesbezügliche und zu unrecht verallgemeinerte Publikationen und zum Teil auch durch die Aktivität der Sportärzteschaft - beigemessen wird.

Sie sind jedoch der Auffassung, dass die Beschränkung der persönlichen Entfaltungsmöglichkeit, die auf dem beruflichen Sektor durch die ständig weiterfortschreitende Vertechnisierung und den Perfektionismus der Arbeitsprozesse platzgegriffen hat, nicht noch zusätzlich in der Freizeit durch einen ebenfalls perfektionierten Wettkampfbetrieb solchen Menschen aufgezwungen werden darf, die die Möglichkeit freudvoller Betätigung bei Spiel und Sport suchen.

Sie glauben, festgestellt zu haben, dass das Fehlen eines Raumes in unseren Vereinen, in denen die spielerische, freiere Form der Leibesübungen herrscht, wertvolle Kreise unseres Volkes davon abhält, sich unseren Gemeinschaften anzuschließen. Auf eine kurze Formel gebracht muss also gefordert werden, in Zukunft einer in obigem Sinne wohl verstandenen Breitenarbeit die gleiche Beachtung und Förderung zukommen zu lassen, wie sie dem Wettkampfbetrieb mit dem Zwecke der Erreichung der maximalen Leistung gewährt wird. Das gilt vor allem auch hinsichtlich des Einsatzes der finanziellen Mittel."

Bereits am 30. Mai trafen sich dann das Präsidium des DSB und der Arbeitsausschuss der DSJ zu einer eingehenden Beratung der Problematik. Darüber wurde folgendes Ergebnis verlautbart: "Nach einem Vortrag des Vorsitzenden der Sportjugend, Prof. Zimmermann, und einer gründlichen und fruchtbaren Aussprache mit Vertretern der Sportjugend, traf das Präsidium folgende Entscheidung: Das Präsidium stimmt der Auffassung der Sportjugend zu, dass neben dem Leistungssport und Wettkampfverkehr in gleichem Maße die Möglichkeit freier und spielerischer Betätigung in der Leibesübung geboten werden muss. Das Präsidium wird in diesem Sinn auf seine Mitgliedsverbände und deren Vereine einwirken."

Diese Einwirkung erfolgte in Form eines Arbeitsauftrages an den Sportbeirat des DSB, dem "ungewöhnlich förderlichen und ideenreichen Instrument des DSB", wie Guido von Mengden ihn bezeichnete. Seine Mitglieder sollten sich mit dieser so grundsätzlichen Veränderung von Sport auseinandersetzen und dann möglicherweise Maßnahmen und Beschlüsse vorbereiten. Der Grundstein für den später so erfolgreichen "Zweiten Weg des deutschen Sports" war damit durch die "Kaiserauer Beschlüsse" der DSJ gelegt worden.


*


Quelle:
DOSB-Presse Nr. 10 / 3. März 2009, S. 33
Der Artikel- und Informationsdienst des
Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)
Herausgeber: Deutscher Olympischer Sportbund
Otto-Fleck-Schneise 12, 60528 Frankfurt/M.
Tel. 069/67 00-255
E-Mail: presse@dosb.de
Internet: www.dosb.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. März 2009