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PROFI/663: Unentschieden - Golowkin fällt unter die Räuber (SB)



Gut fürs Geschäft - schlecht für den Boxsport

Deutlicher hätte das Votum des Publikums nicht ausfallen können. Als das Urteil im Kampf des Jahres zwischen Gennadi Golowkin und Saul "Canelo" Alvarez verkündet wurde, brach das überwiegend hispanische Publikum am mexikanischen Unabhängigkeitstag in Las Vegas in ein gellendes Pfeifkonzert aus. Und die Empörung steigerte sich noch, als "Canelo", bis dahin absoluter Favorit seiner Landsleute, im anschließenden Interview allen Ernstes behauptete, er habe die meisten Runden gewonnen. Wenn sich der erklärte Liebling des Heimpublikums derartige Mißfallenskundgebungen gefallen lassen muß, spricht das eine klare Sprache.

So gut wie alle Experten, gleich ob ehemalige Weltmeister oder renommierte Kommentatoren, waren sich einig in der Einschätzung, daß Gennadi Golowkin allenfalls zwei, drei oder höchstens vier Runden abgegeben habe und folglich mit einem Fehlurteil um den verdienten Sieg geprellt worden sei. Teddy Atlas von ESPN, der zu den anerkanntesten Fachleuten der Branche gehört, brachte in seiner harschen Kritik die allgemeine Stimmung auf den Punkt: Ein Boxer war der Ozean, der andere ein Baumstamm, der von den Wogen umhergetrieben wurde. Der Ozean ist der Champion, und das sei zweifelsfrei Golowkin, so Atlas. Das gelte offenbar für den Boxsport nicht mehr, der korrupt sei und dem Geld folge. Er würdige nicht die Qualitäten, auf die es ankommen sollte, sondern jage Geld, Kontrolle und Macht nach. "Canelo" habe nur sporadisch gekämpft, um zu überleben und nicht vom Ozean an den Strand geworfen zu werden. Er habe viel zu wenig getan, um zu gewinnen, und gerade genug unternommen, um sich eine Hintertür offenzuhalten. Vielleicht seien die Leute ja halbwegs zufrieden mit dem Ergebnis, doch befürchte er vielmehr, daß sie sich angewidert von solchen Szenarien abwendeten, so der frühere Trainer und langjährige Kommentator. [1]

Was war geschehen? Nach zwölf Runden hatten die Punktrichter extrem voneinander abweichende Urteile geliefert: Dave Moretti gab mit 115:113 für Golowkin noch eine halbwegs akzeptable Wertung ab, während Don Trella mit 114:114 wohl einen anderen Kampf gesehen haben mußte. Völlig aus der Rolle fiel wieder einmal die Punktrichterin Adelaide Byrd aus Nevada, die 118:110 zugunsten des Mexikaners notiert und damit Golowkin absurderweise nur zwei Runden gutgeschrieben hatte. Da Byrd wegen diverser krasser Fehlurteile sowohl im Boxsport als auch bei den Mixed Martial Arts berüchtigt ist, stellt sich die Frage, wieso sie überhaupt für einen derart bedeutenden Kampf nominiert worden war. [2]

Wie Bob Bennett, Präsident der zuständigen Sportkommission von Nevada, zu ihrer und seiner Verteidigung erklärte, sei Adelaide Byrd eine hervorragende und sehr erfahrene Punktrichterin, die auch in der Ausbildung des Nachwuchses ausgezeichnete Arbeit leiste. Sie habe in diesem Fall an verantwortlicher Stelle den Kampf leider etwas anders als ihre Kollegen gesehen. Auch sie könne manchmal einen schlechten Tag haben, so etwas passiere eben dann und wann. [3] Legt man die Statistik von CompuBox zugrunde, hatte Golowkin von 703 Schlägen 218 ins Ziel gebracht, während "Canelo" bei 505 Versuchen nur 169 Treffer gelungen waren. Kann man diesen Unterschied tatsächlich genau umgekehrt wahrnehmen? Und sollte der langjährigen Punktrichterin wirklich entgangen sein, daß der Kasache völlig ungerührt durch die Schläge des Mexikaners marschiert war, "Canelo" hingegen mehrfach von den Treffern erschüttert wurde und rundenlang weglief? Wie Golowkins Promoter Tom Loeffler dazu erklärte, könne er sich nicht erklären, wie das abweichende Urteil zustande gekommen sei. Auf die Frage, ob er Protest einlegen werde, erwiderte er vielsagend, er wisse nicht, ob das etwas bringen würde. Die Entscheidung liege bei der Boxkommission von Nevada: "Ich weiß nur, es hätte noch schlimmer kommen können." [4]

In der mit 22.358 Zuschauern restlos ausverkauften T-Mobile Arena blieb der weiterhin ungeschlagene Gennadi Golowkin, für den nun 37 Siege und ein Unentschieden zu Buche stehen, Champion der Verbände WBA, WBC, IBF und IBO im Mittelgewicht. Kein anderer derzeit noch aktiver Boxer der gesamten Branche ist so lange Weltmeister wie der Kasache, der seinen Titel zum 19. Mal erfolgreich verteidigt hat. Bernard Hopkins, der seinerzeit während seiner Regentschaft in derselben Gewichtsklasse 20 Herausforderern das Nachsehen gegeben hat, wird seinen Rekord wohl bald mit GGG teilen müssen oder ganz an ihn verlieren. Die Bestleistung, der älteste Boxer zu sein, der jemals Weltmeister geworden ist, wird Hopkins aber wohl noch lange behalten.

Saul Alvarez hat nun 49 gewonnene Auftritte, eine Niederlage sowie zwei Unentschieden vorzuweisen und ist vorerst noch Weltmeister der WBO im Halbmittelgewicht. Die Kontrahenten lieferten einander einen anspruchsvollen Kampf, der jedoch eindeutig von Golowkin bestimmt wurde. Er dominierte mit seinem Jab, trieb den Gegner vor sich her und schnitt ihm gekonnt den Weg ab. "Canelo" mußte immer wieder in die Seile zurückweichen und brach gegen Mitte des Kampfs wie erwartet konditionell ein, so daß er über längere Strecken nur noch sporadisch angriff. Zudem wies der Kasache eine hervorragende Deckung auf, womit er dem schnell konternden und gut kombinierenden Mexikaner wenig Gelegenheit bot, ihn zu treffen. Der 35jährige Golowkin war dem acht Jahre jüngeren Herausforderer nicht an Durchhaltevermögen klar überlegen, sondern auch technisch und kämpferisch der bessere Akteur. Er kontrollierte die Distanz und versäumte es lediglich, den Gegner auf die Bretter zu schicken und damit alles klarzumachen.

"Canelo" ist nach Daniel Jacobs der zweite Akteur, der nicht vorzeitig gegen den Kasachen verloren hat. Insofern hat es der Mexikaner gut verstanden, das Verhängnis abzuwenden, die Wirkung des Kasachen in Grenzen zu halten und alle Treffer dank guter Nehmerqualitäten wegzustecken. Zudem drehte er gegen Ende noch einmal auf und machte eine gute Figur, als habe er endlich realisiert, daß er im Rückstand lag. Er schlug in dieser Phase teilweise sehenswerte Kombinationen, doch muß man berücksichtigen, daß sich Golowkin bei eigenen Angriffen offenbar auch treffen ließ, weil er längst wußte, wie wenig ihm dieser Gegner anhaben konnte.

Der frühere Weltmeister und derzeitige Kommentator Paulie Malignaggi erklärte kurz und bündig, man habe es schlichtweg mit Politik zu tun. Schaufle ein Boxer derart viel Geld in die Kasse wie "Canelo", mache er auch eine Menge anderer Leute reich, die ihren Goldesel schützten. Der Mexikaner kann in der Tat kaum nach Punkten verlieren, wie zuvor schon seine Auftritte gegen Austin Trout und Erislandy Lara gezeigt haben, die er ohne solche Protektion wohl verloren hätte. Wie Golowkins Trainer Abel Sanchez vorsichtig andeutete, sei ihnen durchaus klar gewesen, wie schwer der Auftritt unter diesen Umständen würde. Der Mexikaner hat gegen körperlich unterlegene oder alternde Kontrahenten wie Miguel Cotto, Alfredo Angulo, James Kirkland, Amir Khan, Liam Smith und Julio Cesar Chavez jun. klare Siege eingefahren, jedoch gegen Floyd Mayweather verloren und mit weiteren Gegnern der Spitzenklasse allergrößte Probleme gehabt. Ein Superstar der Branche, zu den ihn sein Promoter Oscar de la Hoya überhöht, ist er noch lange nicht. Eher dürfte sein Ansehen nach diesem fragwürdigen Unentschieden gegen Golowkin gelitten haben, da seine Grenzen deutlich zu Tage getreten sind. [5]

Obgleich "Canelo" und die Golden Boy Promotions dem Kasachen jahrelang aus dem Weg gegangen sind und sich erst an ihn herangewagt haben, als sie glaubten, er lasse allmählich nach, wurden sie eines Besseren belehrt. Während der erheblich jüngere Mexikaner immer wieder Pausen einlegen mußte, boxte Golowkin Runde für Runde volle drei Minuten durch und brachte den Herausforderer des öfteren in Bedrängnis. Der Weltmeister sprach denn auch von einem verheerenden Urteil, das sehr schlecht für den Boxsport sei. Er habe dem Publikum indessen wie versprochen ein ganz großes Drama geboten und sei natürlich jederzeit zu einem Rückkampf bereit. Auch Alvarez sprach sich für eine Revanche aus, die Anfang Mai 2018 über die Bühne gehen könnte.

Dem Vernehmen nach haben die Kontrahenten bei ihren Kampf in Las Vegas mindestens je 15 Millionen Dollar verdient. Da sie vor ausverkauftem Haus aufgetreten sind und im Pay-TV ein sehr gutes Ergebnis erwartet wird, dürften die Einkünfte vor allem für "Canelo" noch sehr viel höher ausfallen. Die Weichen sind also eindeutig auf eine Revanche gestellt, wobei wie fast immer in solchen Fällen ungeklärt bleiben wird, wer genau sie mit welchen Mitteln gestellt hat. Daß alle Finger auf Adelaide Byrd zeigen, liegt natürlich nahe, greift aber sicher viel zu kurz, um zur Aufklärung eines krassen Fehlurteils zu taugen, das diverse Akteure glücklich stimmt.


Fußnoten:

[1] http://www.boxingnews24.com/2017/09/gennady-golovkin-vs-canelo-alvarez-results/#more-243062

[2] http://www.boxingnews24.com/2017/09/canelo-domination-streak-ends-escapes-draw-golovkin/#more-243061

[3] http://www.espn.com/boxing/story/_/id/20729182/canelo-alvarez-gennady-golovkin-fight-draw-megafight-las-vegas

[4] https://www.welt.de/sport/boxen/article168713840/Punktrichterin-sorgt-fuer-Skandal-bei-Boxkampf-des-Jahres.html

[5] http://www.boxingnews24.com/2017/09/golovkin-canelo-fight-draw/#more-243050

17. September 2017


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