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PROFI/712: Mittelgewicht - auf Messers Schneide ... (SB)



Golowkin knapper Punktsieger über Derewjantschenko

Im Kampf um den vakanten IBF-Titel im Mittelgewicht hat sich Gennadi Golowkin vor rund 12.500 Zuschauern im New Yorker Madison Square Garden knapp nach Punkten gegen Sergej Derewjantschenko durchgesetzt (115:112, 115:112, 114:113). Die Kontrahenten lieferten einander ein derart erbittertes Gefecht, daß beide anschließend aufgrund ihrer Blessuren ein Krankenhaus aufsuchen mußten und deshalb der Pressekonferenz fernblieben. Der Kasache hatte im Verlauf seiner langen Regentschaft diese Gewichtsklasse über Jahre beherrscht und mit 20 erfolgreichen Titelverteidigungen den Rekord von Bernard Hopkins eingestellt. Vor dreizehn Monaten war er schließlich bei der Revanche gegen Saul "Canelo" Alvarez umstritten entthront worden. Nun ist er abermals Weltmeister geworden, doch sorgte sein Gegner mit einer hochklassigen Leistung dafür, daß von der früheren Dominanz des Favoriten keine Rede sein konnte. Während für den 37jährigen Kasachen, der in Santa Monica lebt, 40 Siege, eine Niederlage sowie ein Unentschieden zu Buche stehen, hat der vier Jahre jüngere Ukrainer aus New York jetzt dreizehn gewonnene und zwei verlorene Auftritte vorzuweisen. [1]

Der vom Streamingdienst DAZN übertragene Kampf begann spektakulär, da Derewjantschenko 45 Sekunden vor Ende der ersten Runde nach einem linken Haken zum Kopf zu Boden ging, jedoch umgehend wieder auf die Beine kam. Auch im zweiten Durchgang traktierte der Kasache den Kontrahenten mit zahlreichen Treffern, wodurch der Ukrainer eine Rißwunde über dem rechten Auge davontrug. In der folgenden Runde ergriff Derewjantschenko die Initiative und brachte einige Schläge ins Ziel, für die sich Golowkin jedoch umgehend revanchierte. Die vierte Runde ging klar an den Außenseiter, der mit Kombinationen und vermehrten Körpertreffern zum Zuge kam. Im fünften Durchgang zog Ringrichter Harvey Dock den Arzt zu Rate, der die Verletzung des Ukrainers begutachtete, aber keine Einwände gegen die Fortsetzung des Kampfs erhob. Kurz vor der Pause zeichnete sich eine Schwellung unter Golowkins linkem Auge ab, der zudem nach einem schweren Körpertreffer zurückweichen mußte und sichtlich in Schwierigkeiten geriet.

Auch in der sechsten Runde wogte das Geschehen heftig hin und her, wobei immer deutlicher zutage trat, wie gefährlich Derewjantschenkos Angriffe zum Körper waren. Im achten Durchgang trieb der Ukrainer seinen Gegner mit Kombinationen in die Defensive, wo er dann klare Treffer landen konnte. Golowkin eröffnete die neunte Runde mit einem gewaltigen Uppercut, doch der Außenseiter hielt stand und ging seinerseits auf den Kontrahenten los. Dieses Bild setzte sich im nächsten Durchgang fort, da der Kasache unter dem Ansturm zurückweichen mußte und in die Enge geriet. Seine Probleme hielten auch in der elften Runde an, die wiederum an Derewjantschenko ging. Der setzte zu Beginn der zwölften und letzten Runde noch einmal alles auf eine Karte, doch Golowkin bot ihm Paroli und gewann zum Ende hin die Oberhand. [2]

Auch die Statistik von CompuBox belegt, wie eng der Kampf verlaufen war, in dem der Kasache mehr abbekommen hatte, als je zuvor in seiner Profikarriere. Demnach brachte Golowkin 243 von 720 Schlägen ins Ziel (34 Prozent), während Derewjantschenko 230 Treffer bei 738 Versuchen gelungen waren (31 Prozent). Der Ukrainer hatte sehr angriffslustig gekämpft und optisch über weite Strecken den besseren Eindruck hinterlassen, doch die Punktrichter gaben den härteren Treffern Golowkins den Zuschlag. Lange hatte es so ausgesehen, als bahne sich im Madison Square Garden nach dem sensationell anmutenden Titelverlust Anthony Joshuas im Kampf gegen Andy Ruiz am 1. Juni eine weitere spektakuläre Wachablösung an. Auffallend war, daß Golowkin des öfteren zurückweichen mußte, was noch nie seine Art gewesen ist, da ihm insbesondere die Körpertreffer schwer zusetzten. Derewjantschenko kämpfte genau so, wie es zu erwarten war, sorgte er doch mit dem Jab und Angriffen zum Körper dicht am Gegner für große Gefahr. Golowkin hatte dem in der Nahdistanz wenig entgegenzusetzen und ließ auch von der unter seinem neuen Trainer Jonathon Banks angekündigten deutlich höheren Schlagfrequenz kaum etwas erkennen.

Hatte das Publikum zwischenzeitlich beide Akteure angefeuert und ihren ständigen Schlagabtausch stürmisch bejubelt, so schlug die Stimmung am Ende zugunsten des Außenseiters um, der sich so überzeugend behauptet hatte. Golowkin mußte nach Verkündung des Urteils erstmals in seiner Karriere empörte Mißfallenskundgebungen über sich ergehen lassen, was ihm sichtlich zu schaffen machte. Er hinterließ in einer ersten Stellungnahme den Eindruck, als habe er selbst an seinem Erfolg gezweifelt, und zollte der Leistung seines Gegners Respekt, der sich wie erwartet als überaus schwerer Brocken erwiesen habe. Dies sei ein großer Tag für den Ukrainer und dessen Team, denen er Hochachtung entgegenbringe. Für ihn selbst sei es eher ein schlechter Tag und eine Lektion gewesen, daß er seinen Fokus voll und ganz auf das Boxen ausrichten, hart arbeiten und sich noch besser vorbereiten müsse.

Derewjantschenko bedankte sich bei seinem Team und allen Fans für eine großartige Boxnacht im Madison Square Garden. Er habe den Niederschlag problemlos weggesteckt, doch aufgrund der Rißwunde Probleme bekommen, da seine Sicht beeinträchtigt gewesen sei. Dennoch habe er sein Bestes gegeben und erkannt, daß er Golowkin keinen Manöverraum lassen dürfe, sondern ihm den Kampf dicht am Gegner aufzwingen müsse, wie es dann auch geschehen sei.

Natürlich machte Derewjantschenkos Team geltend, daß er eigentlich gewonnen habe. Promoter Lou DiBella lobte seinen Boxer in den höchsten Tönen und schwärmte von einem Duell auf Spitzenniveau, das ihn an den legendären Kampf zwischen Arturo Gatti und Micky Ward erinnere. Das sei ein regelrechter Krieg gewesen, und er habe wirklich geglaubt, Sergej als Sieger feiern zu können. Jedenfalls fordere er einen Rückkampf, denn wer wolle nach diesem Auftritt schon etwas anderes sehen! Dieser junge Boxer habe den Kampf seines Lebens geliefert und verdiene einfach eine Revanche. Dieser Auffassung schlossen sich auch Derewjantschenko selbst und sein Manager Keith Connolly an, der darauf verwies, daß sich Sergej als einer der weltweit führenden Mittelgewichtler erwiesen habe. Die Menge habe ihn bejubelt und Golowkin spüren lassen, wem ihres Erachtens der Sieg gebühre. Sollte der Kasache nicht in seinem nächsten Kampf auf "Canelo" treffen, gebe es schlichtweg keine Alternative. Das müsse auch der Sender DAZN einsehen, der Golowkin hundert Millionen Dollar für einen Dreijahresvertrag über sechs Kämpfe bezahle.

Golowkin erklärte sich einerseits zu einer Revanche bereit, führte andererseits aber auch "Canelo" als Wunschgegner im Munde, obgleich ihm dieser mehrmals eine Absage erteilt hat. Derewjantschenko habe zweifellos einen Rückkampf verdient, der sicher auch für DAZN eine wünschenswerte Option wäre, so der Kasache. Zugleich sei er absolut offen für einen dritten Kampf gegen Saul Alvarez wie auch andere vielversprechende Möglichkeiten. "Canelo" brauche nur zustimmen, und schon könne es losgehen. Daß Golowkin den IBF-Titel gewonnen hat, dürfte ihm jedoch kaum weiterhelfen, einen Sinneswandel des Mexikaners herbeizuführen. Dieser wird sich absehbar darüber auslassen, daß der Kasache im Grunde gegen Derewjantschenko verloren und jedenfalls keine Leistung geboten habe, die ihn als Gegner attraktiv mache. [3]

Golowkins britischer Promoter Eddie Hearn gab recht deutlich zu verstehen, daß eine Revanche gegen Derewjantschenko nicht auf seinem Wunschzettel steht. "Canelo" bleibe die erste Wahl, doch sollte es nicht dazu kommen, stünden Billy Joe Saunders, Demetrius Andrade oder Callum Smith an. Ob das die Zustimmung des Kasachen findet, wird sich erweisen, doch wäre er jedenfalls gut beraten, sich von der Fokussierung auf den Mexikaner, an dessen Band er damit hängt, nicht ewig in die Irre führen zu lassen. Natürlich ist nicht restlos auszuschließen, daß "Canelo" am Ende doch Golowkin im Frühjahr den Zuschlag gibt, solange dessen Marktwert noch hoch ist und ihr Kampf sehr viel Geld einbrächte. Denn sollte der Kasache anderweitig verlieren, was gegen Derewjantschenko auf Messers Schneide stand, wäre das umsatzstarke dritte Duell ein für allemal gestorben.

Da der Mexikaner am 2. November im Halbschwergewicht gegen den amtierenden WBO-Weltmeister Sergej Kowaljow antritt, hängen alle weiteren Planungen ohnehin vom Ausgang dieses Kampfs ab. Daher ist es vorerst müßig, sich den Kopf über "Canelos" Kalkül zu zerbrechen. Man kann vielmehr davon ausgehen, daß das Publikum für eine sofortige Revanche des Kasachen gegen Derewjantschenko zu begeistern wäre. Die beiden haben mit ihrem hochklassigen Kampf eine neue Fehde in die Welt gesetzt, die sich eigenständig bei DAZN vermarkten ließe. Der Ukrainer wäre natürlich sofort mit von der Partie, was man von Golowkin möglicherweise nicht sagen kann. Er hat in diesem Kampf mehr Prügel als je zuvor im Ring bezogen und möchte das sicher kein zweites Mal erleben. Wie Derewjantschenko zutreffend ausgeführt hat, ist Golowkin der bessere Boxer, sobald man ihm Raum gewährt. Rückt man ihm jedoch eng zu Leibe, kehrt sich das Verhältnis um. Das wußten Golowkin und Banks allerdings schon vor diesem Kampf, doch schienen sie kein Mittel erarbeitet zu haben, dem konsequent Rechnung zu tragen. Sollte sich daran nichts ändern, wäre ein zweiter Gang mit dem Ukrainer eher keine gute Idee.


Fußnoten:

[1] www.boxingnews24.com/2019/10/gennady-golovkin-vs-sergiy-derevyanchenko-live-results/

[2] www.espn.com/boxing/story/_/id/27777200/gennadiy-golovkin-wins-title-unanimous-decision-sergiy-derevyanchenko

[3] www.boxingnews24.com/2019/10/golovkin-still-asking-for-canelo-fight-after-win-over-derevyanchenko/

6. Oktober 2019


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