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FORSCHUNG/107: Sportinformatik in Mainz (JOGU Uni Mainz)


[JOGU] Nr. 205, Juni 2008
Das Magazin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Körperliche Belastungen simulieren
Sportinformatik in Mainz

Von Frank Erdnüss


Wie hängen Computer mit Sport zusammen? Sicher denken die meisten jetzt an das sportliche Alternativprogramm, das viele Eltern ihren Kindern "verordnen" - als Ausgleich zu den beliebten PC-Spielen. An der Uni Mainz beschäftigen sich Wissenschaftler dagegen mit der Symbiose von beidem. Sie versuchen zum Beispiel mit Hilfe von computergestützten Simulationen, den Trainingsplan von Athleten zu optimieren.


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Aktuell sind die Sportinformatiker gefragt wie nie zuvor. Kürzlich kam beispielsweise eine Anfrage aus China zur Gestaltung eines Vorolympischen Kongress im August 2008. Die Mainzer sagten zu und werden nun eine zentrale Rolle bei der Tagung spielen. Der Veranstalter, die Nanjing Normal University, hat rund um die Spezialisten der Johannes Gutenberg-Universität ein Tagungsprogramm zusammengestellt, das die unterschiedlichen technologischen Ansätze zur Unterstützung von Sportpraxis und -wissenschaft beleuchtet und auf die Informatik fokussiert. Einen Monat später findet dann am Internationalen Begegnungs- und Forschungszentrum für Informatik, Schloss Dagstuhl, ein interdisziplinäres Seminar zur Sportinformatik in Zusammenarbeit mit der deutschen Gesellschaft für Informatik (GI) statt. Eine solche Veranstaltung fand erstmals 2006 statt und es bestehen gute Aussichten, eine Seminarreihe zum Thema Sportinformatik im Dagstuhl-Programm zu etablieren. Im Januar 2009 werden dann Brücken zu Technologie und Kunst geschlagen: im Heinz Nixdorf Museums-Forum in Paderborn soll die Ausstellung "Computer. Sport" eröffnet werden, an der die Mainzer mit einer innovativen Videoinstallation beteiligt sind. Es handelt sich dabei um die Analyse und Präsentation von Fußballspielen mit Hilfe neuronaler Netzwerke. Besucher der Documenta 2007 in Kassel haben die Installation von Harun Farocki unter dem Titel Deep Play" vielleicht schon gesehen.

Vorangetrieben werden diese Aktivitäten maßgeblich von dem Mainzer Informatiker Prof. Dr. Jürgen Perl. Er hat das Wissenschaftsgebiet "Sportinformatik" vor rund 25 Jahren begründet und inzwischen weltweit etabliert. Der 1971 in Berlin promovierte Mathematiker war damals aktiver Leichtathlet und begeisterte sich gleichzeitig für Informatik. "Den Anstoß gaben die Diskussionen mit einem Freund, der Sport studiert hatte. Wir haben beide in unseren Fachzeitschriften publiziert und uns dann irgendwann überlegt, doch auch einmal zusammen einen Artikel zu schreiben. Es wurde schließlich ein Buch, das 1981 erschien und den Grundstein für die Sportinformatik legte", erzählt Perl. Im Jahr 1989 organisierte Perl zusammen mit Dr. Hans-Jürgen Schröder einen Workshop zum Thema "Sport & Informatik". Diese Veranstaltung hatte so großen Erfolg, dass sie bereits ein Jahr später wiederholt wurde und seither alle zwei Jahre stattfindet. Offiziell wurde die Sportinformatik dann 1995 als neue Wissenschaftsdisziplin in das Spektrum der Sportwissenschaft aufgenommen. Es folgten weitere internationale Symposien, 1997 in Köln, 1999 in Wien und 2001 in Cardiff; derzeit sind die Veranstaltungstermine bis 2013 ausgebucht. Auf Initiative von Prof. Perl wurde dann 2003 in Barcelona die International Association of Computer Science in Sport (IACSS) gegründet, deren Ehrenpräsident Perl heute ist.

Aber was machen Sportinformatiker nun genau? Perl, der seit 1984 in Mainz arbeitet, nennt als erstes Stichwort Simulation. "So wie heute Crash-Tests mit Autos, Schiffen und Flugzeugen kostengünstig simuliert werden, können auch wir bestimmte körperliche Belastungen beim Sport simulieren. Aus der Biomechanik wissen wir, wie Sehnen und Gelenke funktionieren und bei bekannter Geschwindigkeit können wir dann zum Beispiel vorhersagen, was ein Reckturner aushalten muss, wenn er nach dem Salto auf dem Hallenboden landet", erläutert Perl und ergänzt: "Darüber hinaus können wir auch Trainingseinheiten optimieren, indem wir individuelle Simulationen erstellen. Das heißt, wir können berechnen, wie der jeweilige Sportler am besten trainieren sollte, um eine optimale Leistung zu bringen ohne dabei seinen Körper zu überlasten." Voraussetzung dafür ist natürlich, dass zuvor die spezifische Leistungsfähigkeit des Sportlers in das Computersystem eingegeben wurde. Dazu registriert man etwa bei einem Läufer über kurze Zeit (Kalibrierungsphase) die Pulsfrequenz und die Geschwindigkeit und berechnet dann daraus die individuellen Leistungsparameter. Statt der Pulsfrequenz können zum Beispiel auch Lactatwerte oder die Konzentration der roten Blutkörperchen als Leistungsindikatoren verwendet werden. Nach dieser nur drei bis vier Minuten dauernden Kalibrierungsphase, die stets einen Dynamikwechsel beinhalten sollte, wird gerechnet. Bei Läufern können so allein aus der Laufgeschwindigkeit die Pulswerte als Leistungsdaten berechnet und auch vorhergesagt werden. Teilweise ergibt das erstaunliche Ergebnisse: In einer Studie mit Daten der Sporthochschule Köln kam heraus, dass Athleten die gleiche Leistung bringen könnten, auch wenn sie bis zu 30 Prozent weniger trainierten.

Bei Marathonläufern reicht dagegen laut Perl eine solch kurze Kalibrierungsphase nicht aus. Um hier eine verlässliche Simulation des physiologischen Zustands während des Trainings zu erstellen, müssen die Leistungsdaten kontinuierlich abgegriffen werden. Nur so lassen sich auch Ermüdungserscheinungen bei längerem Laufen berücksichtigen. Dabei wirken Belastungssteigerungen und -reduktionen mit unterschiedlichen Verzögerungen, die der Läufer nur schwer einschätzen kann. Perl und sein Team konnten zeigen, dass diese verzögerte Wirkung von Be- und Entlastung berechnet werden kann und so dem Athleten hilft, seinen Lauf besser einzuteilen. Perl, dessen Arbeitsgruppe sich mit diesen "Belastungs-Ermüdungs-Simulationen" international einen Namen gemacht hat, erzählt dazu noch ein Beispiel der deutschen Schwimmer, die ja bekanntlich bei der Olympiade 2000 in Sydney gescheitert waren. Die Athleten hatten eine Woche vor den Wettkämpfen noch hart trainiert. "Dadurch kam es in der Olympia-Woche zu einem Leistungsabfall und erst anschließend wieder zur Höchstform. Das können wir mit unseren Simulationen auch sehr schön zeigen", so Perl. Der Misserfolg wäre also vorhersehbar gewesen.

Der zweite große Forschungsbereich, in dem die Mainzer Sportinformatiker weltweit führend sind, sind die sogenannten neuronalen Netze. Sie spielen bei der oben erwähnten Videoinstallation die zentrale Rolle. Es handelt sich dabei um Matrizen von etwa 20 mal 20 "Neuronen", in denen zuvor beobachtetes Verhalten verarbeitet und analysiert wird. Das muss man sich folgendermaßen vorstellen: Per Video oder Radar werden die Laufwege von Fußballern während eines Spiels aufgezeichnet. So etwas ist in der 1. Bundesliga bereits gängige Praxis. In diesen Laufweg-Daten offenbart sich sowohl das Engagement des Spielers als auch sein taktisches und spielerisches Können. Die komplexen Positionsdaten werden in das neuronale Netz eingespeist und es kann dann per Computer berechnet werden, ob der Spieler zum Beispiel dem taktischen Konzept des Trainers gefolgt ist und wie kreativ sein Spiel war. Gerade die Kreativität entscheidet ja oft über Sieg oder Niederlage: ein überraschender Bewegungsablauf oder die berühmte Bananenflanke direkt ins Tor. "Gerade wurde uns in diesem Bereich ein zweijähriges Forschungsprojekt von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) genehmigt", freut sich Perl.

Nun kann man sich fragen, ob diese aufwendigen Rechnereien überhaupt nötig sind, um das Können eines Fußballers zu beurteilen. Das Video an sich zeigt ja auch schon viele Details, besonders in der Zeitlupe. "Stimmt", sagt Perl, "aber es gibt eben doch Nuancen, die man im Film nicht wahrnimmt, die aber für den sportlichen Erfolg wichtig sein können. So haben wir zum Beispiel in Kooperation mit der Universität Bremen Basketballspieler beim Freiwurf analysiert. Dort ergaben sich nach der Analyse im neuronalen Netz deutliche Unterschiede sowohl zwischen den Spielern als auch zwischen den einzelnen Würfen eines Spielers." Ähnliches berichtet der Experte von Ruderern, deren Bewegungsablauf im neuronalen Netz geprüft wurde. "Da gab es einen, der am Ende des Ruderschlags immer noch eine minimale Kreisbewegung mit der rechten Hand machte, nur einige Hundertstel Sekunden lang. Das summiert sich und kann den Sieg kosten, ohne dass man im Video die Ursache erkennt", berichtet Perl.

Letztlich helfen die Sportinformatiker also dabei, Ressourcen zu schonen und die Effizienz zu erhöhen. Das ist natürlich nicht nur im Sport gewünscht, sondern auch in der Arbeitswelt. Die Berechnungen mittels der neuronalen Netze optimieren Bewegungsabläufe, indem sie unkoordinierte beziehungsweise ineffektive Bewegungen identifizieren.

"Rehabilitationsmaßnahmen können ebenfalls überwacht werden", erklärt Perl, "wir haben schon derartige Pilotprojekte mit Kliniken, zum Beispiel nach Knie-Operationen, durchgeführt. Es war mit unseren Methoden gut zu erkennen, wann ein Patient in den kritischen Bereich kommt, das heißt Bewegungen macht, die seine Rehabilitation verzögern." Ein weiterer Anwendungsbereich ist die Talentsichtung in Schulen. Gut veranlagte Fußballer, Handballer oder Basketballer können über die Analyse ihrer Bewegungsabläufe ebenso ausfindig gemacht werden wie Turner oder Leichtathleten. Bleibt zu hoffen, dass sich die Trainer den Methoden der Sportinformatik zukünftig nicht mehr verschließen. Die althergebrachten Trainingskonzepte sind gut, aber in mancher Hinsicht eben doch verbesserungsfähig.


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Quelle:
[JOGU] - Magazin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Nr. 205, Juni 2008, Seite 16-17
Herausgeber: Der Präsident der Johannes Gutenberg-Universität Mainz,
Univ.-Prof. Dr. Georg Krausch
Tel.: 06131/39-223 69, -205 93; Fax: 06131/39-241 39
E-Mail: AnetteSpohn@verwaltung.uni-mainz.de

Die Zeitschrift erscheint viermal im Jahr.
Sie wird kostenlos an Studierende und Angehörige
der Johannes Gutenberg-Universität sowie an die
Mitglieder der Vereinigung "Freunde der Universität
Mainz e.V." verteilt.


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. Juli 2008