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MELDUNG/1579: Iren haben einen langen Atem (SB)




Andy Lee zu guter Letzt neuer WBO-Weltmeister im Mittelgewicht

Weltkarrieren im Boxen sind oftmals untrennbar mit der Person eines renommierten Trainers verflochten, der seinen Schützlingen nicht nur als kompetenter Experte, sondern auch als väterlicher Freund zur Seite steht. Das galt in besonderem Maße für Emanuel Steward, aus dessen berühmter Sportschule "Kronk" in Chicago zahlreiche Titelträger hervorgegangen sind. Thomas Hearns, Lennox Lewis und Wladimir Klitschko, um nur einige wenige aus der großen Schar von Steward betreuter Akteure zu nennen, etablierten ihre langjährige Regentschaft in enger Zusammenarbeit mit diesem legendären Trainer.

Auch der Ire Andy Lee verbrachte die meiste Zeit seiner Karriere an der Seite Emanuel Stewards. Ihre Beziehung war nicht nur sportlicher und geschäftlicher Natur, vielmehr lebten die beiden wie Vater und Sohn in Stewards Haus in Detroit Tür an Tür. Nach sieben Jahren intensiver Zusammenarbeit wollten sie am 16. Juni 2012 in El Paso Geschichte schreiben, als sich die Gelegenheit bot, um den WBC-Titel im Mittelgewicht zu kämpfen. Julio Cesar Chavez jun., Sohn des gleichnamigen Sportidols aus Mexiko, war jedoch wie so oft bei seinen Auftritten wesentlich größer und nach der Rehydrierung bedeutend schwerer als der Herausforderer. Er machte unablässig Druck und versetzte dem Iren zahlreiche Körpertreffer, so daß sich dieser durch technischen K.o. in der siebten Runde geschlagen geben mußte.

Lee verlor nicht nur diesen Kampf, sondern vier Monate später auch Emanuel Steward, der am 25. Oktober 2012 einer schweren Krankheit erlag. So stand der Ire innerhalb kürzester Zeit vor den Trümmern seiner Karriere. Daraufhin zog es ihn zurück nach Europa, wo er in London mit Adam Booth, dem ehemaligen Trainer des Schwergewichtlers David Haye, eine neue Bezugsperson fand. Als Trainer, Manager und Freund baute Booth den verunsicherten Lee Schritt für Schritt wieder auf und führte ihn mit vier teilweise glücklichen Siegen erneut an die Spitze heran.

Am 26. April 2014 sollte Andy Lee die Gelegenheit bekommen, ein zweites Mal um die Weltmeisterschaft zu kämpfen. Titelverteidiger war kein Geringerer als Gennadi Golowkin, der seit fünf Jahren sämtliche Gegner vorzeitig besiegt hatte. Da der Kampf im Madison Square Garden über die Bühne gehen sollte, erhielt Lee wohl vor allem deshalb den Zuschlag, weil er die riesige irische Fangemeinde in New York mobilisieren konnte. Es kam jedoch anders, da der in Stuttgart lebende Kasache wegen eines Todesfalls in seiner Familie die sportliche Karriere vorübergehend zurückstellen mußte. Da sein Vater Gennadi Iwanowitsch Golowkin am 18. Februar an einem Herzinfarkt verstorben war, folgte der Tradition gemäß eine 40tägige Trauerzeit, so daß die Vorbereitungen auf den anstehenden Kampf abgebrochen wurden. Nach dem Tod seiner beiden älteren Brüder und nun auch des Vaters war Golowkin fortan das Familienoberhaupt, womit besondere Verpflichtungen verbunden sind.

Was wie ein erneuter Rückschlag in der Laufbahn des Iren anmuten mochte, erwies sich letzten Endes als Glücksfall. Lee hätte gegen den überragenden Golowkin nie und nimmer gewonnen, während er nun gewissermaßen auf dem Nebengleis in Bereitschaft blieb. Am 7. Juni trat er im Vorprogramm des vielbeachteten Kampfs zwischen Sergio Martinez und Miguel Cotto in New York gegen John Jackson an. Dieser stammt von den Jungferninseln und wurde bei einer Bilanz von 18 Siegen und einer Niederlage als Nachwuchshoffnung gehandelt. Dabei profitierte er vom Ruhm seines Vaters Julian "The Hawk" Jackson, der vor Jahren als Weltmeister im Halbmittel- und Mittelgewicht wegen seiner außergewöhnlichen Schlagwirkung gefürchtet war. Der Ire wurde als anspruchsvoller Test für den aufstrebenden Nachwuchsboxer verpflichtet, von dem man im Falle eines Sieges in Zukunft große Taten erwartete. Lee lag gegen Jackson im Rückstand, als er das Blatt durch K.o. in der fünften Runde wenden konnte und sich damit wieder für höhere Aufgaben ins Gespräch brachte.

Dieser Erfolg des Iren führte dazu, daß er als erster Herausforderer Miguel Cottos verpflichtet werden sollte, der den Argentinier Sergio Martinez als WBC-Weltmeister im Mittelgewicht entthront hatte. Wie Lees Promoter Lou DiBella geltend machte, verkaufe sein Boxer in New York jede Menge Eintrittskarten, weshalb er eine attraktive Option für den Sender HBO sei. Zwar könnte Miguel Cotto den Madison Square Garden mit seiner puertoricanischen Fangemeinde notfalls auch im Alleingang füllen, doch würde es sicher nicht schaden, einen Gegner zu wählen, der in dieser Stadt ebenfalls über eine beträchtliche Anhängerschaft verfügt.

Als der im Dezember geplante Auftritt Cottos ersatzlos gestrichen wurde, schien Andy Lee abermals mit leeren Händen dazustehen. Das änderte sich jedoch schlagartig, als der unbesiegte WBO-Champion Peter Quillin vermutlich aus finanziellen Gründen auf eine Titelverteidigung gegen seinen Pflichtherausforderer Matt Korobow verzichtete. Daraufhin wurde ihm der Gürtel aberkannt, und Andy Lee bekam als Nächstplazierter in der WBO-Rangliste den Kampf um den vakanten Titel gegen Korobow zugesprochen.

Vor dem Duell im Cosmopolitan in Las Vegas galt der in 24 Auftritten ungeschlagene russische Olympiateilnehmer von 2008 als klarer Favorit, da er über eine ausgezeichnete Schlagwirkung verfügt. Man rechnete allgemein damit, daß der 30 Jahre alte Ire wie immer mutig mitkämpfen, doch früher oder später am Boden landen würde. Der Kampf schien den erwarteten Verlauf zu nehmen, da Korobow dominierte und seinen Vorsprung Zug um Zug ausbaute. In der sechsten Runde brachte Lee jedoch wie aus dem Nichts einen gewaltigen rechten Haken ins Ziel, der den Russen taumeln ließ. Sofort setzte der Ire entschlossen nach und deckte Koborow derart mit weiteren Treffern ein, daß Ringrichter Kenny Bayless keine andere Wahl blieb, als den Kampf zu beenden. Dank dieses sensationell anmutenden Erfolgs sicherte sich Andy Lee den vakanten WBO-Titel im Mittelgewicht und verbesserte seine Bilanz auf 34 Siege und zwei Niederlagen.

Wie der neue Weltmeister im Hochgefühl des Triumphs berichtete, habe ihm Matt Korobow Albträume bereitet. Die Anfeuerungsrufe seiner zahlreich angereisten Fans aus New York und Detroit hätten ihn jedoch darin bestärkt, die Flinte nicht ins Korn zu werfen und seine Chance zu suchen. Lee dankte seinem Manager und Trainer Adam Booth, der in den letzten Jahren so viel für ihn getan habe. Danken wolle er auch Emanuel Steward, der ihn zu dem gemacht habe, was er heute ist. Man habe sieben, acht Jahre zusammengearbeitet und -gelebt, wobei ihm Emanuel stets vorausgesagt habe, daß er eines Tages Weltmeister sein werde. Stewards Frau Marie sei heute extra den weiten Weg von Detroit nach Las Vegas gekommen, und so wolle er ihr und allen vom Kronk-Gym herzlich danken.

Gennadi Golowkin, Superchampion der WBA, Titelträger der kleineren IBO und Interimsweltmeister des WBC im Mittelgewicht, hatte als aufmerksamer Beobachter am Ring gesessen. Er attestierte Andy Lee eine starke Leistung und signalisierte damit offenbar auch sein Interesse, zur Vereinigung der Titel gegeneinander anzutreten. Fürs erste hat der frischgebackene WBO-Weltmeister jedoch etwas anderes im Sinn. Schon im Vorfeld des Kampfs gegen Korobow hatte er über seinen großen Traum von einer Titelverteidigung in Irland gesprochen. Diese Absicht bekräftigte er nun mit den Worten, er sei jetzt Champion und werde als erstes in seiner Heimat antreten. [1]

Dabei könnte der Brite Billy Joe Saunders sein Herausforderer sein, der sich kürzlich in London hauchdünn nach Punkten gegen seinen Landsmann Chris Eubank jun. durchgesetzt hat. Während Saunders den Titel des Europameisters erfolgreich verteidigen konnte und nun in 21 Auftritten ungeschlagen ist, mußte Eubank in seinem 19. Profikampf die erste Niederlage hinnehmen. Von ungeteiltem Lob für den Sieger konnte freilich keine Rede sein, da sich dieser den in der zweiten Hälfte des Kampfs immer gefährlicher aufkommenden Gegner vor allem klammernd vom Leib gehalten hatte. Sollte es tatsächlich zum Titelkampf zwischen Andy Lee und Billy Joe Saunders kommen, stünde der Herausforderer mit einer Leistung wie der gegen Eubank auf verlorenem Posten.


Fußnote:

[1] http://www.boxen-heute.de/artikel/6662-tko-sieg-in-der-6-runde-gegen-korobovandy-lee-neuer-wbo-mittelgewichts-champion.html

15. Dezember 2014