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KLASSIK/347: Der britische "Gentleman" betätigt sich als "Sportsman" (SB)


Bürgertum und Adel fechten mit bloßen Händen

Seit den Tagen des alten Rom zählte es zu den Wesensmerkmalen der höheren Stände, nicht nur körperliche Arbeiten von anderen verrichten zu lassen, sondern sich auch in der Arena an deren Kämpfen und Sterben zu ergötzen. Noch im Jahr 1747 wunderte sich der französische Abbé Le Blanc während eines Besuchs in England über einen jungen Adligen, der stolz darauf war, "Champion of England" im Laufen zu sein. Der Abbé konnte nicht begreifen, "daß es Menschen gibt, die das, was für andere beschwerliche Alltagsmühe bedeutet, freiwillig aus Ruhmsucht auf sich nehmen".

Wie war es zu diesem Wandel in der Geisteshaltung der Bürger- und Adelskreise gekommen? Lange Zeit hatte das Duellwesen zur handgreiflichen Bereinigung gewisser Kontroversen auch die vornehmen Herren dazu veranlaßt, ihre verletzte Ehre mit der blanken Waffe wiederherzustellen. Solche Ausmaße nahm dieses blutige Regulativ diverser Streitigkeiten an, daß schon die Puritaner den Ringkampf anstelle des Fechtens empfohlen hatten - jedoch vergeblich, da diese allzu bodenständige Rauferei offenbar nicht nach dem Geschmack der höheren Kreise war.

Indessen konnte die Denkweise der Aufklärung, die eine umfassende Neuregelung nach den Prinzipien der Vernunft forderte, den starren Ehrbegriff zugunsten einer Bewahrung der Ehre ohne Blutvergießen wandeln, als in Großbritannien der Faustkampf anstelle des blutigen Duells mit der Klinge in Mode kam. An dieser Entwicklung hatte nicht zuletzt Jack Broughton großen Anteil, in dessen Londoner Boxschule sich auch die Adligen dieser Kunst widmen konnten, und bald nichts mehr dabei fanden, selbst zu tun, was man vordem andere austragen ließ. Bald zählte Boxen neben Laufen, Rudern und Kricket zu den etablierten Sportarten.

So kam es auch bei Meinungsverschiedenheiten im Alltag gar nicht selten zu einer Form der Klärung, die uns aus heutiger Sicht allerdings kurios anmuten muß. Im Jahr 1755 erschien in Großbritannien das Wörterbuch "Dictionary of the Englisch Language" mit 40.000 Stichworten. Sein Verfasser war der Schriftsteller, Journalist und Kritiker Samuel Johnson. Dieser hatte bald darauf einen Disput mit einem Buchhändler, "Davis, the bookseller in Kingstreet, Covent Garden", den er - man höre und staune - durch einen Boxkampf austrug, bei dem Davis k.o. ging. Und dies war beileibe nicht der einzige Fall, in dem ein angesehener Literat von seinen Fäusten Gebrauch machte, ohne dadurch in seinen Kreisen auf eisige Ablehnung zu stoßen. Johnson wußte sogar voller Stolz zu berichten, daß er das Boxen von seinem Onkel gelernt habe, der sich ein volles Jahr lang ungeschlagen im Ring von Smithfield behauptete.

Es konnte allerdings nicht ausbleiben, daß diese Entwicklung scharfe Kritiker auf den Plan rief, und öffentliche Boxkämpfe streng verboten wurden. Doch wie schon zu Zeiten des alten Duellwesens machte gerade dies den besonderen Reiz solcher Zweikämpfe aus. Der Boxkampf in seiner britisch-vornehmen Variante des Faustfechtens war allen Anfeindungen zum Trotz nicht mehr aufzuhalten. Im Jahre 1792 erschien das Wörterbuch "The British Sportsman", in dem der Begriff "sportsman" synonym mit "gentleman" verwendet wurde.

Galt es vordem als Zeichen von Wohlstand und höherer Stellung, von körperlicher Tätigkeit vollständig freigesetzt zu sein, so trug nun den Ehrentitel "Amateur", wer sich sportliche Betätigung leisten konnte. Wie man unschwer erkennen kann, konnte dabei von einem Wandel im sozialen Grundverhältnis keine Rede sein. Vielmehr eigneten sich Bürgertum und Adel ein neues Feld des Müßiggangs an, auf dem ihr Drang nach Lebenssinn und Nervenkitzel innovativ Entsprechung fand.

7. Oktober 2007