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PROFI/522: Unspektakulärer Abbruchsieg Vitali Klitschkos gegen Manuel Charr (SB)




Herausforderer beherzt, aber boxerisch unterlegen

Vitali Klitschko hat den Titel des WBC-Weltmeisters im Schwergewicht erfolgreich verteidigt. Der 41jährige Ukrainer besiegte in der Moskauer Olympiahalle den in Köln lebenden Deutsch-Libanesen Manuel Charr durch technischen K.o in der vierten Runde. Der Ringrichter brach den Kampf ab, nachdem der chancenlose Charr aus einem Cut am rechten Auge stark blutete. Dieser bot zwar eine starke kämpferische Leistung, war aber boxerisch klar unterlegen. Während Klitschko seinen 45. Sieg im 47. Profikampf feiern konnte, mußte der 27jährige Außenseiter im 22. Kampf die erste Niederlage hinnehmen.

In der ersten Runde verschanzte sich Charr hinter einer Doppeldeckung und brachte kurz vor der Pause einige Haken ins Ziel, doch ging die Mehrzahl der Treffer eindeutig an den Weltmeister. Auch im zweiten Durchgang unternahm der Herausforderer zu wenig, wobei er seine beste Szene mit einem rechten Haken hatte. Gegen Ende der Runde rannte Charr mit gesenktem Kopf in den Gegner, der ihn dabei mit einem Schlag auf den Hinterkopf traf und den Kölner erstmals in dessen Karriere zu Boden schickte.

Manuel Charr war auch im dritten Durchgang beherzt auf dem Vormarsch, doch mußte er dabei weitere Treffer hinnehmen. In der vierten Runde wurde der Kölner von einem linken Haken getroffen, worauf sich eine Rißwunde im rechten Augenwinkel öffnete, der stark zu bluten begann. Zwar warf sich Charr mit dem Mut der Verzweiflung noch einmal ins Gefecht und konnte dabei sogar zwei Treffer landen, doch griff Ringrichter Guido Cavalleri schließlich ein und zog den Arzt zu Rate. Der untersuchte die Verletzung gründlich und empfahl dem Referee dann, den Kampf abzubrechen. Der Herausforderer wollte die Entscheidung zugunsten seines Schutzes zunächst nicht wahrhaben und protestierte lautstark. Es dauerte mehrere Minuten, bis sich der 27jährige wieder beruhigt hatte.

Wie Vitali Klitschko im anschließenden Interview mit dem übertragenden Sender RTL erklärte, sei er bereit gewesen, den Kampf fortzusetzen. Manuel Charr sei entschlossen und marschiere nach vorn. Dennoch habe er selbst das Geschehen im Ring kontrolliert und sei nie ernsthaft getroffen worden. Letzten Endes habe die Entscheidung beim Ringarzt gelegen. Eine Revanche wollte der Ukrainer an dieser Stelle nicht zusagen. Es gebe Regeln, betonte der Ukrainer. Charr habe seine Chance gehabt, nun sei ein anderer an der Reihe.

Manuel Charr war tief enttäuscht über das unglückliche Ende seines Auftritts und versicherte, er sei durch die Schläge, die er einstecken mußte, nur noch stärker geworden. Nicht Vitali habe den Kampf gewonnen, sondern der Ringarzt. Er habe sich vorgenommen, in der zweiten Hälfte bedingungslos anzugreifen, und sei sich sicher gewesen, Klitschko auf die Bretter zu schicken. Wer ihn kenne wisse, daß er bis zum Ende kämpfe. Leider sei es ihm nicht gelungen, Axel Schulz und Timo Hoffman zu rächen. Nun hoffe er, eine zweite Chance zu bekommen. "Vitali Klitschko ist mein Boxidol, es war eine große Ehre, gegen den Stärksten zu boxen."

Charr versteifte sich so sehr auf einen angeblichen Regelverstoß, daß Thomas Pütz, Präsident des Bundes Deutscher Berufsboxer, und Ringarzt Stefan Holthusen bei der Pressekonferenz Rede und Antwort stehen mußten. Nur der Ringrichter könne den Kampf abbrechen, betonte Pütz. Der Arzt könne lediglich eine Empfehlung geben. Ringarzt Dr. Stefan Holthusen begründete seine Entscheidung damit, daß sich die Rißwunde sehr schnell vergrößert habe und seines Erachtens keine freie Sicht mehr möglich war. Weitere Treffer hätten den Cut noch weiter vergrößert und das Augenlid gefährdet. Daher habe dringender Anlaß bestanden, den Kampf nicht weiterlaufen zu lassen.

Wie alle Auftritte der Klitschkos bescherte auch die Titelverteidigung gegen den zuvor wenig bekannten Manuel Charr dem Kölner Privatsender RTL eine ausgezeichnete Quote. Bis zu 9,22 Millionen Zuschauer verfolgten das Duell im Moskauer Olympiastadion, durchschnittlich waren 8,75 Millionen dabei. Damit lag der Marktanteil bei ansehnlichen 43,6 Prozent, in der werberelevanten Zielgruppe der 14- bis 49jährigen waren es 42,8 Prozent.

Noch erfolgreicher wäre zweifellos ein Kampf Vitali Klitschkos gegen David Haye, der im vergangenen Jahr den kürzeren gegen Wladimir gezogen hatte. Der Brite war live zugeschaltet und sparte nicht mit scharfer Kritik an der Entscheidung, den Kampf wegen der Verletzung des Herausforderers abzubrechen. Das sei eine Katastrophe gewesen, empörte sich der Brite. Klitschko sollte sich angesichts seiner schlechten Leistung schämen: "Ich habe so viele Lücken gesehen, so viele Mängel in seiner Deckung. Ich bin sicher, daß Vitali mit mir niemals sechs Runden durchstehen würde", brachte sich Haye in der ihm eigenen Großspurigkeit ins Gespräch.

Ob es zum attraktiven und lukrativen Duell mit Haye kommt, hängt einerseits von diesbezüglichen Verhandlungen, andererseits vom Ausgang der Parlamentswahlen in der Ukraine am 28. Oktober ab. Der prowestlichen Partei UDAR, deren Vorsitzender Klitschko ist, wird ein sicherer Einzug ins Parlament prognostiziert. Ob der Ukrainer dann seine politische Arbeit mit einer Fortsetzung seiner sportlichen Laufbahn unter einen Hut bringen kann, ist ungewiß.

Im Umfeld des WBC-Champions geht man indessen davon aus, daß der 41jährige zumindest noch einen weiteren Kampf bestreiten wird. Wie Klitschkos Ehefrau Natalia sagte, habe sie gehofft, daß der Kampf in Moskau der letzte sein würde. Ihr Bauchgefühl sage ihr jedoch, daß dem nicht so ist. Auch Trainer Fritz Sdunek ist davon überzeugt, daß er nicht zum letzten Mal in Klitschkos Ecke gestanden hat. Der nächste Kampf werde sicher irgendwann kommen, gab sich der 65jährige überzeugt.

Ungeachtet des späten Anfangs von 1.00 Uhr Ortszeit stand das Publikum in der riesigen, wenngleich nicht ausverkauften Halle von Anfang an hinter Vitali Klitschko. Dessen offensichtlich zahlreiche russischen Fans feuerten ihn Seite an Seite mit ukrainischen Schlachtenbummlern an, die mit Nationalflaggen behängt zum ersten Profikampf ihres Idols in die russische Hauptstadt gereist waren. Eigentlich wäre Klitschko am liebsten im Olympiastadion von Kiew aufgetreten, doch blieb es ihm verwehrt, auf diese Weise Wahlkampf zu machen. Da man allgemein davon ausgeht, daß er die lange und erfolgreiche Karriere am liebsten in seiner Heimatstadt beenden möchte, und die Titelverteidigung gegen Manuel Charr kein spektakulärer Abschluß war, kann man mit einem weiteren Auftritt des Weltmeisters im Boxring rechnen.

9. September 2012