Schattenblick → INFOPOOL → SPORT → FAKTEN


FORSCHUNG/151: Preisgekrönte Wissenschaftsbeiträge (Teil 1) (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 9 / 24. Februar 2015
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

Eine neue Serie stellt preisgekrönte Wissenschaftsbeiträge vor (1)

Das Blickverhalten in komplexen Bewegungshandlungen


Seit 1953 verleiht der Deutsche Olympische Sportbund (vor 2006 die Vorgängerorganisation Deutscher Sportbund) alle zwei Jahre den DOSB-Wissenschaftspreis (früher Carl Diem Plakette) für herausragende sportwissenschaftliche Qualifikationsarbeiten. Die Liste der Preisträger und der Preisträgerinnen legt ein eindrucksvolles Zeugnis der hohen Sportwissenschaftlichen Forschungsleistungen in Deutschland ab.

Die DOSB-PRESSE stellt in den nächsten Wochen die herausragenden Forschungsleistungen der fünf Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor, deren Arbeiten am 16. Januar in der Orangerie in Erlangen mit dem DOSB Wissenschaftspreis 2013/2014 ausgezeichnet wurden.

Alle Preisträgerinnen und Preisträger haben sich bereit erklärt, aus ihren preisgekrönten Schriften die wesentlichen Thesen und Ergebnisse ihrer Forschungen für diese Serie zu bündeln. Wir beginnen in dieser Ausgabe mit dem ersten Preisträger, Prof. Dr. Thomas Heinen und seiner Habilitationsschrift "Visuomotorische Kontingenzen bei der Auswahl, Kontrolle und Aneignung von komplexen Bewegungshandlungen im Sport".

Weitere Informationen zum DOSB-Wissenschaftspreis finden sich online unter
www.DOSB.de


Das Blickverhalten in komplexen Bewegungshandlungen

"Visuomotorische Kontingenzen bei der Auswahl, Kontrolle und Aneignung von komplexen Bewegungshandlungen im Sport" - Habilitationsschrift von Thomas Heinen


Experten im Sport sind in der Lage, Bewegungen wie zum Beispiel einen doppelten Salto mit doppelter Schraube scheinbar flüssig und leicht, ja praktisch wie von selbst auszuführen. Bei genauerer Betrachtung sind solche Bewegungen jedoch sehr komplex, und sie bringen den Menschen in verschiedener Hinsicht in Grenzbereiche. Es wird dabei angenommen, dass eine Reihe von Faktoren am Zustandekommen dieser Koordination und Regulation beteiligt sind. Dabei wird insbesondere die Rolle der Wahrnehmung in der Psychologie und Sportwissenschaft betont. Es stellt sich somit unweigerlich die Frage, wie solch komplexe Bewegungshandlungen auf Basis vorhandener Informationen der Wahrnehmung kontrolliert werden.

Wie ist das beispielsweise, wenn man vier bis fünf Meter hoch durch die Luft fliegt und sich dabei zweimal um seine Breitenachse und zusätzlich noch zweimal um seine Längsachse dreht? Diese Bewegungsform nennen die Trampolinturner netterweise einen "Doppel-Doppel" und sie verlangt den Aktiven einiges ab. Oder wie ist es, wenn man mit 30 Kilometer pro Stunde auf den Sprungtisch zu sprintet, um am Ende vom Sprungbrett abzuspringen, um einen Überschlag mit zusätzlichem Doppelsalto auszuführen? Diese Bewegungsform, der sogenannte "Roche", ist wohl eine der schwierigsten und komplexesten Bewegungen im Sport überhaupt. Die Frage, die sich aus diesen und ähnlichen Beobachtungen für die vorgelegte Arbeit gestellt hatte, war, wie bei solchen Bewegungen wohl Blick- und Bewegungsverhalten miteinander interagieren? Zur theoretischen Grundlegung der vorgelegten Habilitationsschrift "Visuomotorische Kontingenzen bei der Auswahl, Kontrolle und Aneignung von komplexen Bewegungshandlungen im Sport" habe ich mich auf eine grundlegende Erkenntnis der Psychologie berufen, nämlich, dass Wahrnehmung und Handlung eng und vielleicht sogar unmittelbar miteinander verschränkt sind.

In Bezug auf das oben genannte erste Bewegungsbeispiel meint dies: Ein Trampoliner dreht sich in komplexer Weise um seine Körperachsen. Durch die wiederkehrende oder andauernde Fixierung des Blicks (z.B. auf das Trampolintuch) kann sich der Aktive im Raum orientieren und die Landung entsprechend zeitlich abgestimmt vorbereiten. Im Hinblick auf das zweite Bewegungsbeispiel bedeutet es: Ein Akteur läuft mit hoher Geschwindigkeit auf ein stationäres Objekt zu. Auf seiner Netzhaut verändert sich dabei das Bild des Objektes, was einen Experten dazu bringt, seine Schritte und Laufgeschwindigkeit anzupassen. Diese Anpassung führt wiederum zu einer Veränderung der Wahrnehmung des Objektes und so weiter.

Es wird also insgesamt angenommen, dass Bewegungshandlungen (im Sport) direkt durch die vorhandenen perzeptuellen Informationen kontrolliert und reguliert werden können. Dabei hängt der Umfang und die Art der Regulation davon ab, welchen Informationen sich der Akteur wahrnehmungsseitig zuwendet und wie diese Informationen im Lernprozess mit der Ausführung einer Bewegungshandlung (bzw. deren aufgabenseitigen Anforderungen) integriert wurden.

Vor dem skizzierten Hintergrund ging es in der vorgelegten Arbeit daher zunächst um die Messung, aber auch um die Ansteuerung des Blickverhaltens bei komplexen Bewegungshandlungen im Sport, nämlich bei Salti und Überschlägen im Gerätturnen. Zur Messung des Blickverhaltens entwickelten mein Team und ich eine mobile Eye-Tracking Apparatur, die sich insbesondere bei der Ausführung von Salti und Überschlägen einsetzen lässt. Dabei wurde eine Miniaturkamera inklusive relevanter Videoübertragungsschnittstelle und Stromversorgung an einen modifizierten Fahrradhelm angebracht. Sobald ein Aktiver diese Apparatur trug, konnte über das Abfilmen seiner Augen mit Hilfe mathematischer Verfahren die Blickrichtung im Raum rekonstruiert werden. Neben der Erfassung der Blickrichtung und der damit einhergehenden Fixationen und Blicksprünge konnten auch Momente quantifiziert werden, in denen die Aktiven die Augen geschlossen hatten. Durch die synchrone Aufzeichnung des Bewegungsverhaltens mit Hilfe von Highspeedkameras konnte so der Zusammenhang zwischen dem Blick- und Bewegungsverhalten analysiert werden. Mit Hilfe dieser mobilen Apparatur wurden zunächst Fragen nach Unterschieden zwischen Experten und Anfängern in Bezug auf das Blick- und Bewegungsverhalten oder auch nach der Veränderung des Blick- und Bewegungsverhaltens im Lernprozess bearbeitet. Die Ergebnisse zeigen: Das Blick- und Bewegungsverhalten ist auch bei sehr komplexen Bewegungen miteinander verschaltet, und es scheint fast so, als ob das Blickverhalten das Bewegungsverhalten vorhersagen lässt.

Blickstrategien werden bei der Kontrolle komplexer Bewegungshandlungen offenbar so eingesetzt, dass sie bestmöglich den Umständen der aktuellen Situation gerecht werden. Mit anderen Worten: Wenn Experten einen Doppelsalto als Abgang vom Reck ausführen, dann fixieren sie höchstwahrscheinlich in der vorhergehenden Riesenfelge die antizipierte Landeposition an und landen mit sehr großer Wahrscheinlichkeit auch dort. Das Blickverhalten läuft dem Bewegungsverhalten voraus und wird somit zum Prädiktor für komplexe Bewegungshandlungen im Sport.

In weiteren Untersuchungen gingen mein Team und ich der Frage nach der Regulation komplexer Bewegungen auf der Basis der Informationen der Umwelt nach. Es wurden beispielsweise Fragen nach dem Einfluss der Umwelt auf die Wahrnehmung und damit auch auf die Bewegung bearbeitet.

Die Ergebnisse zeigen: Die Informationsstruktur der Umwelt trägt unmittelbar zur Regulation bei. Bei der Bewegungskontrolle werden somit eine Reihe von Hinweisreizen wirksam, deren Effekt sich in unterschiedlichen kinematischen Parametern entfalten kann. Mit anderen Worten: Wenn Experten mit hoher Geschwindigkeit auf den Sprungtisch zu sprinten, dann regulieren sie ihre Schritte so ein, dass sie das Sprungbrett am optimalen Abwurfpunkt treffen. Trainierte Akteure nehmen diejenigen Informationen der Umwelt direkt wahr, welche an einer kontinuierlichen Regulation von Bewegungshandlungen im Hinblick auf ein oder mehrere Bewegungsziel(e) beteiligt sind. Die Wahrnehmung der Struktur der Umwelt nimmt demnach unmittelbaren Einfluss auf das Bewegungsverhalten bei komplexen Bewegungen. In der Zusammenschau halten die gefundenen Ergebnisse der vorgelegten Arbeit eine Reihe von Ideen für die (Weiter-)Entwicklung von Trainingsverfahren im Sport, aber auch für das Verständnis solch komplexer Bewegungen bereit, wie man sie im Gerät- und Trampolinturnen, aber auch in Sportarten wie dem Wasserspringen oder in Bereichen wie der Zirkusartistik findet.

Visuelle Informationen sind an der Auswahl, Kontrolle und Aneignung komplexer Bewegungshandlungen in vielfältiger Weise beteiligt und tragen demnach zu einer flüssigen und präzisen Ausführung dieser Bewegungshandlungen bei.

Schlussfolgerungen

Zumindest lassen sich für das Gerätturnen ein paar Schlussfolgerungen anstellen: Sportliche oder motorische Expertise im Hinblick auf so komplexe Bewegungen wie einen "Doppel-Doppel" bringt zwangsläufig Veränderungen im Wahrnehmungssystem mit sich. Von Interesse dabei ist, dass diese Veränderungen gewissen Systematiken unterliegen und sich möglicherweise spezifisch trainieren lassen.

Solch ein Training, sprich: die gezielte Ansteuerung des Blicks und der visuellen Informationsaufnahme, kann die Entwicklung von Bewegungsexpertise dann begünstigen, wenn es an den Anforderungen der Bewegungsaufgabe ausgerichtet ist bzw. wird und die Informationsstruktur der Umwelt berücksichtigt.

Dabei stellt sich für jede sportliche Aufgabe die Frage welches die relevanten Hinweisreize in der Umwelt sind, aufgrund dessen ein Aktiver seine Bewegungen bestmöglich regulieren kann. Mit anderen Worten: Die Entwicklung von Expertise zur Ausführung von Salti mit mehrfachen Schrauben ist nicht trivial und sollte immer auch unter Rückgriff auf Mechanismen der Wahrnehmungssteuerung betrachtet werden, ein Aspekt, der zumindest in einer Reihe von Sportarten zumeist eher vernachlässigt wird.

*

Quelle:
DOSB-Presse Nr. 9 / 24. Februar 2015, S. 36
Der Artikel- und Informationsdienst des
Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)
Herausgeber: Deutscher Olympischer Sportbund
Otto-Fleck-Schneise 12, 60528 Frankfurt/M.
Telefon: 069/67 00-236
E-Mail: presse@dosb.de
Internet: www.DOSB.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. März 2015

Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang