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PORTRAIT/052: Susianna Kentikian läßt sich nicht unterkriegen (SB)


Vom Flüchtlingskind zur Weltmeisterin

Mit 19 Jahren ist Susianna Kentikian derzeit die jüngste Profiboxerin in Deutschland. Dennoch dürfte die 1,55 m große Fliegengewichtlerin aus Hamburg die talentierteste Kämpferin sein, die hierzulande im Boxgeschäft Karriere macht. Sie wird als würdige Nachfolgerin Regina Halmichs gehandelt, die Ende des Jahres ihre aktive Laufbahn beenden will, und ist die Hauptattraktion des neuen Fernsehformats "Fight Night" für ein junges Publikum, das der Privatsender ProSieben in Zusammenarbeit mit dem Hamburger Boxstall Spotlight präsentiert. Ins Fernsehen kommt ihre Geschichte auch als Dokumentarfilm, zu dessen Vorbereitung sie ein Kamerateam des WDR monatelang begleitet hat. Der Film soll Ende Mai in der ARD zu sehen sein.

Susianna Kentikian wurde am 11. September 1987 in der armenischen Hauptstadt Eriwan geboren. Als ihr Vater zur Armee einberufen werden sollte, um im Bürgerkrieg zu kämpfen, beschlossen die Eltern, das Land zu verlassen. Sie kamen 1992 mit ihren Kindern Mikael und Susianna als Flüchtlinge nach Berlin, von wo aus sie später nach Moldawien weiterziehen mußten. Erst 1996 gelangte die Familie wieder nach Deutschland, wo sie zunächst auf einem Flüchtlingsschiff im Hamburger Hafen und danach in einem Asylbewerberheim im Stadtteil Langenhorn in beengten und prekären Verhältnissen lebte. Stets von Abschiebung bedroht, wurde sie einmal morgens von Zivilpolizisten wachgeklingelt, die sie aufforderten, sofort zu packen, da sie in drei Stunden nach Armenien zurückfliegen müßten. Erst auf dem Flughafen gelang es Susianna Kentikian, ihren Vereinstrainer telefonisch zu erreichen, der einen Anwalt verständigte. Dieser erwirkte dann einen Aufschub der Deportation. Schließlich zog die Familie nach Rahlstedt um, wo sie heute wohnt.

Susianna Kentikian beschreibt sich selbst als positiven Menschen, der offen auf andere zugeht und nie aufgibt. Sie habe sich schon als Siebenjährige fest vorgenommen, eines Tages etwas Großes zu schaffen, wobei ihr damals natürlich noch nicht klar gewesen sei, worum es sich dabei handeln könnte. Ihr Vater habe den Wunsch gehabt, ihr Selbstbewußtsein zu stärken und ihr die Möglichkeit zu geben, sich zu verteidigen. Daraufhin habe sie mehrere Sportarten ausprobiert, aber erst beim Boxen das Gefühl gehabt, das dies zu ihr passe. Ihr erster Trainer beim BSV 19 habe ihr den erforderlichen Biß für eine erfolgreiche sportliche Laufbahn attestiert.

So begann sie mit zwölf Jahren zu boxen und gewann im Amateurbereich 24 von 25 Kämpfen. Sie wurde mehrfache Hamburger Meisterin, Norddeutsche Meisterin und bekam schließlich einen Profivertrag bei Promoter Dietmar Poszwa, dem Chef des Spotlight-Boxstalls und Schwiegersohn Klaus-Peter Kohls. Trainiert von Magomed Schaburow gab die "Killer Queen" am 15. Januar 2005 ihr Profidebüt und machte ihrem Kampfnamen seither alle Ehre. Ihre Profibilanz steht bei 16 Kämpfen und ebenso vielen Siegen, wobei sie 13 Duelle vorzeitig gewann. Am 16. Februar 2007 wurde sie in Köln Weltmeisterin des Verbands WBA im Fliegengewicht.

Da sie nie lange stillsitzen könne und immer in Bewegung sei, trainiere sie nach wie vor mit großer Begeisterung und genieße das Gefühl, alles aus sich herauszuholen: "Ich weiß, daß vieles in mir steckt, was ich noch nicht gezeigt habe. Ich möchte, daß die Leute irgendwann sehen, daß ich von allem etwas beherrsche." Sie trainiert zwar mit männlichen Partnern, da sie das körperlich weiterbringe, läßt aber das Klischee nicht gelten, sie boxe wie ein Mann. Es gehe doch darum, welchen Stil man habe, und der sei nicht nach Geschlechtern getrennt.

Sie hasse ihre Gegnerinnen nicht und wolle sie auch nicht zerstören, wie ihr des öfteren nachgesagt werde. Sie wolle vielmehr zeigen, was sie könne, und müsse deshalb im Ring gnadenlos sein. So freue sie sich im ersten Moment über einen Niederschlag, weil man ja auf Wirkung trainiere. Doch gleich darauf mache sie sich Sorgen, ob es ihrer Gegnerin gutgehe. Es wäre furchtbar, wenn sie jemanden schwer oder gar tödlich verletzen würde. Sie wolle natürlich gegen die Besten antreten, doch könne sie sich nicht vorstellen, mit Regina Halmich in den Ring zu steigen: "Sie ist mein Vorbild. Man zerstört nicht die eigene Ikone."

Susianna Kentikian verdiente nebenbei Geld mit Putzen, machte den Hauptschulabschluß und im vergangenen Jahr die mittlere Reife. Dabei will sie es nicht belassen, denn ihr nächstes Ziel ist das Fernabitur. Die Schule habe ihr immer Spaß gemacht, da sie gern lerne. Viel hängt davon ab, daß die junge Boxerin ihre Karriere erfolgreich fortsetzt. Solange sie ein geregeltes Einkommen vorweisen kann, haben sie, ihr Bruder und die Eltern Bleiberecht in Deutschland. Inzwischen läuft ihr Einbürgerungsverfahren, so daß Aussicht besteht, eines Tages mit ihrer Familie dauerhaft in Hamburg zu leben.

Sie will nicht mehr nach Armenien zurückkehren, das sie seit ihrer Flucht im Alter von fünf Jahren nicht mehr gesehen hat, obwohl noch viele Verwandte in Eriwan leben. Da ihr letzter Kampf im armenischen Fernsehen als Aufzeichnung zu sehen war, kennen sie dort inzwischen viele Menschen. Im Oktober will sie einer Einladung der Regierung folgen, die eine Ehrung erfolgreicher Sportler vornimmt. Doch aus Hamburg kriege sie auf Dauer niemand mehr weg.

Susianna Kentikians Lebensgeschichte ist angesichts ihrer außergewöhnlichen Umstände natürlich für die Medien attraktiv. Wie die Armenierin berichtet, sei das Interesse an ihr in letzter Zeit deutlich gestiegen, was sie unter anderem an dem regen Besuch ihrer Internetseite ablesen könne. "Wenn ich ein leichtes Leben gehabt hätte, wäre ich wohl nicht da, wo ich jetzt bin." Sie läßt jedoch die stereotype Formel nicht gelten, daß man eine harte Zeit erlebt haben müsse, um es ganz nach oben zu schaffen. Was das Boxen betreffe, wäre sie möglicherweise sogar schon weiter, hätte sie Gelegenheit gehabt, sich noch stärker darauf zu konzentrieren.

Wenngleich sie keinen Hehl aus den existentiellen Anfechtungen einer Flüchtlingsfamilie macht, liegt ihr doch fern, eine Geschichte persönlicher Leiden und Opfer in den Vordergrund zu rücken. Für sie sei die Flucht trotz aller Probleme nicht so schlimm gewesen, da sie überall Freunde gefunden habe. Auch verwahrt sie sich gegen die Übertreibung, sie habe ganz allein ihre Familie unterhalten und vor der Abschiebung gerettet. Es habe sie glücklich gemacht, etwas zum Fortkommen ihrer Angehörigen beitragen zu können: "Wir teilen alles. Es reicht uns zum Glück, daß wir eine Familie sind." Man habe früher eine harte Zeit gehabt, doch gelte das schließlich für sehr viele Menschen.

13. April 2007