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GESCHICHTE/076: Melbourne 1956 - Kalter Krieg und heißer Sport (DOSB)


DOSB Presse - Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

Kalter Krieg und heißer Sport

Vor fünfzig Jahren fanden die Spiele in Melbourne statt


Dass sie an einem 22. November eröffnet wurden, zählt zu den Besonderheiten der Olympischen Spiele des Jahres 1956. Außergewöhnlich auch, dass bei Entzündung des Feuers 18 Medaillen bereits seit Monaten vergeben waren. Schließlich war mit den Reiterinnen und Reitern eine ganze Sportart ausgelagert, in den Juni vorgezogen und an einen ganz anderen Ort, ja auf einen anderen Kontinent verfrachtet worden. Grund dafür waren die rigiden australischen Quarantänebestimmungen, die den Ausschlag dafür gaben, dass Hans Günter Winkler, Fritz Thiedemann, Liselott Linsenhoff und Co. ihren olympischen Ambitionen in Stockholm und nicht in Melbourne nachzugehen hatten, wobei sich Erstgenannter als besonders erfolgreich erwies. Sowohl mit der Mannschaft als auch in der Einzelkonkurrenz gewann der ein Jahr zuvor zum "Sportler des Jahres" gekürte Warendorfer Springreiter Gold, womit mehr noch als er sein Pferd "Halla" Kultstatus erhielt. Die großartige Stute hatte nämlich beim finalen Ritt die Verantwortung übernommen, nachdem sich ihr Reiter auf Grund einer im ersten Umlauf erlittenen Verletzung nur bewegungsunfähig an den Sattel hatte binden lassen können.

Die Separierung der so genannten "Reiterspiele" - der Fall wird sich bekanntlich im Sommer 2008 unter ähnlichen Vorzeichen wiederholen, wenn der olympische Parcours nicht in Peking, sondern in Hongkong zu finden sein wird - war freilich nicht das einzige Problem, mit dem sich die Organisatoren des Großsportfestes konfrontiert sahen. Die ersten Olympischen Spiele in Down Under - die zweiten sollten 44 Jahre auf sich warten lassen - standen vor allem nämlich im Zeichen weltpolitischer Verwicklungen. Elf Jahre nach dem Ende des bis dahin verheerendsten Waffenganges der Weltgeschichte standen sich West und Ost argwöhnisch und unerbittlich gegenüber, wobei die Politstrategen hüben wie drüben den Sport als eine ihrer bevorzugten Spielwiesen auserkoren hatten. Und gerade die olympische Arena war immer mehr zu einem Schauplatz kalter Ersatz- und Stellvertreterkriege mutiert. Selbst im fernen Australien musste sich die so oft proklamierte Unschuld des Sports angesichts der Macht des Faktischen als Illusion erweisen.

Schließlich hatte sich die infolge des Weltkrieges zunehmend zementierende politisch-ideologische Teilung der Welt, die sich in besonderer Weise auf deutschem Boden manifestierte, im Vorfeld der Spiele von Melbourne weiter verschärft. Im November 1955 beziehungsweise Januar 1956 war mit der Gründung der Bundeswehr respektive der Nationalen Volksarmee die so genannte Wiederbewaffnung Deutschlands realisiert und mit dem Beitritt zur NATO sowie zum Warschauer Pakt die jeweilige Eingliederung in die beiden rivalisierenden Militärbündnisse vollzogen worden.

Mehr noch als die permanenten "deutschen Querelen" wirkten aber die Ereignisse in Ungarn und die Suezkrise als akute Bedrohung des olympischen Friedens. Nachdem Präsident Abd el Nasser weitergehende ägyptische Ansprüche auf den Suez-Kanal erhoben hatte, sah sich Israel, ermuntert und unterstützt von Großbritannien und Frankreich, nach einem Waffengang gegen Jordanien auch zu einer Intervention in Ägypten veranlasse. Die konzertierte und letztlich erfolglose Aktion startete am 6. November. Genau zwei Tage zuvor war in Europa, genauer in Ungarn, ein zweites Pulverfass explodiert, als die Rote Armee in Budapest einmarschierte, um einen seit Monaten schwelenden und seit Wochen eskalierenden Aufstand der Ungarn gegen das kommunistische Regime sowie die sowjetische Bevormundung mit Panzern niederzuschlagen und die Regierung um Imre Nagy in Haft zu nehmen.

Mehr als 200.000 Ungarn sahen sich zur Flucht veranlasst, einige wenige Privilegierte nutzten in Melbourne die Gelegenheit. So etwa die Turnerin Agnes Keleti, die als vierfache Olympiasiegerin für Furore sorgte, um dann über Umwege in Israel zu landen und als Dozentin am Wingate-Institut für Leibeserziehung und Sport zu arbeiten. Auch sechs Mitglieder der erfolgreichen Wasserball- Mannschaft, die in einem emotionsgeladenen, überharten und vor der Zeit abgebrochenen "Spiel" gegen das sowjetische Team erfolgreich war, um anschließend Gold zu gewinnen, kehrten vorerst zumindest nicht in ihre Heimat zurück. Als prominentes Gegenbeispiel ist der Boxer László Papp anzuführen. Der Halbmittelgewichtler, der in Melbourne zum dritten Mal Gold bei Olympischen Spielen gewann, blieb seiner Heimat treu und erhielt dafür als erster Sportler eines sozialistischen Landes die Erlaubnis, sich als Profi im Westen zu versuchen.

Dass die Ungarn mit insgesamt 26 Medaillen hinter der UdSSR, den USA und Gastgeber Australien den vierten Rang der inoffiziellen Nationenwertung belegte, mag immerhin als eine gewisse Genugtuung gewirkt haben. Vielleicht war es auch ein kleiner Trost für die zwei Jahre zuvor in Bern erlittene Niederlage im Finale der Fußball-WM, dass man in Melbourne drei Goldmedaillen mehr gewann als die deutsche Mannschaft. Dabei war diese, erstmals bei Sommerspielen, aus den vermeintlich Besten aus West- (123) und Ostdeutschland (36) zusammengesetzt, nachdem bei den "Reiterspielen" ausschließlich Westdeutsche die de jure "gesamtdeutschen" Farben vertreten hatten. Die - vom IOC verordnete - olympische Gemeinsamkeit der Deutschen hatte ihre Nagelprobe bei den Winterspielen in Cortina d'Ampezzo erfahren und sollte trotz des sich auch im Vorfeld der Sommerspiele offenbarenden und in deren Folge eher zu- als abnehmenden Widerwillens auf beiden Seiten bis 1964 als olympischer Sonderweg der deutsch-deutschen Entwicklung gepflegt, wenn auch nicht gehegt werden.

Bezeichnend für die aus heutiger Sicht doch groteske Situation ist etwa der Umstand, dass in beiden deutschen Staaten, insbesondere jedoch in der DDR, die von den "eigenen" Athletinnen und Athleten errungenen Medaillen als Erfolg für die eigene Seite und das jeweils praktizierte oder propagierte gesellschaftspolitische System verbucht wurde. So feierte die DDR Wolfgang Behrendt, der gerade zwanzigjährige (Ost-)Berliner Boxer hatte Gold im Bantamgewicht gewonnen, als "ihren" ersten Olympiasieger und wies ihm einen Ehrenplatz in der sich fortan immer eindrucksvoller gestaltenden "nationalen" Erfolgsstatistik zu.

Doch nicht nur die deutsche, auch die "chinesische Frage" stand 1956 auf der olympischen Tagesordnung, hatte das IOC doch zwei Jahre zuvor, bei seiner Session in Athen, bei der dem NOK der DDR die Anerkennung noch mit großer Mehrheit verweigert wurde, mit 23 zu 21 Stimmen für die Aufnahme der Volksrepublik China in die olympische Familie votiert, den von den dortigen Machthabern verlangten Ausschluss Taiwans jedoch nicht vollzogen. Vor diesem Hintergrund präsentierte sich 1956 zwar der große Vorsitzende Mao als großer Schwimmer im großen Fluss, nämlich im Jangste, doch "seinen" Spitzensportlerinnen und -sportlern wurde bis auf weiteres olympische Abstinenz verordnet. Die Volksrepublik fehlte in Melbourne ebenso wie die "Kriegsländer" Jordanien und Ägypten sowie der Irak. Aus Protest gegen die Vorgänge in Ungarn und im Nahen Osten waren zudem die Niederlande, Spanien und die Schweiz den Spielen ferngeblieben. China gab seine Verweigerungshaltung übrigens erst 1980 auf, um anschließend einen Marsch an die olympische Spitze zu beginnen, der 2008 bekanntlich seinen vorläufigen Höhepunkt erfahren soll.

Dr. Andreas Höfer


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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 49 vom 5. Dezember 2006, DOKUMENTATION VI-VII
Der Artikel- und Informationsdienst des
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