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BERICHT/599: Fachtagung "Schule und Sport" (DOSB)


DOSB-Presse Nr. 27 / 30. Juni 2009


Die Ganztagsschule ohne Sportverein ist ein Ding der Unmöglichkeit
1. Fachtagung "Schule und Sport" des Deutschen Olympischen Sportbundes und der Deutschen Sportjugend in Frankfurt am Main

Von Andreas Müller


(DOSB PRESSE) Wenngleich die Proteste gegen das Modell derzeit auf den Straßen unüberhörbar sind, scheint klar: G8, also die Verkürzung der Gymnasialzeit auf acht Jahre, und die Tendenz des weiteren Übergangs zur (offenen) Ganztagsschule ist scheinbar nicht aufzuhalten. Der Sport muss dieser bildungspolitischen Neujustierung nüchtern ins Auge schauen und die entsprechenden Konsequenzen daraus ableiten. Furcht vor G8 und Ganztagsschulen ist ein ebenso schlechter Ratgeber wie die Hoffnung, dieses große Rad ließe sich womöglich zurückdrehen. Zu weit scheinen die Entwicklungen in den einzelnen Bundesländern und an den Schulen schon fortgeschritten, wie bei der vom Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) und seiner Deutscher Sportjugend (dsj) organisierten Fachkonferenz Sport & Schule deutlich vor Augen geführt wurde. Mit den Ganztagsschulen leben lernen, Sport und Bewegung gewissermaßen als große Kür in die Schulen hineinzutragen und dort operieren, wo die Pflicht des obligatorischen Schulsports endet, das ist eine der ganz große Zukunftsaufgaben des organisierten Sports in Deutschland, an der an der Basis schon jetzt mit Hochdruck gearbeitet wird. Dieses Geschehen genauer zu beleuchten, eine Bestandsaufnahme vorzunehmen und erste Erfahrungen auszuwerten, so gut es an einem Konferenztag geht, darin bestand der höchst zeitgemäße Anspruch der Fachkonferenz.


Sportvereine in der "Parallelwelt Schule" längst angekommen

Werden vor dem Hintergrund der bildungspolitisch gewollten Veränderungen im neuen System nun für die Sportvereine flächendeckende Kooperationen mit den Ganztagsschulen unumgänglich und geradezu lebensnotwendig oder sind die Sportvereine in der neuen Konstellation womöglich bedroht? So etwa stellte Professor Nils Neuber von der Westfälischen Wilhelm-Universität Bielefeld in seinem Impulsreferat die Gretchenfrage und führte zugleich vor Augen, in welche Zwickmühle die Sportvereine geraten, wenn sie mehr und mehr in die Parallelwelt Schule eintauchen. Schule, das sei allein schon deshalb etwas ganz Anderes, weil es sich um eine Pflichtübung handelt, während dem Vereinswesen prinzipiell Freiwilligkeit zugrunde liegt. Entsprechend gerieten zwei grundlegend verschiedene Typen miteinander in Beziehung und habe es vielschichtige Folgerwirkungen, wenn Vereine als Anbieter von Sport und Bewegung in die Schulen gingen. Wer trägt in diesen Stunden die Verantwortung, Übungsleiter/-innen oder Lehrer/-innen? Kann es sein, dass Trainer/-innen am Ende bei ihren Schützlingen sogar über Kopfnoten in den Zeugnissen mitbestimmen, wie mancherorts schon Praxis? Wie reagieren die Sportlehrer/-innen darauf, wenn ihre Schülerinnen und Schüler nachmittags mehr und mehr unter die die Fittiche von Vereinspersonal geraten? Wie reagieren die Mädchen und Jungen darauf, die nun plötzlich ihren/ihre Sportlehrer/-in oder den/die Übungsleiter/-in mehr mögen und für kompetenter halten? Wie qualifiziert ist der/die Vereinsvertreter/-in in der Ganztagsschule und wie qualifiziert müsste er sein, sportlich wie pädagogisch?

Prof. Neuber verwies auf ein ganzes Arsenal an ganz praktischen Fragen, auf die es wissenschaftlich gesichert und aufbereitet bisher kaum Antworten gibt, von denen die Konferenz-Teilnehmer/-innen jedoch einhellig der Meinung waren, dass sie sich diese Fragen in der Praxis genau so stellen. Entsprechend nahe lag der Hinweis einer Konferenz-Teilnehmerin aus den neuen Ländern, die mehr gründliche Analysen über den Stand der Dinge anregte. Eine Studie insbesondere über die neuen Länder, wo die Ganztagsschulen schon länger Praxis sind und die Vereine sich entsprechend arrangieren und verhalten müssen, liege nahe, um Erkenntnisse darüber zu erhalten, um fit für die Zukunft zu werden und die Herausforderung möglichst ohne "Kinderkrankheiten" zu meistern. Noch überwiegen die persönlichen Erfahrungen, wonach Übungsleiter die "Hochnäsigkeit von Sportlehrern" beklagen und umgekehrt die Pädagogen die "Hemdsärmeligkeit der Hobbylehrer". Die beständigste Variante, solcherlei Vorbehalte abzubauen und zu beenden, scheint in der Erkenntnis zu liegen, dass beide Seiten - die ausgebildeten Sportlehrer an den Schulen wie die Vertreter des organisierten Sports aus seinen Vereinen - an der Persönlichkeitsbildung derselben Schüler mitwirken. Dieser Lernprozess bei den Erwachsenen ist unausweichlich, weil die "Ära Nebeneinander" von Schule und Vereinssport de facto beendet ist und die "Ära Miteinander" schon weit fortgeschritten und die Zukunft dominieren wird.


Essener Pilotstudie widerlegt Vorurteile

Im gerade vorgestellten zweiten Sportentwicklungsbericht zur Situation der Sportvereine in Deutschland ist unter anderem festgehalten, dass für sie Kooperationen und Vernetzungen zunehmend den Alltag prägen. Die Zahl der Partnerschaften schnellte zwischen 2005/2006 und 2007/2008 enorm in die Höhe. Bei den Beziehungen zu Wirtschaftsunternehmen stieg die Quote in diesem Zeitraum von 21 Prozent auf fast 45 Prozent, bei der Zusammenarbeit mit Jugendämtern von 15 Prozent auf 36 Prozent, mit kommerziellen Sportanbietern von 11 Prozent auf 36 Prozent und bei Kooperationen mit Kindergärten und Kitas sogar von 24 Prozent binnen zwei, drei Jahren auf 47 Prozent. All diese Partner wurden in der jüngsten Vergangenheit von den Sportvereinen erst für sich entdeckt, während andere Verbindungen im Vergleichszeitraum relativ konstant blieben. Beispielsweise die Größenordnung hinsichtlich der Vernetzung von Sportvereinen mit Schulen (Steigerung von 62 Prozent auf 70 Prozent) sowie mit anderen Vereinen (von 70 Prozent auf fast 80 Prozent). Hoch gerechnet heißt das, weit über die Hälfte der Sportvereine hat sich bereits - in ganz unterschiedlicher Qualität und Intensität - auf Kooperationen mit Schulen eingelassen. Über die Hälfte verfügt also schon über ganz praktische Erkenntnisse, wie es laufen kann, wo Hürden stehen, ob und wie sie übersprungen werden können. Hier schlummert für das Beziehungsgeflecht zwischen "Sport und Verein" ein wahrer Schatz an Erfahrungen. Präzise Studien indes, wie sie Professor Roland Naul von der Universität Essen-Duisburg bei der Fachkonferenz im Arbeitskreis "Chancen und Risiken für die Sport-vereine innerhalb der Sportentwicklung" vorstellte, haben bislang Seltenheitswert und sind Mangelware.

Einige Fakten der Studie: In Essen tritt derzeit nur ein Sechstel aller Sportvereine, die eine Kooperation mit Ganztagsschulen stemmen könnten, tatsächlich als Anbieter auf. Die Hälfte der Vereine fühlt sich überfordert, früh am Nachmittag qualifizierte Angebote zu machen. Trotz allem sind Sportvereine in Essen in fast 52 Prozent aller Ganztagsschulen der Stadt aktiv und machen durchschnittlich zwei Angebote pro Woche. Andersherum betrachtet: 48 Prozent der Essener Schulen agieren bislang "am organisierten Sport vorbei", wie es Naul ausdrückte. Fast 90 Prozent der Schulen sind mit dem, was die Vereine dort leisten, zufrieden. Als Problem kristallisierte sich heraus, dass der Personenkreis der Übungsleiter und Trainer "von außen" zu stark wechselt und zu schwankend sei.


Weiterbildung und einheitliche Lizenzierungsstandards als Basis

"Die Schulen möchten Beständigkeit und möglichst eine längerfristige Zusammenarbeit mit demselben Personenkreis", berichtete Roland Naul und schlug den Bogen zum Eingangsreferat von Nils Neuber. Die "Vereinslehrer" seien deutlich größeren pädagogischen Anforderungen ausgesetzt, zum Beispiel indem sie mit schwierigen Kindern fertig werden müssen. Die grundlegende Erkenntnis: An der Qualifizierung und Weiterbildung von jenen Personen, die im Namen und Auftrag der Sportvereine an Ganztagsschulen tätig werden, führt kein Weg vorbei! Dies sei für die Vereine das A und O, um die neue Herausforderung erfolgreich zu meistern. Eine Erkenntnis, die in Rheinland-Pfalz bereits ganz praktische Konsequenzen zeigte. Um mit der Entwicklung Schritt zu halten (die Zahl der Ganztagsschulen wuchs dort von 80 im Jahr 2002 auf momentan über 500) wurde eine spezielle "B-Lizenz" für Übungsleiter kreiert, die an Ganztagsschulen zum Einsatz kommen. Dem lag die Einsicht zugrunde, dass "eine Schulklasse am Nachmittag etwas anderes ist als die Trainingsgruppe am Abend", wie Herbert Tokarski aus dem Bildungsministerium in Mainz anmerkte. Zwei Fortbildungsveranstaltungen zur B-Lizenz seien bereits abgehalten worden. Zudem wurden bei drei Vereinen im Rheinland, in Rheinhessen und der Pfalz drei "Regionale Beratungszentren für Sport im Ganztag" eingerichtet, die sich als ständige Ansprechpartner für dieses Themen verstehen. Rund 10.000 Euro stellt das Land dafür jährlich zur Verfügung.

Daran sollte sich die Landesregierung in Kiel dringend ein Beispiel nehmen, meinte Thomas Niggemann vom Landessportverband Schleswig-Holstein. Zugleich warb er in Bezug auf das Vereinspersonal, das in Schulen zum Einsatz kommt, für Mindeststandards. Sorge der Dachverband nicht für Vereinheitlichungen, könnte es in jedem der Bundesländer zu eigenen Standards kommen. Bildungspolitik bleibe natürlich Ländersache. Dennoch sollte es möglich sein, dass von Seiten des DOSB die Qualifikationsstandards zentral festgelegt werden. Der Dachverband solle "verbindliche und vergleichbare Ausbildungsstandards für das Kooperationsfeld Sportverein und Schule sicherstellen", so die Forderung von Thomas Niggemann.


Die große Ganztags-Welle rollt

Grundsätzlich herrschte auf der Fachkonferenz Einigkeit. Die Ganztagswelle rollt wie ein Tsunami auf die Sportvereine zu. Nur mit dem großen Unterschied, dass es sich hierbei keineswegs um eine Katastrophe handelt. Die Grundfrage, ob die Kooperation mit den Schulen mehr Chance oder mehr Risiko bedeute, wurde von den Teilnehmern zu Gunsten der neuen Möglichkeiten beantwortet, die sich für den organisierten Sport eröffnen. In der Praxis ist dieses Votum bereits angekommen, wie leicht anhand der Rahmenvereinbarungen zu erkennen ist, die zwischen den jeweiligen Landesministerien und den Landessportbünden mittlerweile in allen 16 Bundesländern existieren. Darin ist die Bereitschaft der Sportvereine festgeschrieben, am Ganztagsschulbetrieb mitzuwirken. Einer der Kernsätze der Vereinbarungen lautet, dass es von Seiten der Vereine bitteschön "regelmäßige, möglichst tägliche Sport- und Bewegungsangebote" an den Schulen geben soll.

Die Nachfrage landauf, landab scheint riesengroß. Was die Vermutung nahe legt, dass das Ganztagsschul-Modell ohne die Hilfe der Sportvereine praktisch gar nicht auskommt und ein Ding der Unmöglichkeit wird. Die Kernfrage liegt nun darin, Kompatibilität herzustellen. Das Bedürfnis nach Kooperation bei den Schulen scheint derart groß, dass es vom organisierten Sport aktuell gar nicht befriedigt werden kann. Drei Viertel aller Ganztagsschulen wollen Bewegungs- und Sportangebote integrieren, belegt die Essener Pilotstudie den lautstarken Ruf. Können die Vereine das nicht leisten, würden freie Anbieter die Chance nutzen, wobei - noch - jedermann als Partner in Frage kommt, den die Schulen akzeptieren.

Eines habe die Studie in Essen ganz deutlich herausgearbeitet. Es seine "eine Mär", dass, wer Ganztagsschule mitmacht, einen Mitgliederzuwachs in seinem Sportverein verhindert. Solche Vorurteile würden mit der Pilotstudie "eindeutig widerlegt", betonte Roland Naul. Vereine, die sich an den Schulen engagierten, hätten bei den 7- bis 14-Jährigen weit weniger Mitgliederverluste (1 Prozent Abgänge) als jene, die es bleiben ließen (5 bis 7 Prozent Abgänge). Auch diese Erkenntnis sollte Sportvereine ermuntern, auf der Ganztagswelle zu surfen und sich darauf einzustellen anstatt die Wogen ängstlich abwartend oder gar ablehnend auf sich zurollen zu lassen.


Komplexes Thema verlangt zwingend nach Folgeveranstaltungen

Zu den handfesten Ergebnissen der Fachkonferenz gehörte unter anderem, dass die Sportverbände und die Schulen vor Ort sich beiderseitig brauchen und sich im Zuge des immer weiteren Ausbaus der Ganztagsplattform in einer gemeinsamen "Win-Win-Situation" befinden. Um dieses Potential in einem komplexen Umfeld vollends auszuschöpfen, wird künftig bei den Sportvereinen mehr Hauptberuflichkeit notwendig sein, damit der Sportverein als kompetenter Partner im Kooperationskontext akzeptiert wird. Zum Beispiel wird - wie heute schon in Nordrhein-Westfalen praktiziert - an hauptamtlich geführten Koordinationsstellen kein Weg vorbeiführen, um die Bedürfnisse der Schulen und die Möglichkeiten der Vereine in eine gegenseitig nützliche Balance zu bringen.

Das Interesse an diesen Entwicklungen ist groß, wie die erfreuliche Resonanz bei der ersten Fachkonferenz bewies. Rund 100 Vertreter von Fachverbänden, Landessportbünden, Vereinen, Schulaufsichts- und anderen Behörden sowie aus Ministerien und wissenschaftlichen Institutionen waren der Einladung zur ersten Fachkonferenz Sport und Schule gefolgt. Begrüßt werden konnten ebenfalls Mitglieder der Kommission Sport der Kultusministerkonferenz (KMK). Der Tenor entsprach den Intentionen der Gastgeber: Das kann nur ein Anfang gewesen sein.


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Quelle:
DOSB-Presse Nr. 27 / 30. Juni 2009, S. 14-17
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veröffentlicht im Schattenblick zum 16. Juli 2009