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GESCHICHTE/116: Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte - Teil 20 (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 7 / 10. Februar 2009
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

1956/I: Darf der Sport eigentlich politisch neutral sein?
Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte (Teil 20)

Eine Serie von Friedrich Mevert


Darf es im Sport politische Neutralität geben? Muß nicht zwischen parteipolitischer und allgemein-politischer Neutralität unterschieden werden? Sollen sich führende Mitarbeiter in Sportorganisationen gleichzeitig auch parteipolitisch engagieren? Können sie dann sportpolitisch neutral mitwirken auch bei Entscheidungen, die mit den Auffassungen ihrer Parteien nicht in Einklang stehen? Das waren Fragen, die in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts immer wieder in die Diskussion gerieten und zu heißen Debatten führten - von der Bundesspitze bis auf die Vereinsebene hinab.

In einem Aufsatz für die Mitteilungsblätter der Fachverbände und der Landessportbünde nahm im Juni des Olympiajahres 1956 Regierungsdirektor Dr. Hanns-Heinrich Sievert dazu in differenzierter Form Stellung. Dr. Sievert war Weltrekordler im Zehnkampf 1933 und 1934 und galt als Favorit für die Olympischen Spiele 1936 in Berlin, wo er dann aber wegen einer Verletzung nicht starten konnte. Mit einer schweren Verletzung aus dem Zweiten Weltkrieg zurückgekehrt, wurde der Jurist und Landwirt aus Eutin nach dem ehrenamtlich in dieser Funktion tätigen Prof. Dr. Carl Diem 1953 zum ersten hauptamtlichen Sportreferenten der Bundesregierung berufen und übte dieses Amt bis 1958 aus, als ihn eine schwere Erkrankung zum Rücktritt zwang. Der Artikel ist nachfolgend im vollen Wortlaut wiedergegeben:

"Ist politische Neutralität im Sport weiter gutzuheißen?

Der deutsche Sport hat immer die Parole der rassischen, konfessionellen und politischen Neutralität befolgt, seine Führung diese Prinzipien stets mit Überzeugung und Nachdruck vertreten und durchgeführt, wenn man von der Zeit des nationalsozialistischen Regimes absieht. Niemand wird auch dem Deutschen Sportbund und seinen Gliederungen den seit seiner Gründung loyal befolgten Grundsatz dieser Neutralität bestreiten wollen.

Wenn ich daher die Frage zur Diskussion stelle, ob die bisherige Praxis politischer Neutralität (nur von ihr soll hier die Rede sein, Rasse und Konfession müssen völlig unantastbar bleiben) gutzuheißen ist und auch fürderhin so wie bisher weiter verfolgt werden sollte, so bin ich mir der vermeintlichen Gefährlichkeit dieses Beginnens durchaus bewußt. Das Eisen, das es hier anzufassen gilt, ist aber gar nicht so heiß, wie viele Kritiker meinen werden. Ich habe nicht die geringste Scheu, mir die Finger daran zu verbrennen. Es ist völlig klar, daß aller Sport seiner Natur nach politisch - das soll einzig und allein heißen parteipolitisch - farblos ist.

Die sportliche Betätigung jeder Art ist das Medium, das Bindemittel, das viele Millionen Menschen aller Altersschichten in der Turn- und Sportbewegung zusammenschließt. Sie alle handeln selbstverständlich ohne jede Politik, wenn sie ihren Sport treiben. Der Sportler lehnt es auch ab, daß es "fürs Vaterland" geschehe, wenn er zu spielen scheine. Nein, er will nur zweckfrei "spielen", in der weitesten Bedeutung des Wortes.

Nun gibt es aber keinen ernst zu nehmenden, vernünftigen Menschen, dessen ganzes Dasein nur vom Sport ausgefüllt sein könnte. Soweit wir solche Menschen kennen, sind es sog. "Sportidioten". Sport soll und kann eben nur eine von vielen Lebensäußerungen des Menschen sein. Nur eine vielseitige menschliche Tätigkeit, die weitere Lebensgebiete erfaßt, kann einen Menschen zur Harmonie entwickeln. Hierin gehört mit Vorrang auch die staatsbürgerliche und politische Betätigung. Sie trägt das Gemeinwesen, in dem wir alle leben, nämlich den Staat und seine Untergliederungen.

Der Sport beklagt sich oft genug über mangelndes Verständnis des Staates und dem Politiker seinen Belangen gegenüber. Der Sport braucht sich aber nicht zu wundern, daß weiteste Kreise politischer Menschen keinen näheren Kontakt zu ihm finden, wenn er es nicht fertigbringt, daß sich seine Sachwalter, Sportführer und Sportler selbst, mehr als bisher, als politisch aktive Staatsbürger betätigen und bewähren.

Es geht darum, daß jetzt sofort etwas geschieht; denn wenn die Turn- und Sportverbände weiterhin in politischer Lethargie wie bisher verharren wollen, so wird man bald um die betrübliche Feststellung nicht herumkommen, daß der an sich richtige und gutgemeinte Satz der parteipolitischen Neutralität der Sportgemeinschaften in der Praxis zu einer traurigen politischen Enthaltsamkeit geführt hat, die nur bedauert werden kann.

Ich möchte deshalb heute dem deutschen Sport als Mahnung zurufen, aufzuwachen und zu bedenken: Politische Neutralität ist nicht gleichzusetzen mit politischer Sterilität!"


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Wie "politisch" der Sport 1956 in der Praxis bereits war, geht aus den folgenden drei Mitteilungen des DSB an seine Mitgliedsorganisationen hervor:

"Förderung des Ost-West-Sportverkehrs

Der Deutsche Sportbund ist jetzt in der Lage, seinen Verbänden bzw. im besonderen deren Vereinen laufend erhebliche Mittel zur Verfügung zu stellen, mit denen eine im gesamtdeutschen Sportverkehr bestehende Finanzierungslücke geschlossen wird.

Unsere Mannschaften sind in der Sowjetzone oft sehr großzügig aufgenommen worden; die Vereine der Bundesrepublik waren dann jedoch nicht in der Lage, gleichwertige Gegeneinladungen auszusprechen. Im Interesse des gesamtdeutschen Sportverkehrs liegt es aber, daß die Begegnungen wechselseitig erfolgen. Es entspricht auch den getroffenen Vereinbarungen, daß bei Vergleichskämpfen, Freundschaftsspielen usw. der Abschluß eines Rückkampfes mit vorgesehen wird.

Unsere Spitzenverbände, die ja die Genehmigungen im Einzelfalle aussprechen, sind erneut freundlichst gebeten, hierauf zu achten. Insbesondere ist jetzt auch ermöglicht, daß der gesamtdeutsche Sportverkehr sich nicht auf die Spitzenmannschaften beschränkt, daß nun vielmehr auch untere Mannschaften und unterklassige, sowie finanziell schwache Vereine die Möglichkeit haben, die so wichtigen menschlichen Kontakte zu den deutschen Menschen jenseits der Zonengrenze zu pflegen.

Von uns aus gesehen und auf der Linie der mit dem Deutschen Sportausschuß der Sowjetzone vereinbarten politischen Neutralität sollten die sportlichen Veranstaltungen ohne jede Propagandaabsicht schlicht und einfach, wie es sportlichem und turnerischem Brauche geziemt, aufgezogen werden. Es ist zu hoffen, daß der gesamtdeutsche Sportverkehr, wobei der Begriff auch auf gemeinsame Lehrgangsarbeit, Teilnahme an Vereinsfesten usw. auszudehnen und überhaupt weit zu fassen ist, durch diese neuen Maßnahmen eine wesentliche Behebung erfährt.

Den Spitzenverbänden gehen in nächster Zeit Merkblätter mit Unterlagen zu, die sie in die Lage versetzen, ihren Vereinen die notwendigen Richtlinien auch über die Höhe der Zuschüsse zu geben. Schon jetzt aber sollten die Vereine die Verbindung zu den Vereinen der Sowjetzone aufnehmen und für die nächsten Monate derartige Begegnungen vorbereiten."


"Einreisegenehmigung für Sportler aus den Ostblockstaaten

Aus gegebener Veranlassung besteht die Notwendigkeit, auf die zwischen dem Bundesministerium des Innern und dem Deutschen Sportbund getroffenen Vereinbarungen wegen Einhaltung der Termine bei Anträgen auf Verteilung von Einreisegenehmigungen für Angehörige der Ostblockstaaten in die Bundesrepublik hinzuweisen.

In letzter Zeit ist es wiederholt vorgekommen, daß die Anträge auf Erteilung der Sichtvermerke erst kurze Zeit vor der beabsichtigten Einreise beim Bundesministerium des Innern eingereicht wurden. Durch den verspäteten Eingang war die Bearbeitung nicht mehr möglich, so daß verschiedene bereits vorbereitete Sporttreffen kurzfristig abgesagt werden mußten, wodurch den beteiligten Vereinen und Verbänden beträchtliche Unkosten entstanden sind.

Um die Erteilung der Sichtvermerke nicht zu gefährden, wird im eigenen Interesse empfohlen, die vereinbarten Fristen auf jeden Fall einzuhalten. Die mit dem Bundesministerium des Innern am 20. Februar 1956 in dieser Frage getroffenen Abmachungen, die für alle Spitzenverbände bindend sind, haben folgenden Wortlaut:

1. Einreise- und Aufenthaltsgenehmigungen von Angehörigen der Ostblockstaaten zur Teilnahme an internationalen Veranstaltungen, insbesondere Länderkämpfen, Europa- und Weltmeisterschaften, oder Veranstaltungen, die der Vorbereitung solcher internationaler Veranstaltungen dienen, werden grundsätzlich erteilt. Dies schließt nicht aus, daß die Einreise- und Aufenthaltserlaubnis versagt werden kann, wenn bezüglich des Aufenthalts einzelner Teilnehmer aus sicherheits- und politischen Gründen Bedenken bestehen.

2. Die Teilnahme von Angehörigen der Ostblockstaaten an Veranstaltungen privater Natur ist von den Sportverbänden nach Möglichkeit einzuschränken. Die Einreiseerlaubnis wird nach Maßgabe des deutschen Interesses von Fall zu Fall erteilt.

Alle Anträge müssen spätestens vier Wochen vor dem Einreisetermin mit Angabe der genauen Personalien beim Bundesministerium des Innern vorliegen. Es wird angestrebt, die Einreichungsfrist für offizielle Veranstaltungen (Länderkämpfe usw.) zu verkürzen. Verhandlungen darüber finden zur Zeit statt. Sobald eine Herabsetzung der Meldefrist erreicht ist, wird sie sofort durch Mitgliederrundschreien bekanntgegeben werden.

Es muß darauf hingewiesen werden, daß bis zu einer Änderung dieser Vereinbarungen Verbände und Vereine damit rechnen müssen, auf ihre Anträge auf Erteilung von Einreisesichtvermerken abschlägig beschieden zu werden, wenn die ordnungsmäßigen Anträge mit allen Unterlagen (Lichtbildern, Vermerke der zuständigen Konsulate) nicht vier Wochen vor der beabsichtigten Einreise beim Bundesministerium des Innern eingereicht sind, selbst wenn im übrigen keinerlei Bedenken gegen die Einreise bestehen sollten."


"Aufnahme von Ausländern in die deutschen Turn- und Sportvereine

Erfreulicherweise ist Deutschland international wieder ein gesuchter Partner im geistig-kulturellen und wirtschaftlichen Erfahrungsaustausch geworden. Zahlreiche ausländische Studenten und Studiengruppen halten sich für längere Zeit in Deutschland auf. Die Zahl der in Deutschland lebenden Ausländer wird vermehrt durch die Angehörigen der ausländischen Dienststellen und der diplomatischen Vertretungen und schließlich auch durch die in Deutschland stationierten Einheiten der alliierten Mächte mit ihren Familien.

Es ist deshalb verständlich, daß sich beim Deutschen Sportbund Anfragen wegen der Aufnahme von Ausländern in die deutschen Turn- und Sportvereine mehren. Es dürfte keinem Zweifel unterliegen, daß die Aufnahme von Angehörigen fremder Nationen wärmstens zu empfehlen ist. Gerade im Sport ist die Pflege internationaler Beziehungen und die Aufnahme unmittelbarer menschlicher Kontakte zur Förderung des gegenseitigen Verständnisses unentbehrlich. Jeder aber, der einmal längere Zeit im Ausland gelebt hat, weiß, wie schwer es ist, diese so wichtigen menschlichen Kontakte herzustellen; er weiß andererseits auch um die Dankbarkeit und die guten und dauernden Freundschaften, die das Ergebnis solcher Kontakte sind.

Es wäre den Turn- und Sportvereinen daher zu empfehlen, nicht nur die sich anmeldenden Ausländer aufzunehmen, sondern von sich aus Verbindungen mit ausländischen Gruppen und mit den hier stationierten Einheiten herzustellen. Die Erfahrungen, die einzelne Vereine bereits gemacht haben, bestätigen, daß die fremden Gäste bald zu den dankbarsten Mitgliedern gehören und oft auch eine Fülle neuer Anregungen gegeben und damit das Vereinsleben bereichert haben. Die völkerverbindende Aufgabe des Sports ist bei Monate dauernden Begegnungen von Mensch zu Mensch im Rahmen der Vereinsfamilie vielleicht noch nachhaltiger als in den großen internationalen Begegnungen."


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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 7 / 10. Februar 2009, S. 30
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veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Februar 2009