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MELDUNG/2033: Schwerwiegende Argumente auf dem Prüfstand (SB)



Jarrell Millers Sieg über Fred Kassi läßt viele Fragen offen

Der US-amerikanische Schwergewichtler Jarrell "Big Baby" Miller aus Brooklyn machte seinem Kampfnamen insofern alle Ehre, als er bei einer stolzen Größe von 1,93 m mit dem noch imposanteren Gewicht von rund 135 kg in den Ring stieg. Sein zehn Zentimeter kleinerer und etwa 27 Kilo leichterer Gegner Fred Kassi aus New Orleans hatte wie erwartet nichts zu lachen, was freilich nicht allein dem körperlichen Mißverhältnis, sondern in erheblichem Maße auch seiner befremdlichen Taktik geschuldet war. So mußte sich der Außenseiter bei ihrem Duell unter freiem Himmel in Rochester, New York, nach einer enttäuschenden Darbietung bereits in der dritten Runde geschlagen geben, da ihn eine Verletzung an der Hand außer Gefecht setzte. Damit blieb der 28jährige Miller mit einer Bilanz von 18 gewonnenen Auftritten und einem Unentschieden weiterhin ungeschlagen, während für den 36 Jahre alten Kassi nun 18 Siege, sechs Niederlagen sowie ein Unentschieden zu Buche stehen.

Nur in der ersten Runde kämpfte Kassi so, wie man es von einem kleineren und wesentlich leichteren Boxer erwarten würde. Er blieb in Bewegung, wich dem langsam heranstapfenden Riesen aus und versetzte ihm etliche Treffer. Warum er nicht bei dieser Vorgehensweise blieb, die recht gut zu funktionieren schien, sondern in den beiden folgenden Durchgängen wie schon bei seiner Niederlage gegen Amir Mansour im Jahr 2014 mit den Seilen im Rücken kämpfte, obgleich ihm das schlecht bekam, blieb sein Geheimnis. Miller machte sich gar nicht erst die Mühe, Kassi mit seinen langsamen Schlägen am Kopf zu treffen, was nicht einfach gewesen wäre. Statt dessen schlug er mit Wucht zum Körper des Gegners, der ihm aufgrund der Klemme, in die er sich selbst gebracht hatte, kaum entweichen konnte. Sich ständig treffen zu lassen war jedenfalls keine gute Idee und hätte auch ohne die Handverletzung eher früher als später zum Abbruch geführt.

Das in Erwartung eines lebhaften, vielleicht sogar spannenden Auftritts versammelte Publikum bekam kaum einen regelrechten Kampf zu sehen, und daß bereits nach der dritten Runde alles vorbei war, drückte nicht minder auf die Stimmung. Fred Kassi hatte zwar zwei seiner letzten drei Kämpfe gegen Dominic Breazeale und Hughie Fury verloren, galt aber zu Recht als durchaus anspruchsvoller Aufbaugegner, der nicht nur kommt, um zu kassieren und zu verlieren. Diesmal machte er jedoch keine gute Figur, so daß hinterher die Frage im Raum stand, wie Millers Auftritt unter diesen Umständen einzuschätzen sei.

Der New Yorker ist in den Ranglisten der Verbände WBO (7), WBA (9) und IBF (9) unter den Top 10 plaziert. Da er seit einiger Zeit vehement einen Titelkampf einfordert, galt sein Duell mit Kassi als aktueller Gradmesser seiner Qualitäten und mögliche Empfehlung für einen der Weltmeister, ein Auge auf ihn zu werfen. Was positiv für Miller zu Buche schlug, waren sein Vorwärtsdrang und die Wucht, mit der er zum Körper des Kontrahenten schlug. Er brachte dabei Kombinationen durch und entfaltete vor allem mit der Rechten eine beträchtliche Wirkung, die ein mehr oder minder statisches Ziel schwer in Mitleidenschaft ziehen kann, wie er es an diesem Abend in Fred Kassi fand.

Schlecht sah der massiv gebaute Favorit hingegen in der Anfangsphase aus, als ihn der leichtfüßigere Gegner phasenweise ausmanövrierte und wiederholt traf. Miller baute so gut wie keine Deckung auf, als verlasse er sich voll und ganz auf seine robuste Konstitution, ließ aber dennoch bereits nach der ersten Runde erkennen, daß er außer Puste war. Er ähnelt von seiner Statur her ohnehin eher einem Wrestler oder Football-Spieler als einem Boxer und dürfte Probleme bekommen, sobald er mit einem hochklassigen und konditionsstarken Kontrahenten konfrontiert wird, der sich flüssiger bewegt, ihn ständig beschäftigt und Luft für zwölf Runden hat.

Wie jeder andere aufstrebenden Kandidat ruft natürlich auch Jarrell Miller laut nach den Weltmeistern Deontay Wilder (WBC), Anthony Joshua (IBF) und Tyson Fury (WBA, WBO, IBO). Er werde ihnen die Leviten lesen, sofern sie nur den Mut aufbrächten, den Ring mit ihm zu teilen. Fury möge seinen Job nicht, beklage sich ständig und schütze Verletzungen vor. Irgend etwas stimme mit dem Briten nicht, so Miller. Wilder breche sich alle fünf Minuten einen Finger, nimmt der New Yorker auch die Probleme seines Landsmanns aus Tuscaloosa recht zutreffend aufs Korn. Joshua böte hingegen ein Mega-Kampf, und so warte er nur darauf, daß der IBF-Champion seinen Namen nenne. [1]

Gemessen an Millers Auftritt mit Kassi würde er derzeit wohl gegen jeden der drei genannten Weltmeister den kürzeren ziehen. Keiner von ihnen würde sich wie ein Sparringspartner in die Seile lehnen und auf seine langsamen Schläge warten, wobei er gegen Wilder und Joshua Gefahr liefe, binnen kurzem niedergeschlagen zu werden. Auch Joseph Parker dürfte ihn vor enorme Probleme stellen, da der Neuseeländer größer ist, sich gut bewegt und einen erstklassigen Jab schlägt. Um den derzeitigen Pflichtherausforderer der IBF zu besiegen, müßte sich Miller seinerseits flott bewegen, den Jab einsetzen und über die Deckung des Gegners schlagen. Das wiederum wäre wesentlich anstrengender als mit hängenden Armen zum Körper zu gehen, so daß seine Kondition auf die Probe gestellt würde. Luiz Ortiz wäre definitiv eine Nummer zu groß für Miller, da der Kubaner ebenfalls von massiver Statur, ihm aber in technischer Hinsicht haushoch überlegen ist.

Bevor sich die Weltmeister für ihn interessieren und er ihnen halbwegs gewachsen ist, muß Jarrell Miller noch einige Nüsse in Gestalt anspruchsvollerer Gegner knacken, als es Fred Kassi in Rochester war. Bryant Jennings, der Bulgare Kubrat Pulew, Carlos Takam, Bermane Stiverne, Eric Molina oder Johann Duhaupas, um nur einige Namen zu nennen, könnten geeignete Prüfsteine für das Talent des New Yorkers sein, der bislang von seinen imposanten Körpermaßen gezehrt hat. Was Miller bislang zum Vorteil gereichte, droht ihm nun auf die Füße zu fallen, sofern es ihm nicht gelingt, all jene Qualitäten zu verbessern, die er bislang mehr oder minder vernachlässigen konnte.


Fußnote:

[1] http://www.boxingnews24.com/2016/08/jarrell-miller-vs-fred-kassi-results/#more-215234

21. August 2016


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