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BERICHT/679: Olympische Spiele 1972 - Ein Modell? (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 17 / 24. April 2012
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

Olympische Spiele 1972 - Ein Modell?

Von Helmut Digel



1896‍ ‍fanden in Athen die ersten Olympischen Spiele der Moderne statt. Seit diesem Zeitpunkt wurden die Olympischen Sommerspiele 22 Mal ausgetragen, und im August werden die 23. Olympischen Spiele der Neuzeit in London stattfinden.

Sprechen wir von der Idee des Olympismus, so wie sie von Coubertin gedacht wurde, denken wir an die besonderen Merkmale, die Olympische Spiele auszeichnen sollen und sie damit von Weltmeisterschaften und anderen sportlichen Großereignissen zu etwas Besonderem machen, sind Sommerspiele im Vergleich zu den Winterspielen von ganz besonderer Bedeutung. Die Sommerspiele haben im wahrsten Sinne des Wortes eine globale Reichweite. Mit den 28 Sportarten wird eine Olympische Sportkultur gespiegelt, mit der sich die ganze Welt identifizieren kann. Vergleicht man die bislang durchgeführten Olympischen Sommerspiele, lassen sich erfolgreiche von weniger erfolgreichen unterscheiden. Unter finanziellen Gesichtspunkten waren manche Spiele besonders nachhaltig, andere haben sich als finanzielles Desaster für die Gastgeber erwiesen. Die Gefahr der weißen Elefanten, die manche Spiele den Gastgebern als besonderes Ärgernis hinterlassen, ist offensichtlich. Wenn in diesem Jahr aus einer vierzigjährigen Distanz auf die Olympischen Spiele von 1972 zurückgeblickt werden kann, lohnt es sich gerade die zweiten Olympischen Spiele, die auf deutschem Boden stattgefunden haben, einer genaueren Vergleichsanalyse zu unterziehen.

Mein Urteil über solch einen Vergleich möchte ich vorwegnehmen: Die Spiele von München waren außergewöhnliche Spiele, sie haben bis heute eine nachhaltige Wirkung, und betrachtet man sie vor dem Hintergrund der Ideen von Pierre de Coubertin, so haben sie einen Modellcharakter, wie er zuvor und danach von keiner anderen Austragungsstadt erreicht werden konnte.

Lobt man als Deutscher die Leistungen Münchens, so ist ohne Zweifel die Gefahr der Parteilichkeit gegeben, und ist Eigenlob mit Eigeninteressen verbunden, so ist dies gewiss nicht hilfreich. Ich nehme jedoch an, dass die Spiele von München auch aus einer Außenperspektive betrachtet als außergewöhnliche Spiele erkannt werden und dass die besonderen Merkmale, durch die sich diese Spiele ausgezeichnet haben, von all jenen nachvollzogen werden können, die sich ein Urteil über die Qualität Olympischer Spiele machen können. Mein Vergleich beruht nicht nur auf meinen vor Ort gemachten Beobachtungen bei den jüngeren Olympischen Sommerspielen seit Barcelona; bei denen ich selbst anwesend sein durfte. Atlanta, Athen, Peking und Sydney waren jeweils sehr eindrucksvolle Spiele und können sich dabei durchaus mit München vergleichend betrachten lassen. Mein Vergleich beruht auch auf einer historischen Analyse aller Dokumente zu den übrigen Spielen und Zeitzeugendarstellungen, wie sie es zu den Spielen im Zwanzigsten Jahrhundert gegeben hat. Berücksichtigt man diese Dokumente, Beschreibungen, Erfahrungen und Beobachtungen, so hat sich München vor allem durch die besondere Symbiose von Hochleistungssport, Wissenschaft, internationaler Kunst, Literatur, Musik und Architektur ausgezeichnet.

Allein das äußere Erscheinungsbild dieser Spiele war außergewöhnlich. Nie zuvor gab es eine derart abgestimmte architektonische Konzeption für den sogenannten Olympiapark, nie zuvor gab es ein derart eindrucksvolles Farbkonzept, ein vergleichbar originelles Design, wie dies bei den Spielen von München der Fall war. Architekten, Designer und Künstler mit höchster internationaler Reputation zeichneten hierfür verantwortlich. Günter Behnisch und Otl Aicher stehen hierfür stellvertretend.

Blau und Ocker waren nicht nur die Farben, die Plakate, Piktogramme und das sonstige Informationsmaterial geprägt haben; Blau und Ocker waren auch die Farben der Stadt München. Die Spiele waren mit ihren Olympischen Farben in jedem Stadtteil Münchens präsent, und die Spiele wurden auch in all diesen Stadtteilen Tag für Tag gelebt. Die Zeltdach-Konstruktionen der Sportstätten und der Olympiaturm waren die herausragenden Merkmale eines ästhetischen Gesamtbildes, das man so in der Welt des Sports zuvor noch nicht gekannt hat. Sie wurden zu einem Ausdrucksmittel einer offenen Gesellschaft, die noch vor wenigen Jahrzehnten als geschlossene Gesellschaft die Welt terrorisiert hatte.

Diese neue Offenheit spiegelte sich auch in den Konzerten, Lesungen, Ausstellungen und Kulturveranstaltungen wieder, die aus Anlass der Spiele in München stattgefunden haben. Besonders vielfältig waren die Ausstellungen, die die Spiele begleiteten. Nahezu jedes öffentliche Museum wies eine besondere Beziehung zur Geschichte des Olympismus auf.

Imponierend war auch der Olympische Wissenschaftliche Kongress. Wie nie zuvor und wie auch niemals danach war er ein wirklicher Teil der Spiele. Herausragende Wissenschaftler aus aller Welt begegneten sich, und wichtige Erkenntnisse über die Zukunft des internationalen Sports wurden ausgetauscht. Wissenschaftler wie Puni, Heinilä, Grupe, Landry, Sutton Smith oder Cratty stehen stellvertretend für die Scientific Community, die ganz und gar bereit war, ihre Dienste dem Olympismus bereitzustellen.

Nie zuvor wurden auch so viele Essays, Novellen und Romane den Olympischen Spielen gewidmet, wie dies in den Tagen von München der Fall war. Ganz besonders zu beachten war der internationale Plakatwettbewerb an dem sich die herausragenden Künstler aller Kontinente beteiligt haben. München 1972 kann durchaus als Aufbruch zu Gunsten einer modernen Plakatkunst bezeichnet werden.

Viele haben zu diesem Erfolg beigetragen. Besonders zu erwähnen ist dabei allerdings die Rolle des Präsidenten des Nationalen Olympischen Komitees für Deutschland, Willy Daume, der auch IOC-Vizepräsident war. Er hat die Spiele als eine besondere Lebensaufgabe gedeutet. Anders als sein Nachfolger hatte er eine Vision vom Olympischen Sport, sah sich direkt den Ideen von Pierre de Coubertin verpflichtet, und er wusste, was die besondere kulturelle Bedeutung des Sports auszeichnet.

Anders auch als auch die damals sonst üblichen Funktionäre war er eingebunden in die philosophischen Reflexionen über den Sport, hatte Interesse an wissenschaftlichen Erkenntnissen und zeichnete sich durch beste Beziehungen zu Kunst, Musik und Literatur aus. Dies alles kam den Olympischen Spielen von München 1972 in einmaliger Weise entgegen und ermöglichte es, dass sich diese Spiele bis heute als nachhaltig erwiesen haben. Doch sie sind nicht nur nachhaltig, sie haben auch Modell und Zeigefunktion für die Weiterentwicklung des modernen Olympismus. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) wäre gut beraten, würde es sich an den positiven Merkmalen dieser Spiele orientieren.

Gewiss sind die Spiele von München auch ein Modell im negativen Sinne; doch auch diesbezüglich haben diese Spiele eine zukunftsorientierte Zeigefunktion. Die Ermordung der israelischen Athleten ist nicht nur ein Mahnmal, das für immer auf die Gefahren hinweist, die mit Olympischen Spielen verbunden sind. Der palästinensische Terror verweist auch auf das Versagen der Politik, auf die Unfähigkeit bestimmter Staatsapparate und auf die Notwendigkeit, das Sicherheitsproblem bei zukünftigen Sport-Großveranstaltungen in ganz anderer Weise einzulösen, als dies 1972 der Fall war.

Spricht man von den Schattenseiten dieser Spiele, so ist auch der Dopingbetrug zu erwähnen. München '72 stellte ein erstes Mahnmal, ohne dass die Verantwortlichen die richtigen Schlüsse daraus zogen. Die ersten offiziellen Dopingverbote des IOC und der internationalen Verbände und die Einführung von Kontrollen sind Hinweise dafür, dass in München auch Betrüger Medaillen gewonnen haben.

Im Schlechten wie im Guten ist München 1972 ein wichtiger Wegweiser. Bei der Ausrichtung zukünftiger Spiele wird es sich lohnen sich an diesem Wegweiser zu orientieren.

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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 17 / 24. April 2012, S. 35
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Mai 2012