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BERICHT/579: Trainingsprogramm zum Schiedsrichter-Entscheidungsverhalten (Portal - Uni Potsdam)


Portal - Die Potsdamer Universitätszeitung 1-3/2009

Rempeln, Grätschen, Trikotzupfen
Ein Trainingsprogramm beschäftigt sich mit dem Entscheidungsverhalten von Schiedsrichtern

Von Thomas Pösl


Die Entscheidungsfähigkeit von Schiedsrichtern steht im Mittelpunkt eines Trainingsprogramms, das in den letzten zwei Jahren an der Professur für Sportpsychologie des Instituts für Sportwissenschaft der Universität Potsdam entwickelt wurde. Gefördert vom Deutschen Fußballbund (DFB) und vom Bundesinstitut für Sportwissenschaft, will es helfen, die Unparteiischen von ihrem Entscheidungsdruck zu befreien.


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Allwöchentlich wiederholt sich auf deutschen Fußballplätzen folgendes Szenarium: Die Nachspielzeit läuft. Beide Trainer sind plötzlich wütend aufgesprungen. War das Foul vor oder schon auf beziehungsweise hinter der Strafraumgrenze? War es überhaupt Foul oder regelkonformes Tackling? Oder gar eine Schwalbe? Der Blick des Linienassistenten signalisiert alles andere als Klarheit. Elfmeter oder doch nicht? Einfach weiterspielen lassen?

In einem solchen Moment scheint sich für den Schiedsrichter die Zeit extrem zu verdichten. In Sekundenschnelle muss er reagieren. Sein Pfiff entscheidet nicht selten über Sieg oder Niederlage. "Wir trainieren mit unterem Programm das sogenannte automatische Entscheiden, wie wir es beispielsweise aus dem Straßenverkehr kennen. Dort entscheiden wir in heiklen Situationen meist reflexartig, eben ohne abwägende Reflexion", so der Diplom-Psychologe Geoffrey Schweizer, der gemeinsam mit Prof. Dr. Ralf Brand sowie dem Leipziger Sozialpsychologen Prof. Henning Plessner an dem Programm arbeitet. Ziel ist es, das Selbstvertrauen von Schiedsrichtern in schwierigen Entscheidungssituationen zu optimieren und damit die Entscheidungskompetenz selbst zu verbessern.

Das Schiedsrichter-Entscheidungs-Training (SET) ist eine videobasierte Onlineplattform für angehende oder bereits praktizierende Referees. Die können per Mausklick Spielszenen verschiedener Kategorien auswählen, die sie in kürzester Zeit beurteilen sollen. Auch der Schwierigkeitsgrad dieser Szenen ist unterschiedlich. Entscheidend ist: Jeder "Proband" bekommt ein Feedback und wird individuell eingeschätzt. "Unsere Grundannahme ist, dass sich die Qualität der Entscheidungen substanziell verbessert, wenn man Entscheidungen sehr schnell zu treffen hat und dann eine Rückmeldung bekommt, welche richtig oder falsch war. Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass tatsächlich schon dieses minimale Feedback zu signifikanten Leistungsverbesserungen führt. Zudem können wir Aussagen darüber treffen, wo welcher Schiedsrichter Probleme hat. Mancher ist beim Rempeln weniger souverän als beim Grätschen."

Sportpsychologisch gesehen ist der Schiedsrichter von nicht geringem Interesse. Die Auswirkungen beispielsweise des Stadionlärms auf sein Agieren oder der Einfluss seines Vorwissens über bestimmte Spieler bei seinen Entscheidungen sind genauso interessant wie der so genannte Konzessionselfmeter "Unser Projekt tangiert derartige Fragen, da es an der Schnittstelle zwischen Forschung und Praxis liegt. Wir bringen quasi eine sport- und lernpsychologische Expertise." Absolviert wurden - das Projekt endete im Dezember - zwei größere Probetrainings, einmal mit achtzig Schiedsrichtern aus dem Raum Brandenburg und ein anderes Mal mit vierzig Schiedsrichtern aus dem Talentförderkader des DFB. Dort wird im April auch der bisherige Arbeitsstand präsentiert. "Wir wissen noch nicht genau, wie es dann weitergeht. Bislang lag unser Fokus ja ausschließlich auf Foul/Nichtfoul-Spielsituationen. Ob es beispielsweise einen Transfer der Lerneffekte aufs Spielfeld gibt, ist gegenwärtig noch nicht ersichtlich." Dass jedoch weiteres Handeln vonnöten ist, liegt auf der Hand. "Denn für einen Schiedsrichter dauert es relativ lange, bis er an die Spitze, also in die oberen Ligen gelangt. Und dort darf er dann auch nur begrenzt lange bleiben. Erklärtes Ziel ist es deshalb, die Schiedsrichter schneller auf Spitzenniveau zu bringen." Mit dem SET könnte der dazu erforderliche Expertiseerwerb sicherlich beschleunigt werden.

Brand und sein Team haben jedoch schon jetzt Grund zur Freude. Es gibt einen Anschlussforschungsauftrag des Bundesinstituts für Sportwissenschaft. Außerdem hielt das Potsdamer Schiedsrichtertrainingsprogramm nun Einzug in die I. Basketball-Bundesliga. Die Wissenschaftler sind also direkt in der Praxis angekommen.


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Quelle:
Portal - Die Potsdamer Universitätszeitung Nr. 1-3/2009, Seite 39
Herausgeber:
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veröffentlicht im Schattenblick zum 30. April 2009