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FORSCHUNG/133: Mit der roten Karte zum Sieg (idw)


Eberhard Karls Universität Tübingen - 08.07.2010

Mit der roten Karte zum Sieg

Tübinger Wirtschaftswissenschaftler haben herausgefunden, dass ein Platzverweis die Chancen eines bestraften Fußballteams sogar verbessern kann


Noch zwanzig Minuten zu spielen. Die Heimmannschaft hat sich als stark erwiesen, die Gäste sind in Bedrängnis. Und dann passiert, was die Gäste am wenigsten gebrauchen können: Der Schiedsrichter pfeift und zeigt ihnen die rote Karte. Mit nur zehn Spielern stehen sie dem Heimteam gegenüber. Zwanzig Minuten später ist die Überraschung da, sowohl in den Rängen wie auf dem Spielfeld: Die Gäste haben sich mit ihrer geschrumpften Mannschaft noch verbessert, die Gastgeber lassen enttäuscht die Ohren hängen.

Zehn Spieler schaffen es besser als elf - ist an diesem alten Fußballmythos etwas dran? Diese Frage haben sich vier Wirtschaftswissenschaftler der Universität Tübingen gestellt. Mario Mechtel und Tobias Brändle vom Lehrstuhl für Finanzwissenschaft (Prof. Dr. Laszlo Goerke) haben sich mit Agnes Stribeck und Karin Vetter vom Lehrstuhl für Personal und Organisation (Prof. Dr. Kerstin Pull) zu einem Gemeinschaftsprojekt zusammengetan und den Spielverlauf von 3060 Spielen der Bundesligazeiten 1999/2000 bis 2008/2009 ausgewertet. In dieser Zeit zählten sie insgesamt 672 Platzverweise.

"Als große Fußballfans hat uns die Frage interessiert, ob an dem bekannten Fußballmythos, dass zehn Spieler besser sind als elf, wirklich etwas dran ist", so Mario Mechtel. Ein aktuelles Beispiel für diesen Mythos sei das Halbfinal-Rückspiel der Champions League-Saison 2008/2009 zwischen dem FC Chelsea und dem FC Barcelona. Den Katalanen gelang nach dem Platzverweis gegen ihren Linksverteidiger Eric Abidal in Unterzahl noch der Ausgleichstreffer, der auf Grund des Hinspielergebnisses gleichbedeutend war mit dem Einzug in das Finale. Die jüngste Fußballgeschichte habe denn auch gleich ein Beispiel parat: "Hätte Luis Suárez, Nationalspieler Uruguays, nicht in der 120. Minute des Viertelfinals gegen Ghana den Ball mit der Hand von der eigenen Torlinie gekratzt - ihm wäre der folgende Platzverweis zwar erspart geblieben, sein Team allerdings hätte durch das entscheidende (von ihm aber verhinderte) Tor den Heimflug antreten müssen."

Das Ergebnis der Studie ist differenziert, aber statistisch gut abgesichert: Eine Gastmannschaft kann in der Tat von einem Platzverweis - sei es die rote Karte oder eine wiederholte gelbe Karte - profitieren. Voraussetzung ist aber, dass die Mannschaft nur noch höchstens 20 Minuten in reduzierter Besetzung spielen muss. Sonst hält das bestrafte Gastteam nicht durch. Etwas anders sieht es für Heimmannschaften aus: Sie können von einer roten Karten überhaupt nicht profitieren. Eine personelle Schwächung schlägt sich mit großer Wahrscheinlichkeit negativ im Spielergebnis nieder.

Die vier Tübinger Wissenschaftler sind nicht die ersten, die solch eine Analyse vorgenommen haben. Doch im Unterschied zu anderen Forschern haben sie in ihre statistische Analyse zwei weitere wichtige Faktoren einbezogen: die Stärke der beiden Teams, gemessen an ihren Ergebnissen im Verlauf der jeweiligen Saison, und die Stärke der Teams bei Heimspielen. So konnten sie besonders gut zwischen Heim- und Auswärtsspielen unterscheiden, und außerdem erlaubte das Verfahren, Korrekturen für den Fall in die Analyse einzubauen, dass zwei Teams mit sehr unterschiedlicher Stärke aufeinandertrafen. Zudem berücksichtigen die vier Tübinger Forscher auch die Verläufe von Spielen ohne Platzverweise, um statistisch untersuchen zu können, ob die gefundenen Effekte wirklich von den Platzverweisen stammen oder durch andere Einflüsse erklärbar sind. Tobias Brändle: "Aus der bloßen Beobachtung heraus, dass eine Mannschaft in Unterzahl noch zwei Gegentore bekommen hat, kann man nicht sagen, ob diese wirklich durch den Platzverweis induziert waren. Wir versuchen durch unsere Analyse auch zu berücksichtigen, wie ein Spiel ohne Hinausstellung ausgegangen wäre - daher untersuchen wir auch Spiele ohne Platzverweise. So können wir einen kausalen Zusammenhang zwischen Platzverweis und Spielergebnis herleiten."

Das teilweise überraschende Ergebnis beleuchten die Forscher in ihrer Arbeit im Lichte verschiedener theoretischer Ansätze aus der Ökonomie. Einerseits führt die Hinausstellung eines Spielers zu einer suboptimalen Zusammensetzung der Mannschaft, da die verbleibenden Spieler dessen Rolle übernehmen müssen. Andererseits ruft ein Platzverweis einen Motivationseffekt bei den verbleibenden Spielern hervor. Jeder von ihnen muss nun mehr Verantwortung übernehmen und kann sich weniger gut hinter seinen Mitspielern verstecken. Des Weiteren müssen sowohl die dezimierte als auch die gegnerische Mannschaft ihre Taktik und Spielart an die neue Situation anpassen. Diese Anpassung sollte tendenziell derjenigen Mannschaft leichter gelingen, die die einfachere Aufgabe zu erfüllen hat.

Und woher kommt es, dass Gastgeber und Gäste so unterschiedlich auf eine Bestrafung reagieren? Auch dafür haben die Wissenschaftler eine Erklärung. Empirische Analysen zeigen, dass Auswärtsmannschaften im Durchschnitt defensiver auftreten als Heimteams. Dabei wird es in der Regel als leichter eingestuft, kompakt zu verteidigen, als selbst das Spiel machen zu müssen. Die Anpassung an die neue Spielsituation nach dem Platzverweis sollte daher Auswärtsmannschaften besser gelingen als Heimmannschaften. Die Heimmannschaft hat deswegen keinen Spielraum mehr, eine Schwächung durch zusätzliche Motivation auszugleichen. Der positive Motivationseffekt macht jedoch auch die geschwächten Gäste nur für eine begrenzte Zeit zu Überfliegern. Trifft sie die Strafe früher als in der siebzigsten Minute, können sie ihre personelle Unterlegenheit nicht bis zum Ende durch mehr Einsatz ausgleichen.

Im Übrigen sind die Auswirkungen eines Platzverweises auf das Spielergebnis unabhängig von der Zuschauerzahl und der Frage, ob es sich um ein Derby handelt.

Aus der Untersuchung lasse sich, so Mario Mechtel, ganz klar eine Empfehlung für das Spiel einer Gastmannschaft ableiten: "Ein Platzverweis gegen die Gastmannschaft wirkt sich nur dann negativ auf ihr Abschneiden aus, wenn er vor der 70. Minute gegeben wird. Foulspiele oder andere zu Platzverweisen führende Aktionen zahlen sich für Gastmannschaften also durchaus positiv aus, wenn sie nicht zu früh im Spiel stattfinden." Ein Platzverweis gegen die Heimmannschaft wirke sich hingegen negativ auf ihr Abschneiden aus. Im Durchschnitt verschlechtere sich das Ergebnis (gemessen am Unterschied zwischen den Toren der Heim- und der Gastmannschaft) durch den Platzverweis um ein halbes Tor.

Die Studie ist abrufbar unter:
http://ssrn.com/abstract=1571867

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution81


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Eberhard Karls Universität Tübingen, Michael Seifert, 08.07.2010
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Juli 2010