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GESCHICHTE/108: Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte - Teil 13 (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 48 / 25. November 2008
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

1953: "Leitsätze für die Leibeserziehung an den Schulen" verabschiedet
Sportpolitische Dokumente aus sieben Jahrzehnten Nachkriegsgeschichte (Teil 13)

Eine Serie von Friedrich Mevert


Das Präsidium des DSB hatte bereits in seiner ersten Sitzung am 27. Januar 1951 im Dortmunder Industrieclub die vorgeschlagenen Persönlichkeiten für den Deutschen Sportbeirat bestätigt und diesem den Auftrag erteilt, eine entsprechende Denkschrift vorzubereiten, um damit in der Öffentlichkeit eine Verbesserung des Schulsports durch eine tägliche Turn- und Sportstunde einzufordern.

Der Sportbeirat beschloss nach entsprechenden Vorarbeiten eine solche Resolution in seiner Sitzung vom 16. März 1952 in der folgenden Fassung:

"Entschließung des Sportbeirates des DSB zum Schulsport vom 16.3.1952 Wir erkennen im deutschen Erziehungswesen im allgemeinen wie in der deutschen Schulerziehung im besonderen eine Unterbewertung der Körpererziehung gegenüber der geistigen Erziehung in einem Maß, das für die deutsche Jugend von verhängnisvollem Nachteil ist. Wenn das Ziel der Erziehung nur der ganze Mensch sein kann, der gesunde lebenstüchtige Mensch, dann muß in der Entwicklung des deutschen Schulwesens der Körpererziehung ganz wesentlich mehr Raum zugestanden werden, muß der Heranbildung zu dieser Aufgabe mehr Augenmerk geschenkt und muß darum das Interesse und das Verantwortungsbewußtsein aller zuständigen amtlichen Stellen und Behörden wesentlich mehr auf diese Aufgabe gerichtet werden.

Der Deutsche Sportbeirat im Deutschen Sportbund begrüßt die Bemühungen zur inneren Erneuerung der Schule, die im hohen Maß von der Initiative der Lehrerschaft getragen werden. Diese läßt deutliche Ansätze erkennen, daß sie die Leibeserziehung in ihrer vollen Bedeutung für die Gesamterziehung des jungen Menschen erkannt hat und auswerten möchte. Dabei wird die bisher unter großen Schwierigkeiten geleistete Aufbauarbeit der Lehrerschaft dankbar anerkannt und voll gewürdigt.

Der Deutsche Sportbeirat hält es daher für dringend notwendig:

1. die erforderlichen Übungsstätten (Hallen, Plätze, Bäder) und die benötigten Geräte bereitzustellen und sie in ihrer Bedeutung dem Klassenzimmer und den sonstigen Hilfsmitteln des Unterrichts gleichzusetzen,

2. der Körpererziehung den notwendigen Zeitraum im Lehrplan einzuräumen mit dem Ziel, sie der geistigen Erziehung gleichrangig an die Seite zu stellen,

3. eine vermehrte und vertiefte Ausbildung der Lehrerkandidaten sowie eine ausreichende Fortbildung von Lehrern und Lehrerinnen aller Schulgattungen auf dem Gebiete der Körpererziehung durchzuführen,

4. auch für die Berufs- und Fortbildungsschulen eine entsprechende Körpererziehung vorzubereiten und durchzuführen,

5. die soziale und wirtschaftliche Lage der Lehrerschaft entscheidend zu bessern, um sie wirtschaftlich unabhängig zu machen und den Lehrernachwuchs zu sichern.

Der Deutsche Sportbund und Sportbeirat werden im Interesse der gesunden kulturellen und wirtschaftlichen Entwicklung unseres Volkes alle Maßnahmen tatkräftig unterstützen und fordern, die der Verwirklichung dieser Ziele dienen. (Vollversammlung des Deutschen Sportbeirates am 16. März 1952 in Würzburg.)"

Das DSB-Präsidium verabschiedete diese Entschließung als "Leitsätze für die Leibeserziehung an den Schulen" allerdings erst ein Jahr später in seiner Sitzung am 25./26. April 1953 in Bremen und betonte, "dass es in der Leibeserziehung an den Schulen eine wesentliche Aufgabe der gesamten Volkserziehung (sieht), die es in Gemeinschaft mit den zuständigen Behörden und Verbänden mit allen Mitteln zu fördern gewillt ist". Doch diese Resolution fand kaum Widerhall, da sie in ihren Forderungen zu allgemein formuliert und auch das notwendige Beweismaterial noch nicht erarbeitet war. Dieses wurde dann allerdings von Guido von Mengden bei der DOG-Bundestagung im November des gleichen Jahres in Wuppertal der Öffentlichkeit vorgetragen und fand ein großes Echo, so dass der Schulsport von nun an in der sportpolitischen Diskussion blieb.

Guido von Mengden, zu dieser Zeit Geschäftsführer der Deutschen Olympischen Gesellschaft, traf in Wuppertal die Feststellung, dass die Körpererziehung in Deutschland kurz vor ihrem Ruin stehe, insbesondere wenn man die deutschen Verhältnisse und die sportlichen Rahmenbedingungen mit denen in den USA und anderen Ländern vergleiche.

Einige Auszüge aus von Mengdens Appell sind nachfolgend wiedergegeben:

(...) "So wichtig auch die körperliche Ertüchtigung, die Erhaltung der Volksgesundheit, die charakterliche Formung der Jugend und die Erziehung zur Gemeinschaft durch den Sport im einzelnen sind, viel wichtiger ist, daß der Mensch in der Erfüllung seines natürlichen Lebensgefühls die Befriedigung findet, die ihn zum guten Nachbarn, zum guten Bürger seines Volkes und zum guten Bürger der Welt macht.

Wieviel der Sport und die rechtverstandene olympische Idee dazu beitragen können, das ist leider noch keineswegs klar genug in das Bewußtsein der führenden Schichten, namentlich des deutschen Volkes, gedrungen. Ja, ich bin ziemlich sicher, daß sogar ein Teil der bei unserer Tagung Anwesenden meine Behauptungen, der Sport entspräche dem neuzeitlichen Lebensgefühl und müsse deshalb als unentbehrlicher Bestandteil der modernen Gesellschaftsordnung aufgefaßt werden, für überspitzt hält. (...)"

"Die fundamentalen Pfeiler einer rechtverstandenen Sportbewegung sind Übungsstätten und schulische Leibeserziehung. Sie sind gleichsam Acker und Saat. Es hat keinen Sinn, einen Tempel der olympischen Idee auf Flugsand zu bauen. Vor allem anderen müssen die Fundamente in Ordnung gebracht werden. Will das deutsche Volk trotz seines Fleißes, seines Aufstiegs, der an ein Wunder grenzt, vor dieser Frage kapitulieren?

Wer trägt die Verantwortung?

Es ist eine nicht zu bestreitende Tatsache, daß sich die deutsche Sportführung um die Lösung dieser Aufgabe gemüht hat. Es ist leider auch ebensowenig zu bestreiten, daß die geistige Führungsschicht diesem Bemühen nicht entgegengekommen ist. Dazu einige Beispiele:

Es ist nicht bekannt, daß sich - von den Kirchen beider Konfessionen abgesehen - auch nur eine einzige kulturelle, wissenschaftliche oder geistige Gruppe einmal mit der Frage der Einordnung des Sports in das moderne Gesellschaftsleben befaßt hätte oder daß einmal von dieser Seite aus ein Brückenschlag zum Problem der Harmonie zwischen Körper und Geist versucht worden wäre.

In Amerika pflegen bei den Universitätssportfesten die Professoren von Weltruf geschlossen auf der Tribüne zu sitzen. Sie frischen dabei alte Erinnerungen auf, es ist ihre Burschenherrlichkeit. Vor wenigen Monaten fanden in Deutschland die Studentenweltfestspiele statt. Daran nahm die junge geistige Garde vieler Nationen teil. Die deutsche Dozentenschaft fehlte nahezu vollständig.

Als der Bundesjugendring, der Zusammenschluß aller deutschen Jugendverbände, gegründet wurde, errichtete man 13 Arbeitsausschüsse. Niemand dachte daran, auch einen Sportausschuß vorzusehen, obwohl die Sportjugend die weitaus größte Jugendgruppe ist.

Es ist nicht bekannt, daß der Deutsche Gewerkschaftsbund sich mit der Frage befaßt hat, ob die körperliche und nervliche Verfassung der deutschen Werktätigen in 10 oder 20 Jahren noch ausreiche, das zur Erhaltung des Lebensstandards erforderliche Sozialprodukt zu schaffen. Gemessen an dem, was andere Völker an ihrer Jugend durch sportliche Ertüchtigung und für die Erholung ihres Volkes tun, ist das ernsthaft zu bezweifeln.

Es ist auch nicht bekannt, daß diese Frage die deutschen Wirtschaftsverbände beschäftigt hat, obwohl gerade eine Reihe von Einzelpersönlichkeiten der Wirtschaft die Bedeutung des Sports durchaus anerkannt hat und entsprechend handelt.

Es ist bekannt, daß es nur in der Organisation einer einzigen Partei auch einen Sportreferenten gibt. Es ist aber nicht bekannt, daß die Volksertüchtigung und Volkserholung durch Sport auch nur einmal auf der Tagesordnung irgend eines Parteikongresses gestanden hätte.

Es ist nicht bekannt, daß sich jemals ein deutsches Nachkriegs-Länderparlament oder der Deutsche Bundestag mit dieser Frage beschäftigt hat.

Unlängst ist von der Bundesregierung ein Erziehungsbeirat gebildet worden. Darin wurden 20 Persönlichkeiten berufen, die kraft ihrer geistigen Potenz durch Überzeugung wirken und Rat geben sollen.

Es wird sicher sehr schwierig gewesen sein, die geeigneten Persönlichkeiten für dieses Gremium zu finden. Aber so arm an geistigen Exponenten ist der Sport denn doch nicht, daß unter den 20 Auserwählten auch nicht ein einziger Experte der Leibeserziehung hätte sein können.

Man könnte die Aufzählung solcher Tatsachen noch lange fortsetzen. Die geistige Führungsschicht hat in Deutschland nach 1945 politisch, kulturell, wissenschaftlich und wirtschaftlich Ungeheures geleistet. Es ist zu verstehen, daß ihr Interesse und ihre Kraft von diesen Aufgaben ganz in Anspruch genommen worden ist.

Nachdem nun die Grundlagen für die Existenz des Volkes gelegt sind, sollte die geistige Führungsschicht nicht länger mehr an dem modernen Massenphänomen des Sports vorbeisehen. Sie sollte erkennen, daß der Sport ein wesentliches Anliegen der modernen Menschheit ist und daß seine sinnvolle Einordnung in das Gesellschaftsleben eine Aufgabe von bedeutendem Rang ist, eine Aufgabe, die ohne sie nicht gelöst werden kann."

Von Mengden analysierte dann eingehend das Zahlenmaterial zur Anzahl der Sportstunden und Sportstätten in den Schulen, zur Überalterung der Sportlehrerschaft und zur Qualität der Sportstunden und schloß seine Ausführungen:

"Das Erschütternde an diesen Feststellungen ist, daß die Schäden, die sich aus diesen Zuständen für die deutsche Jugend ergeben, progressiv sind, daß sie sich in fünf bis zehn Jahren erst voll auswirken werden und daß sie nur in ebenso langen Zeiträumen zu beseitigen wären, vorausgesetzt, daß man das Problem überhaupt erkennt.

Wir alle sind des Geschreis und der Superlative müde. Aber, wenn Sie das bisher Gesagte zusammenziehen, dann werden Sie mir zugeben müssen, daß dieser Situation gegenüber Worte wie Katastrophe und nationales Versagen angebracht sind. Hier helfen auch die Privatanstrengungen der deutschen Turn- und Sportverbände nicht. So kommt es auch nicht von ungefähr, daß man bei sorgfältiger Prüfung der Sportstatistik der letzten zwanzig Jahre folgendes feststellen muß:

Der Prozentsatz der tatsächlich Leibesübungen treibenden Menschen in Deutschland ist seit zwanzig Jahren der gleiche geblieben, ja er ist eher leicht rückläufig als fortschreitend. Zum Beweis führe ich nur eine Zahl an. Nach der sehr sorgfältigen Statistik des Sportbundes Nordrhein-Westfalen sind nur 3 v. H. der Bevölkerung dieses Bundeslandes einschließlich der Jugend aktiv sportlich tätig. Das ist bei solchen Schulverhältnissen auch nicht anders zu erwarten. Dieser Stagnation in Deutschland steht der stürmische Fortschritt in weiten Teilen der Welt gegenüber. (...)

Als Bundeskanzler Dr. Adenauer noch Oberbürgermeister von Köln war, hat er ein geflügeltes Wort geprägt: "Der Sport ist der Arzt am Krankenlager des deutschen Volkes." Dieser Arzt leidet heute im höchsten Maße an Anämie. Es fehlt ihm das Mark der Jugend, dem die roten Blutkörperchen entstammen. Es fehlt ihm im höchsten Maße auch an Sportstätten, an jenen Heilstätten, die verhindern, daß sich Krankenhäuser und Nervensanatorien füllen. Der Heilmeister wird in zunehmendem Maße selber siech.

Wir sehen riesige Geschäftshäuser und Verwaltungsgebäude aus dem Boden schießen, Bürodolomiten, Krankenkassen und Versicherungspaläste. Wir sehen auf den Anlagen unserer Städte wieder Blumenschmuck. Was aber geschieht mit unseren jungen Menschen?"


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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 48 / 25. November 2008, S. 32
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. Dezember 2008