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PROFI/606: Unrühmliches Ende einer langen Ära (SB)



Tyson Fury konsterniert ratlosen Wladimir Klitschko

Vor rund 50.000 Zuschauern in Düsseldorf, darunter auch zahlreichen britischen Schlachtenbummlern, hat Wladimir Klitschko gegen Tyson Fury verloren. In einem an Höhepunkten armen Kampf zweier boxerisch enttäuschender Schwergewichtler, deren Kampfesweisen sich gegenseitig neutralisierten, behielt der Herausforderer dank seiner etwas größeren Aktivität gegen den wie paralysiert wirkenden Titelverteidiger verdient nach Punkten die Oberhand (116:111, 115:112, 115:112). Legte man den Standard hochklassiger Auftritte in den leichten und mittleren Gewichtsklassen zugrunde, müßte man von einer desaströsen Vorstellung mit wenig klaren oder spektakulären Aktionen sprechen. Wollte man milder urteilen, könnte man Fury attestieren, daß er aus seinen körperlichen Vorteilen mit Hilfe seiner unkonventionellen Kampfesweise das Beste und Klitschkos Stärken auf diese Weise völlig zunichte gemacht hat. Das vernichtende Urteil US-amerikanischer Kommentatoren, WBC-Weltmeister Deontay Wilder hätte an diesem Abend die beiden Rivalen gleichzeitig auf die Bretter geschickt, mag zwar übertrieben klingen, weist aber zutreffend die Richtung, wer künftig das Schwergewicht dominieren wird.

Wladimir Klitschko gelang es weder, seinen Jab zu etablieren und den gefährlichen linken Haken wirkungsvoll ins Ziel zu bringen, noch seine Rechte häufiger als sporadisch zu schlagen. Statt der überlegenen Größe und Reichweite des Herausforderers Rechnung zu tragen und beherzt anzugreifen, verharrte er weitgehend in der Defensive, als fürchte er mehr als alles andere mögliche Konter des Briten. So verlief Runde um Runde ohne herausragende Aktionen, während Fury nach Belieben die Auslage wechseln, den passiven Gegner provozieren und mit seinen wilden Schlägen aus wechselnden Vektoren etwas mehr Treffer als Klitschko landen konnte. Dieser wirkte schließlich in den Pausen wie weggetreten und unerreichbar für seinen Bruder Vitali und Trainer Jonathon Banks, die ihn mit allen zu Gebote stehenden Mitteln drängten, häufiger zu schlagen. [1]

Der 27jährige Pflichtherausforderer des Verbands WBO wirkte durchweg frischer und schneller als der zwölf Jahre ältere Titelverteidiger, wobei er im Unterschied zu früheren Auftritten die wenigen schweren Treffer problemlos wegsteckte, die bei ihm ankamen. In der fünften Runde trug Klitschko nach einem unabsichtlichen Zusammenstoß der Köpfe eine Rißwunde unter dem linken Auge davon. Da er auch in der Folge seine Rechte so gut wie gar nicht einsetzte, fühlte sich Fury sichtlich sicher und machte Faxen, indem er beispielsweise im siebten Durchgang beide Arme hinter den Rücken hielt, als könne ihm der Ukrainer sowieso nichts anhaben. Als wache er endlich auf, brachte Klitschko in der neunten Runde zweimal die Rechte ins Ziel, wofür sich der Brite mit einem schweren linken Haken revanchierte.

In der Pause zur elften Runde schrie Jonathon Banks den lethargischen Champion unter Verwendung von Schimpfworten an, er benötige nun einen Niederschlag, wolle er den Kampf nicht verlieren. Klitschko reagierte nicht darauf und suchte weiterhin sein Heil im Halten und Klammern, wodurch er eine weitere Rißwunde davontrug. Ringrichter Tony Weeks, der Fury mehrmals ermahnt hatte, er solle nicht auf den Hinterkopf schlagen, zog dem Briten schließlich einen Punkt ab. In der zwölften und letzten Runde suchte Klitschko noch einmal verzweifelt, das Blatt zu wenden, doch kam dabei nicht mehr als ein erfolgreicher linker Haken und ansonsten weiteres Klammern heraus. So feierten Fury und sein Team unmittelbar nach dem Schlußgong euphorisch ihren Sieg, noch bevor Ringsprecher Michael Buffer das offizielle Ergebnis der Punktwertung verkündet hatte. [2]

Ein Traum sei wahr geworden, rief Tyson Fury, der angesichts seines Triumphs in Tränen ausbrach. Er habe so hart dafür gearbeitet und es tatsächlich geschafft. Im Ausland nach Punkten zu gewinnen, sei doppelt schwer, weshalb man seinen Erfolg um so höher einschätzen könne. Dann ergriff er das Mikrophon und würdigte Klitschko als großen Champion, dem er dafür danke, gegen ihn angetreten zu sein. Was immer er ihm im Vorfeld an den Kopf geworfen habe, sei nur Spaß und Werbung für ihren Kampf gewesen. Dann ließ es sich der Brite wie so oft nicht nehmen, für seine Frau ein Lied in den Saal zu schmettern, in diesem Fall "I Don't Want to Miss a Thing" von Aerosmith.

Wladimir Klitschko erwiderte wortkarg, Fury sei an diesem Abend der schnellere und bessere Boxer gewesen. Er selbst habe sich in den ersten sechs Runden recht gut gefühlt, dann aber gewundert, wie schnell der Gegner auch in der zweiten Hälfte des Kampfs noch immer war. Aufgrund des Reichweitenvorteils Furys sei es ihm nicht möglich gewesen, mit der Rechten zu schlagen, so der Ukrainer.

Der in 25 Kämpfen ungeschlagene Tyson Fury ist der erste britische Schwergewichtler seit David Haye, der es bis ganz an die Spitze geschafft hat. Haye verlor den WBA-Titel 2011 im Kampf gegen Wladimir Klitschko. Fury darf sich nun Superchampion der Verbände WBA und WBO sowie Weltmeister der IBF und IBO nennen. Den Gürtel des WBC hat Deontay Wilder in seinem Besitz, der sich mit guten Aussichten anschickt, im Laufe des kommenden Jahres sämtliche Titel zusammenzuführen. [3]

Wladimir Klitschko, für den nun 64 Siege und vier Niederlagen zu Buche stehen, hat erstmals seit 2004 wieder einen Kampf verloren. Er hatte die Titel 18mal erfolgreich verteidigt, womit er nur Joe Louis (25) und Larry Holmes (20) den Vortritt lassen mußte. Was die Dauer seiner Regentschaft betrifft, rangiert er mit neuneinhalb Jahren hinter Louis, der es seinerzeit auf mehr als elf Jahre gebracht hatte. Rechnet man Klitschkos Zeit als WBO-Weltmeister dazu, stehen für ihn insgesamt 28 Titelkämpfe zu Buche, die im Schwergewicht unübertroffen sind. [4]

Wie aus Klitschkos Team verlautete, enthielt der Kampfvertrag eine Klausel, die eine sofortige Revanche vorsieht, sofern der Ukrainer von dieser Option Gebrauch machen will. Tyson Fury zeigte sich offen für einen Rückkampf, zumal dieser aller Voraussicht nach in England über die Bühne gehen würde. Nach Vitali Klitschkos Worten war Fury an diesem Abend etwas besser. Wladimir habe zu lange gewartet, selten geschlagen und zu wenig im Infight riskiert. Der Brite sei nichts weiter als ein guter Boxer mit einem unorthodoxen Stil, aber Wladimir habe seine Hausaufgaben nicht gemacht. Nach einer gründlichen Analyse des Kampfs werde sein Bruder wesentlich stärker zurückkehren. [5]

Man kann der Einschätzung des älteren Klitschko im großen und ganzen zustimmen, wobei er allerdings die weit schwerer faßbaren, aber möglicherweise um so gravierenderen Aspekte dieser Niederlage wohlweislich ausgespart hat. Wladimir Klitschko war als haushoher Favorit bei den Buchmachern und den meisten Experten in den Ring gestiegen, wo er dann fast widerstandslos eine beispiellose Demontage über sich ergehen ließ. Bei seinen drei Niederlagen in ferner Vergangenheit hatten ihn jeweils Volltreffer von den Beinen geholt. Daß ihn Fury nach Punkten besiegen konnte, mutet nur auf den ersten Blick weniger verheerend an. Klitschko stand gegen den sieben Zentimeter größeren und beweglicheren Briten schlichtweg auf verlorenem Posten, was die Grenzen seiner eigenen Kampfesweise deutlich aufzeigt. Sein hochentwickeltes Sicherheitsboxen hat gegen kleinere und relativ statisch agierende Gegner jahrelang funktioniert. Dem körperlich überlegenen Fury war jedoch ohne eine mutige und rückhaltlose Offensive nicht beizukommen, deren Mangel in seinem Repertoire Klitschko womöglich tiefer erschüttert hat, als alle anderen Umstände, die man bei der Analyse seines Scheiterns anführen könnte.


Fußnoten:

[1] http://www.boxingnews24.com/2015/11/tyson-fury-shocks-the-world/#more-202565

[2] http://www.boxingnews24.com/2015/11/tyson-fury-beats-wladimir-klitschko/#more-202560

[3] http://espn.go.com/blog/statsinfo/post/_/id/111987/fury-upsets-klitschko-top-stats-to-know

[4] http://espn.go.com/boxing/story/_/id/14244433/tyson-fury-wins-unanimous-decision-wladimir-klitschko-become-world-heavyweight-champion

[5] http://www.boxingnews24.com/2015/11/vitali-klitschko-wladimir-will-come-back-stronger/#more-202598

29. November 2015


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