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PROFI/705: Schwergewicht - für die Geschichtsbücher Mexikos ... (SB)



Andy Ruiz beendet die Regentschaft Anthony Joshuas

Die größte Sensation im Schwergewicht seit Mike Tysons Niederlage gegen Buster Douglas und Hasim Rahmans Sieg über Lennox Lewis ist perfekt. Der als krasser Außenseiter gehandelte Andy Ruiz hat sich durch einen vorzeitigen Sieg über Anthony Joshua zum ersten Weltmeister Mexikos in der Königsklasse gekrönt. Vor 20.200 Zuschauern im ausverkauften New Yorker Madison Square Garden, darunter rund 8000 britische Fans, behielt der Herausforderer in der siebten Runde die Oberhand, als der völlig erschöpfte und schwer angeschlagene Brite aus dem Kampf genommen wurde. Dessen mit hohen Erwartungen befrachtetes Debüt in den USA mündete in ein Debakel und beendete seine Regentschaft als Titelträger der Verbände WBA, WBO, IBF und IBO. [1]

Ruiz war mit einer knappen Vorbereitungszeit von nur vier Wochen kurzfristig als Ersatzmann eingesprungen, nachdem der ursprünglich vorgesehene Jarrell Miller aufgrund positiver Dopingtests nicht mehr zur Verfügung stand. Wenngleich der im kalifornischen Imperial lebende mexikanischstämmige Schwergewichtler eine beachtliche Bilanz von 32 Siegen und nur einer Niederlage mitbrachte, galt er in der Szene nicht als ernsthafter Titelaspirant. Sein namhaftester Gegner war der damalige WBO-Weltmeister Joseph Parker gewesen, dem er sich im Dezember 2016 in Neuseeland knapp nach Punkten geschlagen geben mußte. Zuletzt hatte er Kevin Johnson und Alexander Dimitrenko besiegt, die beide respektable Akteure sind, aber keinesfalls zur Elite gezählt werden.

Dies alles führte dazu, daß man Andy Ruiz im Vorfeld nicht nur keine ernsthafte Chance gegen Anthony Joshua eingeräumt, sondern ihn sogar wegen seines äußeren Erscheinungsbildes, das wie ein Gegenentwurf zu dem Briten wirkt, der an einen Bodybuilder erinnert, verspottet hatte. Zwar fehlte es nicht an mahnenden Stimmen, daß Boxen keine Schönheitskonkurrenz sei, doch herrschte weithin die Auffassung vor, daß der britische Promoter Eddie Hearn seinem prominentesten und einträglichen Weltmeister Kanonenfutter zugeführt habe, um ihn gut aussehen zu lassen und auch für das US-Publikum als Star des Streamingdienstes DAZN aufzubauen. Diese Fehleinschätzung spiegelte sich auch in den Äußerungen Joshuas wider, der jede Menge über künftige Auftritte und populäre Rivalen wie Deontay Wilder oder Tyson Fury von sich gab, aber den nächsten Gegner Andy Ruiz in seinen Überlegungen bereits abgehakt zu haben schien. [2]

Als die beiden einander im Ring gegenüberstanden, schien zunächst alles nach Plan zu verlaufen. Zum Auftakt passierte nicht viel, da die Kontrahenten vorsichtig Maß nahmen und Joshua den wesentlich kleineren Gegner mit einigen Jabs auf Abstand hielt. In der zweiten Runde kam der Brite mit seinem Jab besser zur Geltung, den er nun häufiger einsetzte, so daß Ruiz nicht an ihn herankam. Das Szenario eskalierte im dritten Durchgang dramatisch, als der Weltmeister seinen Gegner mit einem Uppercut und einem linken Haken zu Boden schickte. Sollte das bereits das weithin erwartete frühe Ende gewesen sein? Als der Herausforderer wieder auf die Beine kam, drang Joshua sofort auf ihn ein, um ihm den Rest zu geben. Ruiz revanchierte sich jedoch mit einer wuchtigen Rechten zum Kopf, die Joshua zusammensacken ließ. Der Brite raffte sich mühsam auf, worauf ihn der Kalifornier sofort mit einem Hagel von Schlägen eindeckte und abermals niederstreckte.

Nach diesen beiden Niederschlägen rettete sich Joshua gerade noch in die Pause, wirkte aber im vierten Durchgang erholt und versetzte dem Kontrahenten einen linken Haken, mit dem er sich vorerst Respekt verschaffte. Ruiz ließ es etwas ruhiger angehen, erwischte den Briten aber früh in der sechsten Runde mit einer Linken, die Joshua zur Vorsicht gemahnte, worauf er den Herausforderer mit dem Jab auf Abstand zu halten versuchte. Ruiz arbeitete sich jedoch immer wieder an den Gegner heran und schlug eine Kombination nach der anderen, wobei er vielfach auch den Körper des Kontrahenten traktierte.

In der siebten Runde griffen beide an, doch war es der Herausforderer, der den erschöpften Champion gefährlich traf und mit einem Hagel von Schlägen, die unbeantwortet blieben, auf die Bretter schickte. Joshua kam gerade noch rechtzeitig wieder hoch, sank aber wenig später nach einem weiter Treffer auf ein Knie, so daß ihn Ringrichter Michael Griffin zum vierten Mal in diesem Kampf anzählte. Dann ging er in seine Ecke, wo ihn der Referee eindringlich fragte, ob er weiterkämpfen wolle. Joshua bejahte dies zwar mit leiser Stimme, doch lehnte er dabei am Pfosten und hielt sich mit beiden Armen an den Seilen fest, worauf Griffin nach 1:27 Minuten der Runde zu Recht auf Abbruch entschied.

Während Andy Ruiz zum ersten Mal in seiner Karriere auf dem Boden gelandet war, mußte Anthony Joshua diese Erfahrung nun gleich viermal machen. Zum Zeitpunkt des Abbruchs führte der Herausforderer mit 57:56 bei zwei Punktrichtern, der dritte hatte den Briten mit 57:56 vorn. Auch die Statistik von CompuBox belegt, daß der Kampf mindestens auf gleicher Augenhöhe verlaufen war. Demnach hatte Ruiz 56 von 206 Schlägen ins Ziel gebracht (27 Prozent), während Joshua 47 Treffer bei 176 Versuchen gelungen waren (27 Prozent). Der 29jährige Brite mußte sich nach 22 Erfolgen erstmals geschlagen geben, für den gleichaltrigen Kalifornier stehen nun 33 Siege und eine Niederlage zu Buche. [3]

Als sich Andy Ruiz in der dritten Runde nach dem Niederschlag erhob, zeugte dies nicht nur von einer robusten Konstitution. Als schwenke Joshua ein rotes Tuch vor der Nase des zornigen Stiers, ging der Herausforderer zum Gegenangriff über und schlug ungeachtet der Größe und Reichweite des Briten auf ihn ein. Wurde Ruiz getroffen, schien ihm das nicht den Mut zu rauben, sondern ihn im Gegenteil um so mehr anzuspornen. Er deckte Joshuas erschreckend schwache Nehmerqualitäten auf, da dieser praktisch nach jedem Wirkungstreffer zu Boden ging, und verfiel nicht in den Fehler Wladimir Klitschkos, den angeschlagenen Briten in den restlichen Runden ausboxen zu wollen. Rückblickend gesehen hatte sich der Herausforderer bereits mit den ersten beiden Niederschlägen auf die Siegerstraße gebracht, da der Titelverteidiger danach kaum noch ein Risiko einging und aller Wucht beraubt schien, mit der er ansonsten seine Gegner niederzuwalzen pflegt. Ruiz hat eindrucksvoll demonstriert, wie der körperlichen Überlegenheit des Briten beizukommen ist, wenn man ihn beherzt mit Schlägen zum Körper und Kombinationen angreift. [4]

Überglücklich feierte Andy Ruiz seinen spektakulären Erfolg, von dem er geträumt habe, seit er sechs Jahre alt gewesen sei. Daß er erstmals auf dem Boden gelandet war, habe ihn nur noch stärker gemacht, da er ein mexikanischer Krieger sei. Dann dankte er seinem Team und seiner Familie, die ihm all die Jahre Rückhalt gegeben hätten. Anthony Joshua haderte nicht mit der Entscheidung des Ringrichters, den Kampf abzubrechen, sondern zollte seinem Bezwinger uneingeschränkten Respekt. Er sei gerade von einem erstklassigen Gegner besiegt worden, dem er als erstem Schwergewichtschampion seines Landes gratuliere. Ruiz habe sich gut geschlagen und getan, was zu seinem Erfolg erforderlich war.

Wie sein Promoter Eddie Hearn erklärte, habe Joshua in der dritten Runde die volle Kontrolle gehabt, sei dann aber leichtsinnig geworden und habe sich von den Niederschlägen nicht mehr erholt. Dieser Abend gehöre Andy Ruiz, der Boxgeschichte geschrieben habe. Man werde von der vertraglich vereinbarten Option einer Revanche Gebrauch machen, so daß diese im November oder Dezember im Vereinigten Königreich über die Bühne gehen könne. AJ habe das Herz eines Löwen und werde stärker wiederkehren, denn im Herbst sei ein Sieg absolute Pflicht. Auch Ruiz erklärte sich bereit, umgehend einen Rückkampf auszutragen.

Für den neuen Weltmeister liegt das nahe, da er seine Titel nirgendwo sonst in gleichem Maße versilbern könnte. Zudem darf er sich nach seinem überzeugenden Auftritt in New York berechtigte Hoffnungen machen, einen Schlüssel zum Sieg über Joshua gefunden zu haben. Gelänge ihm ein abermaliger Erfolg, könnte er anschließend hochdotierte Kämpfe gegen den WBC-Weltmeister Deontay Wilder oder Tyson Fury ins Auge fassen. [5] Daß Eddie Hearn darauf setzt, seinen Boxer umgehend wieder als Champion zu installieren, liegt gleichermaßen auf der Hand. Ließe er Ruiz mit den Gürteln davonziehen, könnte es sich als äußert kompliziert erweisen, die frühere Vormachtstellung im Schwergewicht wiederzugewinnen. Bislang diktierten Hearn und Joshua insofern das Geschehen, als sie ihren schärfsten Konkurrenten Deontay Wilder mit finanziellen Angeboten abweisen und hinhalten konnten, die für den WBC-Weltmeister unannehmbar waren. Jetzt ist der vielzitierte und seit Jahren vertagte Kampf der Superlative zwischen Joshua und Wilder plötzlich Makulatur, weil sich Andy Ruiz wider Erwarten als Stolperstein erwiesen hat.

Wilder sitzt derzeit fester denn je im Sattel, hat er doch Dominic Breazeale eindrucksvoll in der ersten Runde besiegt und eine Revanche mit Luis Ortiz für seinen nächsten Auftritt vereinbart, um sich dann ein zweites Mal mit Tyson Fury zu messen. Auf dieser Linie spielt nun die Musik im Schwergewicht, während Joshua von einem Gegner entzaubert wurde, den man überhaupt nicht auf der Rechnung hatte. Unter anderen Umständen wäre der Brite wohl besser beraten, zunächst einen Aufbaukampf zu bestreiten, um Zuversicht zu gewinnen und sich für die Revanche mit Ruiz zu rüsten, der ihn bis ins Mark getroffen und seinen sorgsam gepflegten Nimbus zerstört hat. Ein solcher Umweg wäre vernünftig, geriete aber mit dem Druck in Konflikt, verlorenes Terrain sofort wiederzugewinnen. War die Glanzleistung des neuen Weltmeisters eine Eintagsfliege, die er nicht wiederholen kann, sofern man sie nur mit einer angemessenen taktischen Marschroute aus dem Felde schlägt? Als Kernproblem stellt sich indessen, daß Anthony Joshuas Kampfesweise wohl nur geringfügig modifiziert werden kann, da seine technischen Mittel begrenzt sind und seine muskelbepackte Physis kaum eine Variation zuläßt.


Fußnoten:

[1] www.boxingnews24.com/2019/06/boxing-results-andy-ruiz-jr-annihilates-anthony-joshua/

[2] www.boxingnews24.com/2019/06/anthony-joshua-vs-andy-ruiz-live-fight-results-from-msg/

[3] www.espn.com/boxing/story/_/id/26875216/ruiz-jr-stuns-joshua-7th-heavyweight-titles

[4] www.boxingnews24.com/2019/06/fury-shows-sympathy-for-joshua-after-loss-to-ruiz-jr/

[5] www.boxingnews24.com/2019/06/ruiz-jr-smashes-joshua-to-capture-heavyweight-championship/

2. Juni 2019


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