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GESCHICHTE/111: Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte - Teil 15 (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 50 / 9. Dezember 2008
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

1954/2: Willi Daume mahnte die Kultusminister und stellte sieben Fragen
Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte (Teil 15)

Eine Serie von Friedrich Mevert


Vor der Deutschen Olympischen Gesellschaft kritisierte DSB-Präsident Willi Daume erneut die katastrophale Situation des Schulsports. Mit Kundgebungen und Entschließungen, die in die Presse kommen, die vielleicht bei einem Kultusminister, wahrscheinlich aber nur bei einem Referenten landen und dann auf die lange Bank geschoben werden, sei der Sache nicht gedient, erklärte Präsident Daume weiter. Er kritisierte ferner die Ängstlichkeit, mit der die Frage der Leibeserziehung in der Schule behandelt wird, oft unter Berufung auf das Grundgesetz und die kulturelle Autonomie der Länder. Er fuhr fort:

"Föderalismus mag eine wunderbare Sache sein, ich weiß es nicht. Immerhin ist aber auch der DSB föderalistisch aufgebaut, und doch spreche ich hier im Namen von über vier Millionen Turnern und Sportlern aus allen Bundesländern, wenn ich die Frage stelle: Schreibt das Grundgesetz etwa irgend etwas über die Fehlerziehung unserer Jugend vor? Geht es in dieser Frage um ein Optieren zwischen Zuständigkeit und Grundgesetz?

Wir sehen es schon eher als eine Option zwischen Bestand und Untergang an, als ein Wagen gegen die Natur der Dinge oder auch gegen die Dinge der Natur, in seinem Effekt letztlich eine plumpe Verletzung des Wahrscheinlichkeitsgesetzes.

Wir sind nicht zuständig für die Kultusminister und diese nicht für uns. Außer bei gelegentlichen Preisüberreichungen, die eigentlich in das Ressort eines Propagandaministers gehörten, haben wir nur wenig Kontakt mit ihnen. Wir sehen ihnen also nicht ins Herz, wir können ihre Beweggründe nicht. Wir sehen nur die Wirkungen ihres Tuns oder - besser gesagt - ihres Unterlassens.

Wohlwollende Worte, die wir ja, wie zitiert, ab und au hören, zählen nicht. Es geht um die Wirkungen; diese aber sind bestürmend, ja, sie sind schlimmer als das. Wir empfinden sie als eine politische Schuld. Dann werden sie also in den Kanzleien sagen: "Es meditiert so mancher in seiner Klause, es sind die Betrachtungen eines Unpolitischen." Unter dem gleichen Titel "Betrachtungen eines Unpolitischen" legt Thomas Mann ein Zeugnis ab, da er wörtlich spricht: "Von einer Art vorausschauendem Selbstekel vor seiner künftigen Mißgestalt."

Ohne das Kind mit dem Bade ausschütten zu wollen, ist nicht zu übersehen, daß einiges geschieht, was wir sorgfältig registrieren, und auch in Kenntnis aller Schwierigkeiten glauben wir doch feststellen zu müssen, daß die heute von fast allen Erziehungsbehörden betriebene Schulpolitik in Hinsicht der Leibeserziehung verfehlt ist, auf Irrtümern und falschen Voraussetzungen beruht, allen wissenschaftlichen, insbesondere den modernen medizinischen Erkenntnissen zuwiderläuft und von keinem Standpunkt aus haltbar ist.

Der Bundestag des DSB wurde gehört, auf der Bundesebene geschieht einiges, z. B. der Aufbau eines Zentralinstitutes für sportmedizinische Forschung. Das ist eine Bundessache. In der Gewissheit, daß auch diese Bundestagung gehört wird, darf ich dann heute einige ganz klare Fragen an die Herren Kultusminister stellen:

1. Bedarf es nicht bei der gestiegenen Bedeutung der Leibesübungen in einem technisierten und von der Vermassung bedrohten Dasein ganz anderer Maßnahmen und vor allem einer Erziehung, die das Gleichgewicht des Menschen gewährleistet?

2. Sind die Mängel des deutschen Erziehungswesens in der Richtung, wie sie im vergangenen Jahr vom Sport aufgezeigt wurden, inzwischen behoben, bzw. ist mit der Behebung begonnen worden?

3. Hat sich die deutsche Unterrichtsverwaltung dafür interessiert, das Problem der Übungsstätten zu lösen?

4. Sind sie auf dem Wege der täglichen Turnstunde vorangekommen?

5. Haben sie der Berufsschuljugend eine körperliche Erziehung zuteil werden lassen?

6. Welche Mittel werden zur Förderung an Schule und in den Vereinen von den Kultusministerien bereitgestellt?

Damit meine ich nicht etwa die Verteilung von Totomitteln, sondern welche echten Staatsmittel sind diesem Problem dienstbar gemacht worden? Und ich wiederhole noch die Frage des wackeren Schwaben Reinhold Maier in einer der letzten Bundestags Sitzungen: "Was muß in unserer Bundesrepublik eigentlich passieren, damit etwas passiert?" - Nun meine letzte und entscheidende Frage:

7. Wer von den deutschen Kultusministern ist bereit, eine Tagung seiner Kollegen, mit uns zusammen herbeizuführen, die zu einer endgültigen Lösung führen kann?

Ich meine nicht eine Sitzung der Referenten, mit denen wir ohnehin einer Meinung sind, oder anderer Ausschüsse, ich meine wirklich die Minister selber, deren Zeit mir nicht zu schade dünkt, neben so erfreulichen, öffentlichen Kundgebungen bei Siegesanlässen auch einmal in eine ernste Beratung über die Rolle des Sports in unserem Leben und die Pflicht der Erziehungsbehörden ihm gegenüber einzutreten?

Wenn schon der deutsche Sport dem Volk gegenüber die Pflicht hat, ihn in ehrenamtlicher Arbeit allgemein nützlich zu entwickeln, dann haben nach meiner Meinung erst recht die beamteten deutschen Erziehungsbehörden die Pflicht, die Grundlage für eine gesunde Leibeserziehung in entsprechender Schulerziehung zu schaffen. Da wir nun einmal Bundesstaat sind und Erziehungsfragen Aufgaben der Länder, erwarten wir von den Kultusministern, daß sie sich persönlich ernstlich und entschlossen Auge in Auge mit uns dieser Aufgabe stellen.

Man muß die Sache ernst nehmen, das Bagatellisieren und das Diplomatisieren und das Gras-drüber-wachsen-lassen, das taugt alles nichts, ersetzt jedenfalls nicht die offene Aussprache. Der Wattebausch, den man zurechtgelegt hat, die Wunde zu übertupfen, genügt auf die Dauer nicht. Was geschehen ist und insbesondere, was zu geschehen hat, muß auch bekanntwerden - "bekannt" nicht in dem Sinn, es bleibe nicht verborgen, sondern von Bekennen her gebildet.

Diese Kundgebung soll nicht schließen, auch ein offenes Wort den Außerhalbstehenden zu sagen, den Dummen, aber auch Weisen, manchmal geradezu Siebenmal-Weisen, die immer wissen wollen, was nun alles in unserer Sache unmoralisch ist, wie es eigentlich sein müßte, wie früher alles besser war und was wir alles tun sollten, und die Jugend hätte keinen Respekt mehr usw.

Gewiß, ernsthafte Stimmen, die wir in dieser Hinsicht oft in eigenen Reihen vernehmen, nehmen wir ernst. Aber letztlich hat gerade unsere Generation gelernt, daß wir nicht in einem Lande Utopia leben, in dem es keine Sorgen gibt, sondern in harter Wirklichkeit. Ich für meinen Teil liebe den Sport so wie er ist. Natürlich hat er Schwächen, viele Schwächen, eine andere Sache wäre vielleicht schon daran zugrunde gegangen, der Sport aber geht nicht zugrunde, im Gegenteil, in aller Welt wächst er immer mehr. Auf jeden Fall habe ich das Gefühl, daß ich an einem wunderbaren und erregenden Experiment beteiligt bin."

Präsident Daume erklärte, daß er diese Spannung, die dem Sport erst die rechte Würze gäbe, liebe und erläuterte am Beispiel eines koreanischen Studenten, daß auch andere so dächten wie er. Weiter sagte er: "Möge aber auch der Sport - der deutsche und der internationale - immer voll lebendiger Spannungen und Erregung bleiben, die ja doch letzten Endes zum Guten anregen. Zwar ist er seiner Natur nach nicht bestimmt zu einem bequemen Platz, für bequeme Leute mit bequemen Köpfen und bequemen Gliedern.

Das ist vielleicht seine höchste erzieherische Aufgabe, daß der Sportsmann sich dann auch auf dem größeren Spielfeld des Lebens als Mann erweisen soll, denn letzten Endes offenbart sich auch in einer Demokratie - gerade in einer Demokratie - das hohe Wesen dieser Welt im Manne und nicht in einem System von Männern. Sie wissen aber - und dies Nachkriegsdeutschland hat es besonders eindringlich gelehrt -, daß unsere Zeit und unser Europa und unsere Welt nicht von liebenswürdigen Nullen aufgebaut werden kann, sondern von harten Männern."

Präsident Daume wandte sich in seinen Schlußworten an die Mitglieder der DOG und dankte ihnen im Namen aller deutschen Turn- und Sportorganisationen für die Unterstützung, die sie "einer guten Sache" angedeihen lassen.


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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 50 / 9. Dezember 2008, S. 33
Der Artikel- und Informationsdienst des
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veröffentlicht im Schattenblick zum 3. Januar 2009