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GESCHICHTE/109: Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte - Teil 14 (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 49 / 2. Dezember 2008
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

1954/1: Standortbestimmung des Sports durch Ortega y Gasset
Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte (Teil 14)

Eine Serie von Friedrich Mevert


Im Reigen der herausragenden Mitgliederversammlungen des Deutschen Sportbundes in den vergangenen Jahrzehnten nahm der 3. DSB-Bundestag am 6. und 7. Februar 1954 im Plenarsaal des Landtagsgebäudes in Düsseldorf einen besonderen Rang ein. War es Präsident Willi Daume doch gelungen, mit dem spanischen Philosophen Ortega y Gasset einen kulturkritischen Beobachter unseres Jahrhunderts zu gewinnen, dessen Ausführungen zur Jugenderziehung und zum Sport auf großen Beifall stießen und noch viele Jahre später immer wieder zitiert wurden. Den damals 70jährigen weltberühmten Gelehrten, der zeit seines Lebens in einer konkreten Welt philosophierte, interessierte der Sport vor allem als ein Mittel der Lebensertüchtigung und der Auslese, der Eigendisziplin und der Lebensbezogenheit.

Für ihn war der Sport "kein Spaß, sondern im Gegenteil eine Anstrengung. Deswegen ist er der Bruder der Arbeit". Es sei jedoch sehr wichtig, einen Unterschied zwischen den beiden Anstrengungen Arbeit und Sport zu machen. Die sportliche Betätigung sei eine ursprüngliche und schöpferische Tätigkeit, die als das beste Beispiel für eine zweckfreie Tätigkeit genannt werden könne. Wenn sich in der letzten Zeit - so Ortega y Gasset damals - der Sport so enorm verbreitet habe, so komme das durch die Entdeckung des Leibes als eines positiven Werkes im menschlichen Leben. Besonders wichtig sei die Wirkung, die die Verbreitung des Sports auf die Jugend gehabt habe. Der Sport habe die Jugend automatisch diszipliniert und das Leben zu leben gelehrt. Deshalb habe sich auch die Kirche mit feinem Sinn entschlossen, den Sport ernst zu nehmen und sich mit ihm zu beschäftigen.

Einige wesentliche Abschnitte des Grasset'schen Düsseldorfer Referats "Über des Lebens sportlich-festlichen Sinn" werden nachfolgend wörtlich zitiert:

"Der Sport ist kein Spaß, sondern im Gegenteil eine Anstrengung. Deswegen ist er der Bruder der Arbeit. Es ist jedoch sehr wichtig, einen Unterschied zwischen diesen beiden Anstrengungsarten Arbeit und Sport au machen. Er zwingt uns, das Phänomen Sport in verschiedenen Stadien der Entwicklung zu betrachten.

Nehmen wir zunächst den Sport als eine menschliche Tätigkeit, sofern sie in die Schicht der rein biologischen Erscheinungen eintaucht. Im 19. Jahrhundert kam eine zweckbetonte Auslegung des Phänomens Leben auf, die bis zu uns herüberwirkt. Danach ist die ursprüngliche Vitalität in der Erfüllung unumgänglicher äußerer Anforderungen zu erblicken. Die moderne biologische Forschung hat diesem wissenschaftlichen Mythos seine Überzeugungskraft genommen. Der neuen Auffassung nach ist das Erfüllen zwingender Anforderungen nur Leben zweiter Ordnung.

Die ursprüngliche Lebensaktivität ist spontan und zweckfrei. Der Darwinismus glaubte, bei gewissen Arten hätten sich in vieltausendjähriger Entwicklung deshalb die Augen herausgebildet, weil der Existenzkampf es diesen Lebewesen notwendig machte, zu sehen. In Wahrheit verhalten sich die Dinge genau umgekehrt. Die mit Augen ausgerüsteten Lebewesen treten unvermittelt auf. Das Auge bildet sich nicht, weil es benötigt wird, sondern weil das Auge sich gebildet hat, kann es als zweckvolles Werkzeug angewandt werden. Alles andere ist widersinnig. Wenn das Auge sich langsam entwickelte, wäre es völlig unnützlich; denn mit einem nicht ganz entwickelten Auge kann man nicht sehen. (...)

Wenn in der letzten Zeit der Sport sich so enorm verbreitet hat, so kommt das durch die Entdeckung des Leibes als eines positiven Werkes im menschlichen Leben. Erst jetzt haben wir gesehen, daß der Leib viel mehr ist als der Ursprung von Ausschweifungen. Er ist der Erzieher und Normgeber für einen anderen, anspruchsvolleren Teil des Lebens, für die Seele und den Geist. Der Leib, weil er materielle Körperlichkeit ist, besitzt viel weniger Möglichkeiten und hält deshalb die Seele im Zaume. Er erlaubt ihr nicht, alle ihre verrückten Phantasien zu verwirklichen. So sind wir zu dem paradoxen Zustand gekommen, daß wir heute den Leib als Gendarm der Seele sehen. Das ist ganz klar bewiesen worden durch die Wirkung, die die Verbreitung des Sports auf die Jugend gehabt hat. Der Sport hat die Jugend automatisch diszipliniert und das Leben zu leben gelehrt. Deswegen hat sich die Kirche mit feinem Sinn entschlossen, den Sport ernst zu nehmen und sich mit ihm zu beschäftigen.

Alles das ist besonders für Deutschland wichtig, für die Erziehung seiner Jugend. Die Erziehung der Jugend zur Disziplin muß die Grundlage sein, die in Deutschland zu schaffen ist. Ich sage euch, ihr Jungen, daß ihr - wenigstens als Möglichkeit - eine der größten Epochen der Geschichte vor euch habt. Ich spreche es ganz offen aus, ich glaube, daß das deutsche Volk dasjenige ist, aus welchem und mit welchem heute die großartigsten Dinge getan werden können. Sie sind das einzige junge Volk Europas, Sie haben das Privileg in Europa, noch nicht vollendet zu sein. Deshalb sollen Sie die Gelegenheit ausnutzen und sich vervollkommnen. Die letzten 30 Jahre haben das deutsche Volk nackt werden lassen. Die Nacktheit aber ist die Tugend des Paradieses, und Paradies bedeutet Anfang. Es wird entscheidend sein, daß Sie erkennen, daß nicht nur äußere Aufgaben des deutschen Volkes vorhanden sind, sondern auch innere Berichtigungen im deutschen Wesen zu tun sind. Der deutsche Mensch hat die großartigsten Motoren. Es mangelt ihm aber an Bremsen. Die Deutschen müssen viel feinere Aufgaben als den Krieg auf sich nehmen. Sie müssen zu ihrer tiefsten Berufung kommen. Nur müssen sie auf eine ganz neue Weise denken und dichten - nämlich mit Maß."

Professor Dr. Carl Diem blieb es vorbehalten, ein fröhlich-beschwingtes Fazit des Bundestages mit der Aufforderung "Jugend heran!" zu ziehen. Er hielt es mit Ortega y Gasset, als er dessen These unterstrich, dass der Sport sich das rechte Maß geben müsse. Die Jugendarbeit im Sport müsse geistig, musisch und auch sittlich untermauert werden, eben das sei "Staatsbürgerliche Erziehung". Der Sport solle für die Jugend sein, was man ein "Haus der offenen Tür" nenne. Im übrigen hatte sich wie ein roter Faden die Aufforderung an die Politik durch die Debatten gezogen, die Vergnügungssteuer für Amateursportveranstaltungen endlich abzuschaffen, und die Aufforderung der Fachverbände an den DSB, die Probleme des sportlichen Ost-West-Verkehrs zu klären.


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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 49 / 2. Dezember 2008, S. 42
Der Artikel- und Informationsdienst des
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. Dezember 2008