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PROFI/580: James DeGale ist neuer IBF-Weltmeister im Supermittelgewicht (SB)



Andre Dirrell verliert in Boston überraschend nach Punkten

James DeGale ist neuer Weltmeister der IBF im Supermittelgewicht. Der Ranglistenerste aus London setzte sich im Kampf um den vakanten Titel, der in Boston über die Bühne ging, überraschend gegen Andre Dirrell aus Flint, Michigan, durch (114:112, 117:109, 114:112). Während der 29jährige Brite seine Bilanz auf 21 Siege und eine Niederlage verbesserte, stehen für den zwei Jahre älteren US-Amerikaner nun 24 gewonnene und zwei verlorene Auftritte zu Buche. Die Wertung der Punktrichter löste eine heftige Kontroverse unter den Kommentatoren aus. So feierte man auf britischer Seite euphorisch den ersten einheimischen Olympiasieger, der es auch zum Profiweltmeister gebracht hat. Hingegen sprachen US-amerikanische Kommentatoren überwiegend von einem Fehlurteil.

Schon bei der Einschätzung der ersten Runde gingen die Meinungen auseinander, welcher der beiden Rechtsausleger die bessere Figur gemacht habe. Im zweiten Durchgang hatte DeGale seine beste Szene, als er mit einer Linken zum Kinn traf, die Dirrell zu Boden schickte. Der US-Amerikaner kam umgehend wieder auf die Beine und signalisierte seiner Ecke, daß er problemlos weitermachen könne. Der Brite setzte jedoch sofort nach, trieb seinen Gegner in die Seile und schickte ihn ein zweites Mal auf die Bretter. Wenngleich einige Beobachter später einwandten, DeGale habe den Kontrahenten dabei eher geschoben als getroffen und überdies nachgeschlagen, als Dirrell bereits den Boden berührte, wertete Ringrichter Leo Gerstel diese Aktion als regulären Niederschlag.

Die dritte Runde ging klar an DeGale, der weiter Druck machte, doch von der vierten an ließ der Brite derart nach, daß Dirrell in den Kampf zurückfand und ihn bis zum Ende dominierte. Wenngleich man den sechsten und elften Durchgang noch einmal DeGale gutschreiben konnte, war man sich in der Bewertung des Verlaufs jedenfalls so weit einig, daß der Brite entweder unter enormen Konditionsproblemen gelitten habe oder den überwiegenden Teil des Kampfs davongelaufen sei. Wenngleich man natürlich bei engen Runden stets geteilter Meinung sein kann, wer von beiden Akteuren die Oberhand gehabt habe, bleibt doch festzuhalten, daß der bessere Boxer unter unglücklichen, wenn nicht gar fragwürdigen Umständen verloren hatte. [1]

Diese in der Nachbetrachtung umstrittene Niederlage war um so bitterer für Andre Dirrell, als er vor sechs Jahren in Nottingham auf fragwürdige Weise gegen Carl Froch verloren hatte und sich nun mit einer Wiederholung dieses Szenarios konfrontiert sah. Dirrell verstand bei Verkündung des Urteils offensichtlich die Welt nicht mehr und merkte hinterher an, man habe ihm damals vorgeworfen, er sei vor Froch davongelaufen. Nun habe sich DeGale fortwährend durch Flucht entzogen und sei dennoch dafür belohnt worden. Daß ein Boxer mit der Niederlage hadert und sich betrogen fühlt, ist ein häufig anzutreffendes Phänomen. In diesem Fall hat Dirrell jedoch eine Menge guter Gründe auf seiner Seite, das offizielle Ergebnis anzuzweifeln. [2]

Wie James DeGale im anschließenden Interview erklärte, fehlten ihm die Worte. Er habe seine gesamte Karriere darauf ausgerichtet, eines Tages Weltmeister zu werden. Nun sei ihm das endlich gelungen, wobei er als Olympiasieger und Profichampion Geschichte geschrieben habe. Der Brite rechtfertigte seine nachlassende Aktivität in der zweiten Hälfte des Kampfs mit den Worten, er habe eben seinen Weg verfolgt. Außerdem dürfe man nicht vergessen, daß Dirrell ein sehr starker Gegner und schwer zu besiegen sei. Deshalb habe er ihn auch hinterher einen wahren Champion genannt, für den er großen Respekt hege. Er selbst habe sich jedoch auf seine Schnelligkeit und Beinarbeit verlassen, sei vorgestoßen und wieder herausgegangen. Wenn er wie an diesem Abend verletzungsfrei boxen könne, sei er kaum zu besiegen und nehme es mit jedem Supermittelgewichtler der Welt auf, so der Brite im Überschwang des Triumphs. [3]

Diese Äußerung sollte man besser nicht auf die Goldwaage legen, zumal man keinesfalls von einem insgesamt souveränen Auftritt DeGales sprechen kann. Wollte man sie aber ernst nehmen, wäre eine Revanche mit Andre Dirrell die angemessene Konsequenz, da nur so alle verbliebenen Zweifel aus der Welt geschafft werden könnten. Dazu wird es Promoter Eddie Hearn jedoch kaum kommen lassen, dem klar sein dürfte, wie knapp und unverhofft sein Boxer die Oberhand behalten hat. Von Dirrell abgesehen, sind die restlichen Top 15 der IBF-Rangliste mehr oder minder Kanonenfutter, unter dem der neue Weltmeister vergleichsweise leichte Gegner für eine freiwillige Titelverteidigung aussuchen könnte.

Neben Andre Dirrell gehört auch sein jüngerer Bruder Anthony, der kürzlich von Badou Jack als WBC-Weltmeister abgelöst wurde, nach wie vor zu den besten Akteuren im Supermittelgewicht. Wollte DeGale seinen Führungsanspruch in die Tat umsetzen, müßte er sich vor allem mit Andre Ward messen, dem Superchampion der WBA. Auch das wird Hearn keinesfalls zulassen, da zu befürchten stünde, daß der frisch gewonnene Gürtel sofort wieder verloren geht. [4]

Vielmehr dürfte man bei Matchroom nun auf ein spektakuläres Duell zwischen James DeGale und George Groves hoffen, das sich in England ausgezeichnet vermarkten ließe. Groves ist Pflichtherausforderer beim Verband WBC und tritt gegen Badou Jack an, der allerdings als klarer Favorit gilt. Nachdem James DeGale nun aber in Boston gewonnen hat, scheint aus britischer Sicht sicher alles möglich zu sein. Zwei einheimische Weltmeister, die ihrer langjährigen Rivalität neue Nahrung geben und die Titel zusammenführen, wäre ein Spektakel, das die Ränge der Londoner Wembley-Arena noch einmal wie beim zweiten Kampf zwischen Carl Froch und George Groves füllen könnte, das am 31. Mai 2014 vor rund 80.000 Zuschauern über die Bühne ging.


Fußnoten:

[1] http://www.boxingnews24.com/2015/05/degale-beats-dirrell-to-win-ibf-super-middleweight-title/#more-193632

[2] http://www.boxingnews24.com/2015/05/dirrell-no-way-i-lost-the-fight/#more-193638

[3] http://espn.go.com/boxing/story/_/id/12939729/james-degale-beats-andre-dirrell-unanimous-decision-win-super-middleweight-title

[4] http://www.boxingnews24.com/2015/05/degale-says-hes-ready-for-any-168lb-fighter-in-the-division/#more-193656

24. Mai 2015


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