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GESCHICHTE/114: Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte - Teil 17 (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 4 / 20. Januar 2009
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

1955/I: Willi Daume beklagt Gesundheitszustand der Jugend und Bundeskanzler Adenauer begrüßt Initiativen des DSB
Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte (Teil 17)

Eine Serie von Friedrich Mevert


DSB-Präsident Willi Daume hatte in seinem Grußwort zum Jahresbeginn 1955 zwar auf die großartigen sportlichen Erfolge Deutschlands im Jahre 1954 hingewiesen, aber gleichzeitig auch auf die Folgen der "ungenügenden leibeserzieherischen Vorsorge für die gesamte deutsche Jugend" aufmerksam gemacht und dieses Problem als Aufgabe "all unserer Organisationen für 1955" in den Vordergrund gestellt.


Das Grußwort zum Jahreswechsel im Wortlaut:

"Es ist wieder soweit, und zur Jahreswende wird wie von so vielen anderen auch von mir eine Rückschau auf das vergangene und ein Ausblick auf das kommende Jahr erwartet. Wir kennen die oft so feierlichen und selbstgefälligen Feststellungen, wie gut man alles gemacht hat und wie wenig alle fehlten. Nun, wollen wir dagegen ruhig auch mal bekennen, daß möglicherweise doch dies oder jenes in unseren Reihen hätte besser sein können. Vielleicht gab es hier und da zuviel Verbands- oder vereinspolitischen Egoismus oder auch Unduldsamkeit, und vielleicht wäre es gelegentlich auch mit etwas mehr Bescheidenheit gegangen. Maßhalten, das sollten wir manchmal noch mehr können und das Wesentliche an unserer Sache und deren Sendung erkennen.

Oft scheint mir, die Welt sei der gewandten Zungen müde. Sie ist zu häufig darauf hereingefallen. Nun hält sie sich lieber an Tatsachen und Zahlen, auch im Sport. Immerhin, viel Erfreuliches ist bei uns während des vergangenen Jahres geschehen. Deutschland gewann die Fußballweltmeisterschaft, errang das Weltchampionat der Springreiter und stellte den Sieger im Europa-Hockeyturnier. Die Leichtathleten gewannen in Bern und Japan Ehre und Erfahrung. Unsere Boxer haben sich wacker in ihren Länderkämpfen geschlagen, die Kanuten bei den Weltmeisterschaften. Und so könnte ein Buchhalter von Erfolgen und Tatsachen noch manche Kolonne positiver Bilanzzahlen ausfüllen. Auch die Tatsache, daß viele ausländische Freunde und manche von unseren Brüdern aus der deutschen Sowjetzone zu uns kamen, wäre hier in Ansatz zu bringen. Alles in allem stünde ein erfreulicher Abschluß unter dem Strich.

Was sich mit Zahlen aber nicht in die Gewinn- und Verlustrechnung eintragen läßt, das ist die gewaltige Summe von Liebe und Idealismus, die die unbekannten Aktiven, die Betreuer unserer 1 1/2 Millionen Jugendlichen und die ehrenamtlichen Helfer überhaupt in den 23.600 deutschen Turn- und Sportvereinen wieder einmal ein ganzes Jahr lang für die Sache der Jugendertüchtigung und Volksgesundung hingegeben haben. Ihnen allen möchte ich weniger den Dank eines DSB-Präsidenten aussprechen als den eines schlichten Staatsbürgers.

Es wird so viel davon geredet und geschrieben, der Opfersinn des deutschen Volkes sei verlorengegangen und der Sport habe sich vergeschäftlicht. Natürlich hat der Sport, der als eine moderne Gesellschaftsfunktion verstanden werden muß, dem "Geist" des Materialismus unserer Zeit auch seinen Tribut zahlen müssen. Aber in welchem Verhältnis steht dieser Teil des Sports zu dem anderen! Es sind Bruchteile eines einzigen Prozents. Und das dürfen wir doch voll Stolz aussprechen, daß es um einiges besser um so manche öffentlichen und privaten Belange stünde, wenn sie vom gleichen Geist der Gemeinnützigkeit getragen würden wie der Sport in seiner Gesamtheit.

Wenn ich in meinem Dank an unsere Mitarbeiter in Stadt und Land den Rahmen des Sportes verlasse und dabei bewußt auch als Staatsbürger spreche, so geschieht das mit dem Wissen, daß die Leistung der Turn- und Sportbewegung für das Volksganze bei uns nicht richtig erkannt, geschweige denn anerkannt ist. Ich habe um so mehr Grund dazu, als sich der Wettlauf zwischen den Zivilisationsschäden und den Maßnahmen zu einer ausreichenden Volkserholung immer mehr zuspitzt.

Ohne eine erheblich größere Unterstützung durch die Öffentlichkeit und durch die öffentliche Hand werden die deutschen Turn- und Sportvereine dieser rapide wachsenden Schäden nicht mehr Herr. Die sportlichen Erfolge nach außen täuschen über die inneren Schwächen unseres Volkskörpers hinweg. Es kann nur noch eine Präge kurzer Zeit sein, daß sich die tatsächliche körperliche Verfassung der deutschen Jugend auch in absinkenden sportlichen Leistungen ausdrückt.

Ich hoffe, nicht mißverstanden zu werden. Dem deutschen Sport liegt nichts an Erfolgen und Resultaten, die nicht organisch aus einem gesunden Volkskörper erwachsen sind. Wir weigern uns entschieden, schlechte Beispiele mit der Triebzucht des Staatsamateurismus oder ähnlicher Verbiegungen auf privater Grundlage in dieser Hinsicht gelten zu lassen oder sie gar nachzuahmen. Wenn wir aber heute klar erkennen müssen, daß unsere sportlichen Leistungen zurückgehen werden, weil das eine notwendige, aber wahrlich nicht die schlimmste Folge der ungenügenden leibeserzieherischen Vorsorge für die ganze deutsche Jugend ist, dann stellen wir damit die deutsche Öffentlichkeit vor ein schwerwiegendes Problem.

Hier liegt die Aufgabe all unserer Organisationen für 1955! Und außer dem Ringen um das öffentliche Bewußtsein werden wir jeden der 365 Tage dazu benutzen, weniger den Beifall der Massen bei sportlichen Erfolgen zu erstreben - ein Beifall nebenbei, der so leicht ins Gegenteil umschlägt! - als vielmehr ein breites Fundament für eine seelisch und körperlich gesunde Generation zu schaffen. Das sind wir dem Geist eines recht verstandenen Sportes ebenso schuldig wie unserer staatsbürgerlichen Gesinnung im Rahmen einer weltweiten Völkerfamilie."

Schon in der 19. Sitzung des DSB-Präsidiums am 8./9. Januar 1955 im Frankfurter Römer hatte Willi Daume den Gesundheitszustand der deutschen Bevölkerung beklagt, der zu erheblicher Sorge Anlass gebe, und auch im ersten Gespräch der DSB-Spitze mit dem Vorstand des Deutschen Gewerkschaftsbundes am 27. Januar in Düsseldorf wurde nach einer Lösung dieses Problems gesucht. Während der DGB zusagte, die Initiative von DSB und DOG für eine bessere Freizeitgestaltung der Jugend und für den Bau von Sportstätten zu unterstützen, wollte er den von den Sportorganisationen vorgetragenen Wunsch nach Einführung der Sommerzeit zunächst prüfen und erst dann dazu Stellung nehmen.

Am 30. März war Willi Daume in Begleitung von Oscar Drees und Herbert Kunze von Bundeskanzler Dr. Konrad Adenauer in Bonn empfangen worden. Dieser sicherte dem DSB nicht nur mündlich seine Unterstützung zu, sondern unterstrich dies auch am 25.4.1955 noch mit einem gesonderten Schreiben an den DSB-Präsidenten, das anschließend zitiert werden soll:

"Sehr geehrter Herr Daume! Bonn, den 25. April 1955 Ihre Ausführungen gelegentlich unserer Besprechung am 30. März und der Inhalt des mir überreichten Memorandums haben mich sehr beschäftigt.

Die Leibeserziehung der Jugend in der Bundesrepublik ist, wie ich glaube, in der Hauptsache aus zwei Gründen in Rückstand geraten; einmal infolge des Krieges und der weitgehenden Zerstörung vieler Übungsstätten, insbesondere der Übungshallen; zum anderen wegen der Überschätzung und mißbräuchlichen Zielsetzung der körperlichen Ertüchtigung der Jugend in der Zeit nach 1933. Trotz des geschehenen Mißbrauchs in der hinter uns liegenden Zeit soll die Leibeserziehung der Jugend nicht länger vernachlässigt werden.

Sie muß im Interesse der heranwachsenden Generation als eine besondere kulturelle, soziale und staatsbürgerliche Aufgabe angesehen werden. Angesichts der sprunghaft steigenden Zivilisationsschäden und der körperlichen und nervlichen Verfassung unserer Jugend verdient eine ausreichende Leibeserziehung der Jugend und eine nachhaltige Sportpflege zur Erhaltung unseres Volkes die Aufmerksamkeit und Förderung aller verantwortlichen Stellen.

Ich begrüße deshalb die vom Deutschen Sportbund ergriffene Initiative zur Intensivierung des Sportstättenbaues im Interesse einer ausreichenden Leibeserziehung der deutschen Jugend und zur Förderung der Volkserholung durch sinnvoll betriebenen Sport. Ich wünsche und hoffe, daß der Deutsche Sportbund als das Selbst-Verwaltungsorgan der deutschen Turn- und Sportverbände bei diesen seinen Bestrebungen überall Unterstützung findet.

Mit freundlichen Grüßen gez. Adenauer"


Sorgfältig vorbereitet seitens des DSB war das erste Treffen mit der Kultusministerkonferenz am 30. April 1955 in Koblenz, bei dem der DSB mit einer Denkschrift nachwies, dass der Schulsport des Jahres 1954 unter den Stand von 1862 zurückgefallen war und Sofortmaßnahmen zur Behebung dieser Misere forderte. Mit exakten Zahlen belegte der DSB die Zivilisationsschäden bei der Jugend und erregte damit auch in den Medien großes Aufsehen. Vier paritätisch besetzte Ausschüsse wurden eingesetzt, um innerhalb von Jahresfrist Empfehlungen zur Förderung der Leibeserziehung an den Schulen zu erarbeiten.

Das Schlußkommuniquè der Koblenzer Konferenz machte deutlich, dass auch die für den Schulsport verantwortlichen Kultusminister einsahen, dass die "bedeutsame Aufgabe" nur durch gemeinsame Anstrengungen erfüllt werden könne. Es lautete:

"In der Sorge um die Gesundheit und Erziehung der Jugend haben sich am 29. April 1955 die Kultusminister der Länder, Vertreter der kommunalen Spitzenverbände und des Deutschen Sportbundes in Koblenz zu einer Arbeitsbesprechung zusammengefunden, um zu prüfen, durch welche Maßnahmen die Voraussetzungen für eine umfassende Leibeserziehung geschaffen werden können.

Die durch Krieg und Kriegsfolgen entstandenen Verhältnisse wurden in gründlicher Aussprache noch einmal festgestellt und auch die unter größten Schwierigkeiten bisher erreichten Erfolge gewürdigt. Dabei wurde allseitig anerkannt, daß sowohl die von der Kultusministerkonferenz gefaßten Beschlüsse über den Turn- und Sportunterricht in den Schulen und über die Ausbildung und Fortbildung der Lehrer als auch die außerordentlichen Leistungen der Städte, Gemeinden und Landkreise auf dem Gebiete des Übungsstättenbaues und die vielfältigen Bemühungen des Deutschen Sportbundes um den Wiederaufbau des Vereinssportes und der privaten Sportstätten gleichermaßen zu dem Erreichten beigetragen haben.

Es herrschte volles Einverständnis nicht nur über die hervorragende gesundheitliche, staatsbürgerliche und kulturelle Bedeutung der Leibeserziehung, sondern auch darüber, daß ihre Pflege bisher trotz vielseitiger und dankenswerter Bemühungen dem allgemeinen Neuaufbau in Deutschland noch nicht genügend gefolgt ist. Das Schwergewicht dieser Aufgabe liegt in den Schulen; zu einer ausreichenden Vermehrung der Leibeserziehung bedarf es der Heranbildung und Gewinnung geeigneter Lehrkräfte und des Baues zahlreicher neuer Übungsstätten.

Die Partner des Koblenzer Gespräches waren sich darüber klar, daß diese bedeutsame Aufgabe nur durch gemeinsame Anstrengungen der Regierungen, der Verwaltungen und der Sportverbände erfüllt werden kann. Sie sind entschlossen, sie in gegenseitigem Vertrauen anzugreifen.

Um diese Aufgaben zu lösen, wurden Arbeitskreise gebildet, die sich mit folgenden Problemen befassen und Lösungsvorschläge erarbeiten sollen. Gewinnung, Ausbildung und Fortbildung geeigneter Lehrkräfte, zeitlicher Umfang des Turn- und Sportunterrichts im Gesamtlehrplan, Möglichkeiten der Förderung des Übungsstättenbaues, Schule und Sportvereine und konkrete Vorschläge sowohl für sofortige Maßnahmen als auch für langfristig zu erreichende Ziele.

Die von der Kultusministerkonferenz, dem kommunalen Spitzenorganisationen und dem Deutschen Sportbund gebilligten Vorschläge dieser Arbeitskreise sollen in einer gemeinsamen Veranstaltung zu einem geeigneten baldigen Zeitpunkt der Öffentlichkeit bekanntgemacht werden."


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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 4 / 20. Januar 2009, S. 30
Der Artikel- und Informationsdienst des
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Februar 2009