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BERICHT/665: Sport ist kein Allheilmittel (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 45 / 9. November 2010
Der Artikel- und Informationsdienst des Deutschen Olympischen Sportbundes (DOSB)

Sport ist kein Allheilmittel
Beim 25. Darmstädter Sport-Forum diskutiert Professor Helmut Digel über Widersprüche, Gefahren und Entwicklungen im Sportsystem

Von Hans-Peter Seubert


"Sport wird für alles instrumentalisiert." Zum Auftakt des 25. Darmstädter Sport-Forums zeigte Professor Helmut Digel (Uni Tübingen) Widersprüche, Risiken und Zerfallserscheinungen im deutschen Sportsystem auf. Der Begründer der sportwissenschaftlichen Vortragsreihe referierte vor 400 Zuhörern im vollbesetzten Hörsaal der TU Darmstadt "Zur Lage des Sports in Deutschland."

"Der Sport hat erst sein eigenes Problem zu lösen, bevor er glückselig macht," war eine der Kernthesen des 66 Jahre alten Sportsoziologen, der von 1986 bis 2002 in Darmstadt lehrte und forschte. Beispielhaft untersuchte er die Brennpunkte Gesundheits-, Schul-, Vereins- und Hochleistungssport, sowie die Sportstätten. Mangel an Offenheit und Verantwortung. Missbrauch der Werte und Leistungen belegte der Schwabe in seiner Analyse, die am Ende großen Beifall erntete, Kommerz, Betrug, Manipulationen, Geschäft entwickelten Gefahrenpotenzial, das die Existenz der Solidargemeinschaft bedrohe. Erkenntnisse, Papiere, Konzepte und Handlungsempfehlungen, so Digel, existierten zuhauf. Der Umsetzung jedoch gab er die Note mangelhaft. Den Hochleistungssport beschrieb er als Teil einer Lotteriegesellschaft, in der der Wunsch, Millionär zu werden, nahezu alles präge. "Alle reden von Verantwortung, doch niemand ist bereit, die Verantwortung zu übernehmen, was täglich in diesem Hochleistungssport stattfindet." Bereicherung sei angesagt: "Der Sport schafft in einem kaum noch nachvollziehbaren Ausmaß unverdiente Reichtümer." Kommerz und Ökonomisierung zögen Betrug als notwendiges Instrument des Erfolges und Manipulation der Leistung als selbstverständlichen Teil des Sportalltags nach sich.

Im Vereinssport - für das demokratische Gemeinwesen von grundlegender Bedeutung - führe Professionalisierung zur Abwertung des Ehrenamtes, das auch mehr gesellschaftlichen Respekt verdiene. Zerfall und Veränderungen in der Vereinsentwicklung schritten voran. Der profitorientierte Dienstleister dränge die freiwillige Freizeitvereinigung ins Abseits. Obendrein verabschiede sich der Staat geradezu fahrlässig von staatlichen Aufgaben. "Auch für die Vereine zählt oft nur die Logik des Geldes. Alles wird einem Kosten-Nutzen-Kalkül unterstellt", sagte Digel. Interessen-Konflikte zwischen Wettkampf- und Freizeitsport, Konkurse, der Mangel an Ehrenamtlichen für die Tagesarbeit, "auch hier stellt sich das Problem der Verantwortung". Die Frage nach Angemessenheit der Sportstätten stelle sich immer dringender. Die Inflation von reinen Fußball-Stadien, ohne Sicherung der Finanzierbarkeit und Nachhaltigkeitskonzept, kennzeichnet für Digel ein Demokratie-Verständnis der kommunalen Entscheidungsträger, das sich auf einen Parteienwettbewerb reduziere. "Der geometrische, rechteckige Raum, für die Sportkultur des 20. Jahrhunderts prägend, ist nicht mehr angemessen", sagte er. Multifunktionalität sei gefordert.

Die medizinische Wunderwaffe Sport existiert für Digel nicht. Instrumentalisierung unterschlage die lebenswerte Qualität des Sports ebenso wie psychische und physische Aspekte des menschlichen Wohlergehens und ganzheitliche Betrachtung. "Mit diesem verkürzten Verständnis von Gesundheitssport werden vor allem jedoch die bestehenden Vereinsstrukturen gefährdet. Oft entsteht eine völlig neue Mitgliederstruktur." Im Gesundheitssport, sagte er, bestimmten inzwischen Bonus-Malus-Maßstäbe, die Lebensqualität weitgehend auf medizinische Maßstäbe verkürzten. "Der Gesundheitssport ist dabei längst zu einem Allheilmittel geworden, das nahezu für jedes Krankheitsbild präventiv, therapeutisch und rehabilitativ wirksam sein soll." Hart ging der Sportwissenschaftler mit dem Schulsport ins Gericht: "Auf dem Papier durchaus durchdacht", in der Praxis eine Katastrophe. "Die fachliche Qualität des Unterrichts kann oft nicht befriedigen." Kopflastigkeit dominiere ganzheitliche Bildung. "Im Grunde genommen hat der Sport im heutigen Schulleben so gut wie keine Bedeutung." Erzieherische Mangelsituation und der Verlust motorischer Grundfähigkeiten seien die Folge. Von 100 Kandidaten für ein Sportstudium schafften heute in Baden-Württemberg 20 die Eignungsprüfung - von der Güte des Sportabzeichens. "Vor allem Bildungspolitiker schreiben die Schulsportmisere fort." Qualität und Potenziale des Sports für eine lebenswerte Gesellschaft liegen für den früheren Direktor des Instituts für Sportwissenschaft der Universität Tübingen, der dieses Amt 2010 aufgab, nach wie vor in den Grundwerten Solidargemeinschaft, Fairplay, Leistung, Spaß an der Bewegung, demokratisches Grundverständnis und Prävention. "Der Sport kann auch bei der Lösung der sozialen Probleme eine Hilfe sein." Allheilmittel sei er nicht.

Sport schaffe Arbeitsplätze, ermögliche Identifikation und Begeisterung, sei wichtige Dienstleistung in der Gesellschaft. "So gesehen ist der Sport ein nicht ersetzbares Kulturgut, das es zu erhalten und weiter zu entwickeln gilt." Doch "die Wachstumsbranche des 20. Jahrhunderts" - deren Ausdifferenzierung und Bedeutung als Wirtschafts- und Medienfaktor - leide an Qualitäts- und Realitätsverlust. Digel: "Masse ist nicht Klasse. Flotte Sprüche und seichtes Marketing-Geschwätz können auf Dauer Fehlleistungen nicht verbergen." Die Fülle von Widersprüchen, in einer verwirrenden, komplexen Struktur, belegen für ihn die bedrohlichen Zerfallserscheinungen der über Jahrzehnte segensreichen Solidargemeinschaft.


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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 45 / 9. November 2010, S. 25
Der Artikel- und Informationsdienst des
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veröffentlicht im Schattenblick zum 17. November 2010