Schattenblick →INFOPOOL →SPORT → BOXEN

PROFI/485: Müder Auftritt Walujews reicht knapp gegen Holyfield (SB)


Nur Holyfields Tanzeinlagen milderten den desolaten Eindruck


Als Ringsprecher Michael Buffer das Urteil verlesen hatte, quittierten die 12.500 Zuschauer im Hallenstadion von Zürich das Ergebnis und letzten Endes den gesamten Kampfverlauf mit einem Pfeifkonzert. Schon bei der Vorstellung war Weltmeister Nikolai Walujew mit Mißfallenskundgebungen bedacht worden, während der Herausforderer bejubelt und während des Kampfs immer wieder mit Sprechchören angefeuert wurde. Der Russe verteidigte seinen WBA-Titel knapp nach Punkten (114:114, 116:112, 115:114), doch bot Evander Holyfield eine Leistung, die man dem 46jährigen kaum noch zugetraut hatte. Der US-Amerikaner scheiterte zwar bei dem Versuch, der älteste Schwergewichtschamp aller Zeiten zu werden und als erster fünfmal einen WM-Gürtel zu gewinnen, ging aber als moralischer Sieger aus diesem Gefecht hervor.

Die Loblieder auf Holyfield im Vorfeld des Kampfs hatten offenbar ihre Wirkung auf Walujew nicht verfehlt, der regelrechte Komplexe entwickelt zu haben schien und in den ersten Runden wie gelähmt wirkte. "Schlaf nicht ein!", befahl ihm sein Trainer Alexander Simin, "drück ihn einfach weg". Doch der Champion wollte nicht hören, drehte sich in der Mitte des Rings um die eigene Achse und beobachtete argwöhnisch den Amerikaner. Die ersten sechs Runden versuchte er vergeblich, den tänzelnden Herausforderer zu stellen.

Holyfield hingegen hielt sich an das Kommando seines Trainers: "Dreh ihn wie einen Kreisel!" Er hüpfte um den unbeweglichen 141 Kilo schweren Koloß herum, traf ihn ab und zu mit Kontern und war dann wieder verschwunden. Der 2,13 m lange Russe kam dagegen zunächst kaum einmal an den 24 Zentimeter kleineren und knapp 44 Kilo leichteren Herausforderer heran.

In der zweiten Hälfte des Duells ging dem Publikumsliebling langsam die Luft aus, so daß auch der russische Gigant zu sporadischen Treffern kam. Holyfield beschränkte sich auf eine gute Aktion pro Runde und das reichte aus, um über die Zeit zu kommen. Walujew versäumte es trotz einiger guter Treffer immer wieder, energisch nachzusetzen. Die lautstarken Aufforderungen dazu aus seiner Ecke ignorierte er einfach. Selbst in der letzten Runde, als sich Holyfield kaum noch auf den Beinen halten konnte, scheute der elf Jahre jüngere Russe das Risiko.

"Ich dachte, ich hätte gewonnen", kommentierte Holyfield das Ergebnis. "Ich habe mehr und klarere Treffer gelandet", erklärte er auf der nachfolgenden Pressekonferenz. "Mir geht es großartig", versicherte er und trug tatsächlich keine einzige Schramme zur Schau. Obgleich er soeben seine zehnte Niederlage im 54. Profikampf und zugleich die sechste in den letzten sieben Jahren kassiert hatte, verkündete er stolz: "Ich kann es noch immer!"

Sein Trainer Tommy Brooks schien nach der Urteilsverkündung für einen Augenblick den Glauben an die Gerechtigkeit auf dieser Welt verloren zu haben. Er schlug die Hände über seiner schwarzen Baseballkappe zusammen und rannte wild gestikulierend umher. "Ich kann das nicht fassen", ließ er seine Mitstreiter im Boxring wissen. Dann besann er sich wieder, faßte seinen Schützling am Handgelenk und riß dessen linke Faust in die Höhe. "Wir haben diesen Kampf gewonnen", behauptete Brooks. Die Strategie, in erster Linie nicht getroffen zu werden, sei aufgegangen. "Ich weiß nicht, welchen Kampf die Punktrichter gesehen haben", haderte er mit dem Ergebnis.

Es sei eine enge Entscheidung gewesen, räumte auch Promoter Wilfried Sauerland ein: "Vielleicht sogar ein Unentschieden. Evander ist ein Ausnahmeathlet. Er hat viel getanzt, allerdings wenig geschlagen. Er muß als Herausforderer mehr tun, als nur zu versuchen, Schläge zu vermeiden. Er hat die erste Hälfte des Kampfes gewonnen, Niko die zweite."

"Respekt, wenn einer in dem hohen Alter noch so boxen kann", befand der deutsche Weltmeister im Mittelgewicht, Artur Abraham, der mit seinen 28 Jahren Holyfields Sohn sein könnte. "Walujew ist nur hinterhergerannt. Er hat nicht schlau geboxt."

Walujew selbst rang sich zu folgenden Worten durch: "Es war ein schwerer Kampf. Holyfield war unglaublich schnell, und ich bin stolz, daß ich gegen ihn antreten durfte." Holyfield wiederum lobte den Russen, so daß alle Aussagen bereits nach einer Bewerbung für die zweite Auflage klangen: "Er hat schnellere Hände als man denkt. Ich bin nicht enttäuscht, sondern mit meiner Leistung zufrieden. Es war mein bester Kampf seit zehn Jahren."

Mit dem Gedanken an eine Revanche konnte sich Holyfields Manager Kenneth Sanders ebenso anfreunden wie Sauerland-Geschäftsführer Christian Meyer. "Das war eine spannende Kiste, es schreit nach einem Rückkampf", sagte dieser und dachte dabei erneut an Zürich und dessen nicht gerade boxverwöhntes Publikum.

Holyfield würde sich natürlich über eine Neuauflage freuen. Während ihn in den USA niemand mehr kämpfen sehen will, kann er seinen Namen und das von Barack Obama entlehnte Motto "Yes, we can!" in Europa noch immer verkaufen. Er bekam eine Börse von 750.000 Dollar, die weit unter den Gagen angesiedelt ist, die er einst erhielt, doch angesichts seiner derzeitigen finanziellen Verhältnisse ein dringend benötigter warmer Regen war.

Ob es tatsächlich zu einer Revanche zwischen den beiden kommt, hängt wesentlich von Ruslan Tschagajew ab. Der Usbeke, der als bislang einziger Gegner Walujew bezwingen konnte, wird von der WBA als "Champion in der Pause" geführt und hat das Vorrecht, gegen den Russen anzutreten. Sollte er wieder seine frühere Form erreichen, geht er als Favorit in diesen Kampf, denn er ist nicht nur ebenso beweglich wie Holyfield, sondern kann diese Strategie auch über die volle Distanz durchhalten.

Tschagajew wird zunächst am 7. Februar einen Aufbaukampf gegen den unbekannten US-Amerikaner Carl Davis Drummond bestreiten, was man im Sauerland-Boxstall natürlich nicht gerne sieht. "Gegen den Kampf haben wir Einspruch erhoben, den WM-Gürtel hat Nikolai", erklärte Geschäftsführer Christian Meyer. "Walujew ist etwa im März bereit zum Fight gegen Tschagajew. Und danach machen wir wieder Holyfield in Zürich."

Knapp zehn Millionen Zuschauer, wie sie die Brüder Klitschko zuletzt erreichten, schafft derzeit kein anderer Boxer in Deutschland. Immerhin sicherte sich Nikolai Walujew am Samstag den Tagessieg. Sein Duell mit Holyfield setzte sich bei den Einschaltquoten durch, denn gegen 23.00 Uhr lockte der Boxkampf im Durchschnitt 7,24 Millionen Zuschauer zu der ARD, wo man sich über einen Marktanteil von 30,7 Prozent zu später Stunde freuen konnte. Auch in der für die Werbewirtschaft wichtigsten Zielgruppe der 14- bis 49jährigen lag Boxen gut im Rennen: 2,08 Millionen Zuschauer dieser Altersklasse verfolgten die Übertragung im Ersten und sorgten für 19,9 Prozent Marktanteil. Einzig "Schlag den Raab" war am Samstagabend bei den Werberelevanten noch stärker.

Man hatte Evander Holyfield im Kalkül aus der Versenkung geholt, er werde den Glamour der 1990er Jahre mitbringen, in denen echte Stars wie Mike Tyson oder Lennox Lewis dem Schwergewicht Glanz und Dramatik verliehen. "Es wird Zeit für die Jungen in der Szene", konstatierte ARD-Kommentator Andreas Witte, um dann leicht verzweifelt hinzuzufügen: "Aber ich sehe sie nicht."

Für einen Boxer, dessen beste Zeit mindestens zehn Jahre zurückliegt, hielt sich Evander Holyfield über Erwarten gut, während Nikolai Walujew noch schlechter als ohnehin befürchtet zu Werke ging. Alles in allem war dieser Titelkampf ein weiteres Armutszeugnis für das Schwergewicht, das langsam aber sicher zum Totengräber des professionellen Boxsports zu werden droht, der sich nicht ewig mit nostalgischen Erinnerungen an die guten alten Zeiten über Wasser halten kann.

21. Dezember 2008