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PORTRAIT/093: Kelly Pavlik schlägt ein neues Kapitel in seinem Leben auf (SB)




Ex-Weltmeister beendet im Alter von nur 30 Jahren seine Karriere

Am 5. April 1982 in Youngstown (Ohio) geboren, mußte Kelly Pavlik im Alter von acht Jahren miterleben, wie sein Vater einen gutbezahlten Job im Stahlwerk verlor. Ein Jahr später nahm ihn der Boxtrainer Jack Loew unter seine Fittiche, dessen Angaben zufolge der Junge zäh und mutig, aber keineswegs etwas Besonderes war. In seinem ersten Kampf bekam Pavlik einen erfahrenen Gegner vorgesetzt und prügelte ihn doch durch den Ring, als habe er nie etwas anderes gemacht. Er gewann mehrere Juniorenturniere im Weltergewicht, darunter 1999 die nationale Juniorenmeisterschaft. Bei der Olympiaausscheidung 2000 unterlag er jedoch Jermain Taylor und Anthony Hanshaw. Seine Bilanz bei den Amateuren lag bei 89 Siegen und neun Niederlagen.

Mit 18 Jahren erhielt er einen Profivertrag bei Bob Arums "Top Rank" und gewann seine ersten dreißig Kämpfe im Mittelgewicht. Anfangs boxte er so wendig, daß man ihm den Beinamen "The Ghost" verpaßte, weil ihn seine Gegner nicht zu fassen bekamen. Obgleich er diese Fähigkeit behielt, stellte er sich auf ein unablässiges Power-Punching um, mit dem er auch die härtesten Gegner dominierte. Seine Schlagwirkung war so beeindruckend, daß ihn das "Ring Magazine" zeitweise als gefährlichsten Puncher seiner Gewichtsklasse einstufte. Man ließ sich dennoch sechs Jahre Zeit, um den mit 1,89 m hochgewachsenen Mittelgewichtler in aller Ruhe aufzubauen.

Im Oktober 2005 wurde ein breiteres Publikum auf ihn aufmerksam, als er mit Fulgencia Zuniga erstmals einen Titelaspiranten durch K.o. besiegte. Im Januar 2007 bezwang er den Mexikaner José Luis Zertuche durch Knockout und wurde dadurch Pflichtherausforderer des WBC. Es kam jedoch bei der WBO zu einem Titelkampf gegen Edison Miranda, in dem die beiden Boxer aufeinandertrafen, denen man die größte Schlagwirkung in diesem Limit attestierte. Die Kontrahenten schenkten einander nichts und erzielten zahlreiche Wirkungstreffer, doch Pavlik setzte sich zunehmend durch, schlug den Kolumbianer wiederholt zu Boden und gewann schließlich durch technischen K.o. in der siebten Runde.

Am 29. September 2007 trat er gegen WBC-Weltmeister Jermain Taylor an, der frühzeitig auftrumpfte und Pavlik bereits in der zweiten Runde auf die Bretter schickte. Der Herausforderer erwies sich jedoch als außerordentlich zäh, kam wieder in den Kampf und trieb Taylor in der siebten Runde derart in die Enge, daß der Ringrichter abbrechen mußte. Da im Vertrag eine Revanche vereinbart war, kam es am 16. Februar 2008 im MGM Grand Hotel von Las Vegas zu einem zweiten Duell, das Pavlik einstimmig nach Punkten gewann.

Kelly sei ein außerordentlich loyaler Mensch, berichtet sein Vater Michael Pavlik, der lange als Manager für seinen Sohn tätig war. Während der Vorbereitung auf den nächsten Kampf schlief der Champion bei seinen Eltern auf dem Sofa und mußte nur die Treppe hinuntersteigen, um in einem ehemaligen Laden, der seit ewigen Zeiten sein Trainingsraum war, an die Arbeit zu gehen. Jahrelang stritt man bei "Top Rank" darüber, ob es nicht doch besser wäre, Kelly Pavlik in eine andere Umgebung zu bringen. Dieser willigte schließlich ein, 2004 und 2005 vor einigen Auftritten in Las Vegas zu trainieren. Obgleich er auch diese Kämpfe gewann, wurde doch allen Beteiligten klar, daß er zu Hause am besten aufgehoben war. Danach trainierte er wieder in Youngstown, wo es ihm am besten gefiel: Hier habe er alles, was er brauche, vor allem aber echte Fans.

Er schwärmt noch heute von dem großartigen Empfang, den ihm Youngstown nach seinem ersten Sieg gegen Jermain Taylor bereitet habe. Es sei einfach unbeschreiblich gewesen zu erleben, daß die Stadt wieder auf die Beine gekommen sei. Dabei trug Pavlik auch außerhalb des Rings eine Menge dazu bei, Youngstown ein menschliches Antlitz zu geben. Er engagierte sich im Sozialbereich und besuchte hilfsbedürftige Menschen, was in seinem Fall tatsächlich keine bloße Außendarstellung zur besseren Vermarktung zu sein schien. In Youngstown, wo ihn jeder seit Jahren kennt, dürfte eine bloße Fassade ohnehin kaum aufrechtzuerhalten sein.

Trotz seiner makellosen Siegesserie war Kelly Pavlik in Europa weithin unbekannt und selbst in den USA erst spät ein großer Star. Das dürfte in erster Linie daran gelegen haben, daß er außerordentlich bodenständig blieb und mit allen Faustregeln brach, wonach ein aufstrebender Boxer früher oder später seinen Trainer und den Wohnort wechseln müsse, um sportlich voranzukommen und den gesellschaftlichen Aufstieg in bessere Kreise zu vollziehen. Pavliks Stärke, so schien es, war seine Familie, die vertraute Umgebung und seine Stadt.

Wie der renommierte Boxjournalist Bert Sugar einmal sagte, sei Kelly Pavlik ein weißer Junge aus dem Mittleren Westen, und das gebe ihm eine Beständigkeit, die den meisten anderen amerikanischen Boxern fehle. Er könne eine großartige Erfolgsgeschichte vorweisen, sei gleichsam mit der Substanz der Stadt verwoben und zweifellos ein Held von Youngstown, wie es heute kaum noch welche gebe.

Dabei war Youngstown eine sterbende Stadt, deren Bevölkerung seit Jahren abwanderte. Als in der einstigen Hochburg der Metallindustrie ein Stahlwerk nach dem anderen schließen mußte, sank die Einwohnerzahl von über 160.000 im Jahr 1960 um mehr als die Hälfte auf gut 80.000 im Jahr 2006. Niemand hätte es Pavlik krummgenommen, wenn er wie Tausende andere ebenfalls weggezogen wäre. Daß er aber geblieben war und Youngstown neuen Stolz schenkte, rechnete man ihm hoch an. Selbst als er Bruttobörsen von mehreren Millionen Dollar verdiente und sein Konto mit diversen Werbeverträgen zusätzlich aufbesserte, wohnte er mit seiner langjährigen Freundin und deren Tochter in einem kleinen Haus und verkehrte in denselben Läden und Kneipen wie eh und je.

Eines Tages, so hoffte Kelly Pavlik, werde man seinen Namen in einem Atemzug mit Legenden wie Sugar Ray Leonard, Marvin Hagler und Thomas Hearns nennen. Er war Weltmeister der Verbände WBC und WBO im Mittelgewicht und galt unter Experten als bester Boxer dieser Gewichtsklasse. Um alle vier Gürtel in seinen Besitz zu bringen, hätte er damals die deutschen Kontrahenten Felix Sturm und Arthur Abraham besiegen müssen. Da sich aber keiner von beiden einen Namen in den USA gemacht hatte, stand ein Aufeinandertreffen nie ernsthaft im Raum.

Nach seinem zweiten Sieg gegen Jermain Taylor und einer erfolgreichen Titelverteidigung gegen Gary Lockett traf Pavlik 2008 in einem Duell zweier Stars in einem höheren Limit auf Bernard Hopkins, der das Mittelgewicht vor Taylor dominiert und damals alle vier maßgeblichen Gürtel in seinen Besitz gebracht hatte. Gegen die Legende mußte Pavlik die erste Niederlage seiner Profilaufbahn hinnehmen. Nach zwei weiteren Titelverteidigungen gegen Marco Antonio Rubio und Miguel Angel Espino verlor Pavlik 2010 seine Gürtel an den Argentinier Sergio Martinez, der heute als bester Akteur dieser Gewichtsklasse gilt.

Gerüchten zufolge hatte Pavlik bereits vor dem Kampf gegen Bernard Hopkins Alkoholprobleme. Diese wurden später publik, als er für längere Zeit pausierte und eine Entziehungskur absolvierte. Pavlik wechselte ins Supermittelgewicht, doch nahm seine Karriere nie wieder Fahrt auf. Daran änderte auch der Umzug nach Kalifornien und der Wechsel zu dem renommierten Trainer Robert Garcia nichts mehr. Ein für 26. Januar geplanter Kampf gegen den weltbesten Supermittelgewichtler Andre Ward aus Oakland wurde wegen einer Verletzung des Kaliforniers abgesagt.

Es wäre vermutlich ohnehin der letzte Kampf Kelly Pavliks gewesen, der nun im Alter von nur 30 Jahren seine Karriere für beendet erklärt hat. Bleibe man zu lange im Boxsport, bekomme man gesundheitliche Probleme, so der frühere Weltmeister. Er spreche von der Zeit, wenn er 55 oder 60 Jahre alt sein werde. Er wolle in diesem brutalen Geschäft, bei dem man nie wisse, was einem passieren könne, kein Risiko mehr eingehen. Er habe zwei Titel gewonnen, sie verteidigt, sei drei Jahre Champion gewesen und habe gutes Geld verdient.

Er könne zufrieden mit seiner Karriere sein, in der er 40 Kämpfe gewonnen und nur gegen Hopkins und Martinez verloren habe, die zu den Besten gehörten. Er habe es satt, seine Familie, die ihm wichtiger als alles andere sei, für das Training zu verlassen. Daher fehle ihm die Motivation, seine Karriere im Ring fortzusetzen, und so schlage er nun ein neues Kapitel in seinem Leben auf.

21. Januar 2013