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GESCHICHTE/104: Das Ende des öffentlichen jüdischen Sports in Deutschland (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 46 / 11. November 2008
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

Das Ende des öffentlichen jüdischen Sports in Deutschland
Vor 70 Jahren: Der Sport war an den November-Pogromen nicht beteiligt

Von Holger Schück


In der Nacht vom 9. auf den 10. November setzten die Nationalsozialisten 1.500 Synagogen und Gebotsstuben in Deutschland in Brand. NSDAP, SA und Gestapo verwüsteten 7.500 jüdische Geschäfte und unzählige Wohnhäuser. In der sogenannten Reichspogromnacht wurden 91 Juden ermordet und Tausende von ihnen schwer misshandelt. In derselben Nacht gab es Befehle zur Verhaftung von 30.000 Juden, die in den folgenden Tagen in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen verschleppt wurden. Charlotte Knobloch, die Präsidentin des Zentralrats der Juden, erklärte zur Erinnerung an die Terrornacht: "Die Reichspogromnacht markierte den Übergang von der Diskriminierung und Ausgrenzung jüdischer Deutscher hin zur systematischen Verfolgung und Ermordung wehrloser Kinder, Frauen und Männer."

"Das Datum vor 70 Jahren, der 9. und 10. November 1938, markiert nichts weniger als das Ende des öffentlichen jüdischen Sports in Deutschland", erklärte Prof. Hans Joachim Teichler, Sporthistoriker von der Universität Potsdam, zum Gedenktag im Deutschlandfunk. Anders als bei der Bücherverbrennung im Mai 1933, bei der Sportstudenten in Berlin das "Institut für Sexualwissenschaft" plünderten, sei der Sport an der Reichspogromnacht nicht unmittelbar beteiligt gewesen.

Prof. Teichler, der über die Sportpolitik im Dritten Reich promoviert hat, erläuterte die Rolle des Sports im NS-Staat mit seiner unmenschlichen rassistischen, fremdenfeindlichen und antisemitischen Politik: "Fünf Jahre zuvor, 1933, also vor 75 Jahren, hat sich der deutsche Sport in einem Akt vorauseilenden Gehorsams, im Wettlauf um die Gunst der neuen Machthaber, von seinen jüdischen Sportkameraden getrennt. Sie wurden schlicht und einfach aus den Vereinen und Verbänden herausgeworfen. Ohne amtliche Bestimmungen abzuwarten, hat man in den Verbänden und Vereinen sogenannte Arierparagraphen erlassen. Mehr als 50 Prozent der Vereine haben die Ausgrenzung sofort satzungsmäßig vollzogen, obwohl das NS-Regime in der damaligen Phase die Vereine und Verbände im Hinblick auf die Olympischen Spiele 1936 und die weltweite Debatte darüber zu rücksichtsvollem Umgang mit den jüdischen Mitbürgern ermahnt hatte."

Die Verdrängung der Juden aus der bürgerlichen Sportbewegung führte nach 1933 zu einer Bündelung in eigenen Sportorganisationen. Trotz politischer Diskriminierung und Ausgrenzung konnten jüdische Mitbürger noch eine Weile sportliche Aktivitäten in Spitze und Breite entfalten: Etwa 20.000 fanden in jüdischen Verbänden wie "Makkabi", "Vintus" und "Schild" vorübergehend eine neue Heimat. Im Alltag des Dritten Reichs wurden jüdische Sportler immer wieder schikaniert. So war ihnen der Eintritt in Schwimmbäder untersagt, die Nutzung von Sportplätzen wurde ihnen verboten. Mit Rücksicht auf Olympia 1936 in Berlin gab es von den NS-Machthabern und ihren Vasallen widerstrebend eine Duldungspolitik. Das hatte aber nur kurzfristig Bestand.

Nach den Spielen begann nach Worten des 62 Jahre alten Sporthistorikers die systematische Entrechtung jüdischer Sportler: "1938 wurden dann auch jüdische Sportstätten geschlossen - wie das jüdische Stadion im Grunewald, Berlin. In diesem Zusammenhang ist daran zu erinnern, dass Sport für Juden nur noch in den jüdischen Schulen möglich war, die nach den Richtlinien des Nationalsozialismus weiter unterrichten mussten - bis auch diese in dann den Jahren 1940/41 endgültig geschlossen wurden."

Mit dem Terror der Reichspogromnacht am 9./10. November nahm die Apokalypse ihren Lauf. Hans Joachim Teichler erinnert daran, dass auch zahlreiche jüdische Sportler dem Holocaust zum Opfer fielen: "Zum Beispiel die verdienten Turner, die Cousins Flatow, die Olympiasieger von Athen 1896: Sie wurden im hohen Alter in das KZ Theresienstadt gebracht und kamen dort jämmerlich um. Oder die Weltklassesportlerin Lilli Henoch, die in den zwanziger Jahren 16-malige deutsche Meisterin und mehrfache Weltrekordlerin in der Leichtathletik war: Sie hielt bei ihren jüdischen Schülern in Berlin aus, emigriert nicht und wurde dann mit dem 19. Transport Berliner Juden nach Riga transportiert, wo sie kurz nach der Ankunft ermordet wurde."

Bekannt ist, im Vorfeld der Olympischen Spiele 1936 hatte der internationale Sport Zusicherungen verlangt, dass jüdische Athleten ausländischer Staaten nach Deutschland kommen dürfen und dass auch in der deutschen Olympiamannschaft Juden startberechtigt sein müssen. Nach 1938 sei jedoch der Rassenwahn der Nazis vom Internationalen Olympischen Komitee (IOC) toleriert worden, analysierte Prof. Teichler. Er führte aus: "Was macht das IOC nach dem November-Pogrom? Schließt es Deutschland aus der olympischen Bewegung aus? Gibt es irgendeine Missachtung des deutschen Sports weltweit? Nichts davon ist der Fall - im Gegenteil: Im Juni 1939 in London vergibt das IOC noch einmal einstimmig die Olympischen Winterspiele 1940 nach Garmisch-Partenkirchen und nimmt sie wegen eines fadenscheinigen Streits um die Amateurparagraphen den bereits vorbereiteten Schweizern, dem Skiort St. Moritz, fort. Die Wegnahme von Olympischen Spielen und die Verlagerung an einen anderen Ort war eine einmalige Entscheidung. Das ist ein ganz dunkler Punkt in der olympischen Geschichte, an die das IOC nicht gern erinnert werden möchte."

Die Olympischen Winterspiele 1940 in Garmisch-Partenkirchen fielen schließlich den Kriegswirren zum Opfer. Der Potsdamer Sporthistorikers urteilte: "Man kann von einer faschistischen Epoche des IOC sprechen. Damals verfügten die autoritär-faschistischen Staaten mit ihren Sportvertretern in der Exekutive über die Mehrheit. Das bürgerlich-adlige IOC hatte damals große Sympathien mit den autoritär-faschistischen Ländern mit ihren Staatssportstrukturen und Freizeitsportstrukturen. Dies kann man wissenschaftlich korrekt nachweisen. Das IOC hat bisher wenig Anstrengungen entwickelt, diesen Abschnitt seiner Geschichte aufzuarbeiten."


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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 46 / 11. November 2008, S. 18
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. November 2008