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SPIELE/012: Olympias gebrochene Ringe - Kleine Diebe fängt man ... (SB)


Betrug beim Boxturnier - Traditionspflege im Weltverband



Betrug werde immer Bestandteil des Boxens bleiben, erklärte einst der Präsident des Weltverbands der Amateurboxer (AIBA), Anwar Chowdry aus Pakistan. Er mußte es wissen, schließlich hat er den Verband fast 25 Jahre lang nahezu diktatorisch geführt und dabei im Mittelpunkt zahlreicher Affären gestanden. Der im Juni 2010 verstorbene Chowdry gehörte in den 1980er Jahren zur sogenannten "Sportpolitischen Gruppe" von adidas-Chef Horst Dassler, zu der auch der spätere IOC-Vize Thomas Bach zählte. Der adidas-Boß setzte Chowdhry in einer manipulierten Wahl 1986 in Bangkok auf den Thron der AIBA. Die Stimmen des Ostblocks wurden mit Hilfe von Karl-Heinz Wehr gesichert, der den Posten des Generalsekretärs erhielt. Da der Ostberliner als "IM Möwe" alles akurat notierte, was hinter den Kulissen vor sich ging, blieben manche aufschlußreichen Interna und Einschätzungen schwarz auf weiß der Nachwelt erhalten. Chowdhry, dem man nachsagte, er bediene sich großzügig aus der Kasse des Weltverbands, hatte demnach vom IOC nie etwas zu befürchten. Er machte häufig die Drecksarbeit für Juan Antonio Samaranch und war besonders bei der Olympiabewerbung Barcelonas sehr hilfreich, wofür der umtriebige Pakistaner denn auch den olympischen Orden und freie Hand in seinem Weltverband bekam. Erst als Samaranchs Tage als IOC-Chef gezählt waren, wurde es auch für Anwar Chowdhry eng.

Noch aber war es nicht soweit, und so blieben namentlich die Skandale beim olympischen Boxturnier von Seoul 1988 ohne Konsequenzen: Mindestens acht nachgewiesene Betrugsurteile, der Sitzstreik eines Koreaners im Ring und das Verprügeln des neuseeländischen Ringrichters Keith Walker, der unter Polizeischutz nach Hause fliegen mußte.

Chowdhrys Vizepräsident Gafur Rahminow, ein usbekischer Multimillionär, durfte bei Olympia 2000 in Sydney nicht dabeisein, da ihn die australischen Sicherheitsbehörden zur unwünschten Person erklärt hatten. Rahminow erhielt kein Einreisevisum, wobei die offizielle Begründung lautete, er stehe in Verdacht, Verbindungen zur usbekischen Mafia zu unterhalten und einer der Köpfe des Drogenhandels in Mittelasien zu sein. Auch der "Pate von Taschkent" genannt, soll der Chef der AIBA-Business-Kommission Berater des usbekischen Präsidenten und einer der drei weltgrößten Baumwollbarone gewesen sein. Wie es damals weiter hieß, kontrolliere er zudem die Drogenproduktion in den Ländern Zentralasiens und zähle zu den Schlüsselfiguren des weltweiten Handels mit Heroin. Rahminow war also der Mann fürs Geschäftliche in der AIBA und durfte darüber nachdenken, was man beispielsweise mit den vier Millionen Dollar anstellen konnte, die das Amateurboxen aus dem Fernseherlös der Olympischen Spiele in Sydney bekam.

Nach den Olympischen Spielen 2004 in Athen behielt das IOC wegen mutmaßlich manipulierter Kampfrichterurteile mehr als zwei Jahre lang eine Million Dollar für den Boxverband zurück. Die Gelder wurden erst freigegeben, nachdem Anwar Chowdry als Verbandspräsident abgetreten war. Mit seinem Abgang endeten die Probleme keineswegs. Unmittelbar nach den Sommerspielen 2008 in Peking wurde der rumänische Funktionär Rudel Obreja wegen des "möglichen Versuchs der Manipulation" beim olympischen Boxturnier suspendiert. Nach Angaben des Verbands waren bereits Monate vor der Olympiade entsprechende Verdachtsmomente bekanntgeworden, weshalb man Gegenmaßnahmen ergriffen habe. Obreja erhob seinerseits Vorwürfe gegen Offizielle der AIBA, wofür er eine Reihe umstrittener Kampfrichterentscheidungen zur Begründung anführte.

Tatsächlich war es bei den Wettkämpfen in Peking zu einer Häufung umstrittener Entscheidungen gekommen. Der rumänische Verbandschef Obreja, seit 2007 Vizepräsident der AIBA, hatte eine spontane Pressekonferenz einberufen, auf der er Manipulationsvorwürfe gegen Ho Kim, den Exekutivdirektor der AIBA und technischen Verantwortlichen des Olympiaturniers erhob. Bei diesem Treiben lasse ihn sein südkoreanischer Landsmann Wu Ching-Kuo, Weltpräsident der Amateurboxer, gewähren. Nachdem ihn Offizielle vergebens aufgefordert hatten, die Pressekonferenz sofort abzubrechen, tauchte plötzlich der von ihm beschuldigte Ho Kim auf. Ein Wort gab das andere, bis sich die beiden gegenseitig anbrüllten und Betrüger nannten.

Der technische Delegierte des Verbands, Terry Smith, betonte damals, daß es keine Absprachen gebe und er an ein faires Verfahren glaube. Allerdings mußte er einräumen, daß das Wertungssystem unter Beobachtung stehe: "Nichts ist bewiesen oder widerlegt." Indessen waren zahlreiche langjährige Experten der Auffassung, daß es in Peking erschreckend viele Fehlurteile gegeben habe, von denen insbesondere die Lokalmatadoren über Gebühr profitierten.

Zwangsläufig fühlte man sich an das bereits erwähnte Olympiaturnier 1988 in Seoul erinnert, bei dem es derart eklatante Fehlurteile vor allem zugunsten der Gastgeber gab, daß das Reglement hinterher überarbeitet werden mußte. Seit 1992 in Barcelona existiert im olympischen Amateurboxen die offene Wertung, bei der mindestens drei der fünf Punktrichter innerhalb einer Sekunde einen Knopf drücken müssen, damit ein Treffer in die Wertung eingeht. Doch wer gehofft hatte, daß bei diesem Verfahren nicht mehr betrogen werden könne, sah sich getäuscht. Um Manipulationen seitens der Punktrichter zu erschweren, kündigte die AIBA nach dem Turnier in Peking an, sie werde in London ein neues elektronisches Wertungssystem installieren. Bei diesem Verfahren wird die Punktevergabe aufgezeichnet, so daß sämtliche Wertungen den einzelnen Kampfrichtern jederzeit zuzuordnen sind.

Hat man damit alle Möglichkeiten aus der Welt geschafft, der Entscheidung über Sieg oder Niederlage nach eigenem Gutdünken nachzuhelfen? Offensichtlich nicht, denn Lennox Lewis, der 1988 in Seoul Olympiasieger im Superschwergewicht und später Schwergewichtsweltmeister bei den Profis geworden war, kommentierte die Leistung einiger Ringrichter beim laufenden olympischen Boxturnier in London mit den Worten: "Das macht mir Sorgen. Man weiß bis zum Schluß nicht, wie der Kampf ausgehen wird." Der iranische Schwergewichtler Ali Mazaheri drückte es nach seiner Niederlage gegen den Kubaner José Larduet Gomez im Achtelfinale noch drastischer aus: "Das war ein abgekartetes Spiel. Ich hätte problemlos um Bronze kämpfen können, wenn das nicht gewesen wäre. Es war alles arrangiert." Der Iraner war nach drei Verwarnungen disqualifiziert worden und verließ noch vor der offiziellen Bekanntgabe des Siegers wütend den Ring. Zwar wies der Weltverband in einer Stellungnahme zur Rechtfertigung auf eine entsprechende Regel in den Wettkampfbestimmungen hin, doch wurde der deutsche Ringrichter Frank Scharmach für fünf Tage suspendiert.

In die finstersten Zeiten der AIBA zurückversetzt fühlte man sich indessen bei einem Kampf im Bantamgewicht zwischen Satoshi Shimizu und Magomed Abdulhamidov. Sechsmal schickte der Japaner seinen Gegner in der dritten Runde zu Boden, der beim Verlassen des Rings von seinen Betreuern gestützt werden mußte. Dennoch wurde der Aserbaidschaner mit 22:17 Punkten zum Sieger durch Überlegenheit erklärt, was Shimizu zu der konsternierten Aussage veranlaßte: "Ich war schockiert. Er ist so oft zu Boden gegangen, warum habe ich nicht gewonnen? Ich verstehe es nicht!"

Nach einem Protest der japanischen Mannschaft wurde das Urteil korrigiert und Shimizu zum Sieger durch Überlegenheit bestimmt. Ringrichter Ischanguly Meretnyjasow aus Turkmenistan, der es regelwidrig dreimal unterlassen hatte, Abdulhamidov anzuzählen, mußte ebenso die Heimreise antreten wie der Technische Offizielle Aghajan Abijew aus Aserbaidschan. Ob auch die Punktrichter wegen des fragwürdigen Urteils sanktioniert werden, war zunächst nicht bekannt. Wie AIBA-Präsident Wu Ching-Kuo aus Taiwan erklärte, bedauere er sehr, daß diese Entscheidungen notwendig geworden seien. "Aber unser größtes Anliegen wird immer der Schutz des Fair-Play in den Wettbewerben sein", so der Verbandsvorsitzende.

Im September 2011 waren unmittelbar vor dem Auftakt zu den Weltmeisterschaften der Amateurboxer in Baku einem Bericht des britischen Fernsehsenders BBC zufolge Hinweise auf eine weitere spektakuläre Korruptionsaffäre des Weltverbands bekanntgeworden. Demnach soll die AIBA von einem ungenannten Investor aus Aserbaidschan ein Darlehen in Höhe von neun Millionen US-Dollar für die von ihr ins Leben gerufene World Series of Boxing (WSB) erhalten haben. Dem Geldgeber seien im Gegenzug zwei Goldmedaillen im olympischen Boxturnier 2012 in London zugesichert worden.

Die AIBA wies diese Vorwürfe damals entschieden zurück und bezeichnete Andeutungen, man habe für diese Summe Goldmedaillen bei den Olympischen Spielen versprochen, als absurd und absolut falsch. Wie Präsident Wu Ching-Kuo versicherte, werde die WSB auf transparente Art und Weise geleitet: "Es gibt in der AIBA eine Null-Toleranz-Politik in dieser Sache." Zugleich kündigte der Verbandspräsident eine Untersuchung zur Klärung der Vorwürfe an. Das Internationale Olympische Komitee begrüßte die Untersuchung und forderte zugleich die BBC auf, ihre Vorwürfe gegen die AIBA zu belegen. Nach einer internen Untersuchung wies die vom Verband dafür einberufene Sonderkommission SIC die Vorwürfe als "jeder Grundlage entbehrend" zurück.

Wenn sich bei der Selbstüberprüfung der AIBA das Sprichwort vom Bock aufdrängt, den man zum Gärtner macht, hat sich der Weltverband das selbst zuzuschreiben. Kreuzt man den angeblich haltlosen Verdacht aus dem letzten Jahr mit dem offensichtliche Betrug zugunsten eines Boxers aus Aserbaidschan beim Olympiaturnier in London, fällt es schwer, an einen bloßen Zufall zu glauben. Als Moral aus dieser Geschichte mit dem selektiven Finger der Bezichtigung auf den Boxsport zu weisen, verbietet sich dennoch von selbst: Beim Olympia ausbeuterischer Großsponsoren, militarisierter Urbanität und sportseliger Verschleierung verelendeter britischer Lebensverhältnisse mutet das angeprangerte Treiben der AIBA eher wie ein Fangen kleiner Diebe an, die von einer Kumpanei mit den großen nur träumen können.

3. August 2012