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KLASSIK/345: Nicht sein Rekord macht Rocky Marciano zur Legende (SB)


Seine Qualitäten lassen sich nicht auf 49 Siege reduzieren

Der frühere Schwergewichtsweltmeister Rocky Marciano verlor zwischen 1947 und 1956 keinen einzigen seiner 49 Profikämpfe. Er gilt noch heute als einer der besten Boxer, die jemals im Ring gestanden haben. Seine lange Siegesserie wurde seither nie wieder erreicht: So scheiterte Dariusz Michalczewski im Halbschwergewicht kurz vor dem ersehnten Ziel, und vor wenigen Tagen endete für Nikolai Walujew die Rekordjagd im Schwergewicht. Ohne dem Russen zu nahe treten zu wollen, darf man sich wohl bei seinem Bezwinger Ruslan Tschagajew für das gerade noch rechtzeitige Ende eines Vergleichs bedanken, dem der vor allem physisch imposante Boxer aus St. Petersburg gewiß nicht standhalten konnte.

Rocky Marciano legte zwischen den Seilen viele Qualitäten und Tugenden an den Tag, die sich nie und nimmer auf die Zahl von 49 gewonnenen Kämpfen reduzieren lassen. Sich ausschließlich an dieser Bestleistung zu messen, wäre ein Armutszeugnis für jeden Boxer, weshalb man froh sein kann, daß es bis auf den heutigen Tag niemandem gelungen ist, den 50 Jahre alten Rekord zu erreichen und zu behaupten, er stehe damit auf gleicher Stufe mit dem legendären Vorbild.

Anfang der fünfziger Jahre schien die Hoffnung des weißen Amerika, nach Joe Louis, Ezzard Charles und Joe Walcott die Ära schwarzer Weltmeister im Schwergewicht zu beenden, wieder handfeste Nahrung zu bekommen. Mit Francis Rocco Marchegiano, der sich im Ring Rocky Marciano nannte, machte sich ein vielversprechender Boxer auf den Weg, den Champion zu stellen. Der Sohn eines eingewanderten italienischen Schusters war beim Militär für das Boxen entdeckt worden. Mit einer Größe von 1,79 m und 83 kg Gewicht schien es ihm an körperlichem Format für einen Schwergewichtler zu fehlen, doch verstand er es, seine kurzen Arme mit enormer Wucht einzusetzen.

Er begann seine Profikarriere im Jahr 1947, erzielte 15 K.o.-Siege in Folge und bewies zugleich Nehmerqualitäten, die ihm den Spitznamen "Der Felsen" einbrachten. Am 26. Oktober 1951 überrollte der damals 28-jährige Rocky Marciano auch den physisch unterlegenen Joe Louis und empfahl sich damit für die Herausforderung von Jersey Joe Walcott.

Als neue "weiße Hoffnung" gefeiert, ebnete man ihm den Weg, und so trat er am 23. September 1952 dem ungeliebten schwarzen Weltmeister gegenüber. Jersey Joe Walcott wußte, daß er den fürchterlichen rechten Haken Marcianos kaum über die volle Distanz standhalten konnte, und suchte daher eine rasche Entscheidung. Zum Entsetzen des Publikums in Philadelphia, das sich ganz auf die Seite des Italo-Amerikaners geschlagen hatte, mußte dieser bereits in der ersten Runde nach einem wuchtigen linken Haken Walcotts zu Boden gehen.

Doch Marciano bewies seine sprichwörtliche Härte, stand wieder auf und lieferte dem Champion eine blutige Ringschlacht. Beide kämpften bewundernswert, und nach zwölf Runden lag Walcott sogar in Front. Doch in der dreizehnten Runde kam Rocky Marciano mit einem schweren rechten Haken zum Kinn durch, der Jersey Joe Walcott auf die Bretter schickte.

Rocky Marciano ging in die neutrale Ecke, wo er zu einem Freudentanz ansetzte, den er jedoch sogleich wieder abbrach. Wie er später bekannte, habe er sich geschämt zu tanzen, während "der alte Mann noch am Boden lag". Marciano war zweifellos ein Boxer, den die Branche in ihrer verzweifelten Suche nach einem geeigneten weißen Titelaspiranten mit aller Macht ins Rampenlicht schob, doch zeichneten ihn ebenso unbestreitbar Qualitäten aus, die seine vermeintlich unterlegene Statur mehr als wettmachten. Er widerstand den Treffern wesentlich größerer und schwerer Gegner und war für seine rechten Haken gefürchtet, die er allen konventionellen Auffassungen von mangelnder Reichweite zum Trotz meisterhaft einzusetzen verstand. All dies hätte sicher ausgereicht, um ihn binnen kurzem als Legende auf dem Schwergewichtsthron zu feiern, doch kam ein Drittes hinzu, das ihm einen unwiderruflichen Platz in den Herzen der Boxfans schuf. Wie seine Achtung vor dem geschlagenen Jersey Joe Walcott zeigte, brachte er eine Haltung in den Ring zurück, die man im professionellen Geschäft längst verloren glaubte.

Am 15. Mai 1953 sollte Jersey Joe Walcott, den man inzwischen schon den "Methusalem von Campden" nannte, da er vermutlich 45 Jahre alt war, Gelegenheit zur Revanche gegen Rocky Marciano bekommen. Von Joe Louis herzlich am Ring begrüßt, stieg ein Boxer ins Seilgeviert, der sich in bester körperlicher Verfassung und offensichtlich austrainiert präsentierte. Zwar waren sich die Experten einig, daß der Champion diesmal kurzen Prozeß machen werde, doch die Wetter waren es augenscheinlich nicht, denn die Quote stand nur 2:1 für Rocky Marciano. Man hatte den hochklassigen Titelkampf von Philadelphia also noch gut in Erinnerung, bei dem Walcott die "weiße Hoffnung" schwer in Bedrängnis brachte.

Diesmal aber spielte Rocky Marciano von Beginn an seine Stärke aus und ließ sich nicht überraschen. Er fiel mit einem wahren Hagel von Schlägen über den Gegner her und trieb ihn in die Seile. Vergeblich versuchte Walcott freizukommen und den wütend anstürmenden Weltmeister auf Distanz zu halten. Nach nur 2:25 Minuten des Kampfes mußte der Herausforderer nach einem rechten Schwinger zum Kinn seine Hoffnung begraben. Joe Walcott wurde ausgezählt und stand danach minutenlang fassungslos im Ring, hatte er doch mit einem derart schnellen Ende nicht gerechnet.

Nach dem gescheiterten Versuch Jersey Joe Walcotts, auf den Thron des Champions aller Klassen zurückzukehren, wagte sich mit Ezzard Charles ein weiterer alter Bekannter und ehemaliger Weltmeister an ein Comeback. Er trat am 17. Juni 1954 in New York gegen Rocky Marciano an und nötigte ihm durch eine beachtliche Leistung einen Gang über die volle Distanz von 15 Runden ab. Zwar unterlag er nach Punkten, doch hatte er sich nach einhelliger Meinung damit einen Rückkampf verdient.

So kam es am 17. September wiederum in New York zum zweiten Aufeinandertreffen innerhalb eines Vierteljahres. Erneut zeigte sich Charles in guter Verfassung und setzte dem Champion beherzt zu, doch diesmal erging es ihm wie vordem Joe Walcott. Rocky Marciano konnte unter stärkstem Druck stehen und blieb doch jederzeit gefährlich: Nach einem vernichtenden Treffer fand sich Ezzard Charles geschlagen am Boden wieder.

Im folgenden Jahr mangelte es dem Schwergewichtsweltmeister in den USA zunehmend an angemessenen Gegnern, und so bediente sich das Boxgeschäft des Kunstgriffs, den britischen Meister Don Cockell als Vertreter der Alten Welt gegen den Champion aus der Neuen Welt antreten zu lassen. Zwar war diese Neuauflage einer langjährigen und längst zugunsten der USA entschiedenen Rivalität eher ein Notnagel denn ein zündender Einfall, doch dem Publikum schien es zu gefallen. Wieder hatte es Rocky Marciano mit einem körperlich überlegenen Gegner zu tun, gegen den er beinahe zierlich wirkte. Doch auch der Brite hatte der unerhörten Kampfkraft des Champions letztlich nichts entgegenzusetzen und unterlag durch K.o. in der neunten Runde.

Rocky Marciano aber bekam es am 21. September 1955 mit einem Gegner seiner Statur, doch weitaus größerer Erfahrung zu tun. Archie Moore, den man in jüngeren Jahren von der Weltmeisterschaft im Schwergewicht ferngehalten hatte, erhielt nun im Alter von 42 Jahren und als amtierender Champion im Halbschwergewicht doch noch eine Chance. Der mit allen Wassern gewaschene Ringfuchs hatte Marciano in der zweiten Runde sogar am Boden, doch wieder triumphierten Nehmerqualitäten und Zermürbungstaktik des Titelverteidigers. "Es ist gerade so, als wenn man gegen einen Flugzeugpropeller boxt", beschrieb Archie Moore hinterher schwer gezeichnet seine aussichtslose Lage. Neun Runden hielt der Herausforderer diesem Ansturm stand, bis ihn ein schwerer Treffer fällte.

Nach dieser sechsten erfolgreichen Verteidigung seines Titels schien Rocky Marciano auf dem Höhepunkt seiner Karriere zu stehen, und niemand wollte ihm Glauben schenken, als er Rücktrittsabsichten äußerte. Er war erst 32 Jahre alt, hatte keinen Gegner zu fürchten und verkörperte vor allem den Traum des weißen Amerika, die schwarzen Boxer in die Schranken gewiesen zu haben. Doch Marciano hatte zu seinem Glück einen Manager, der den Gepflogenheiten seines Berufsstands zum Trotz nicht darauf aus war, die Goldgrube restlos auszubeuten und seinen Schützling gnadenlos zu verheizen.

Manager Al Weill, den man wegen seines bevorzugten Kleidungsstücks allgemein nur "Die Weste" nannte, bestärkte seinen Boxer in dem Entschluß aufzuhören. Er wußte sehr wohl, daß ein Schwergewichtler ohne körperliche Vorteile wie Größe, Gewicht oder Reichweite, der seine Erfolge durch pausenlosen Angriffsdruck erzielt, sich eher früher als später verschleißen wird. Sein Schützling sollte nicht so enden wie Joe Louis! Und Rocky Marciano befolgte diesen guten Rat und ließ sich in den folgenden Jahren auch durch verlockende Angebote nicht mehr zur Rückkehr in den Ring überreden.

Als Rocky Marciano am 27. April 1956 nach 49 Kämpfen ungeschlagen zurücktrat, fragte man ihn nach dem schönsten Tag seines Lebens. Doch wer als Antwort des scheidenden Weltmeisters einen seiner grandiosen Siege im Boxring erwartet hatte, sah sich getäuscht. "Als mir Ärzte sagten, Carmine Vingo sei außer Gefahr, er werde leben, er werde keinen Schaden zurückbehalten, und ich sei nicht zu seinem Mörder geworden, da bekam ich wieder Spaß an meinem Beruf als Boxer, den ich sicher aufgegeben hätte, wenn Vingo nicht überlebt hätte", erzählte Marciano. Als sein Gegner Carmine Vingo am 30. Dezember 1949 in der sechsten Runde nach einem schweren Treffer nicht wieder aufstand, brachte man ihn mit einem Schädelbruch und einer Gehirnblutung ins Krankenhaus. Dort lag er vierzehn Tage halbseitig gelähmt im Koma. Vor seinem Bett kniete Francis Rocco Marchegiano und betete. Er kam täglich, bezahlte die beste Behandlung, und als sein Gegner genas, half er ihm bei der Arbeitssuche.

Rocky Marciano, wie er sich im Ring nannte, war dank seiner italienischen Herkunft sicher ein gefühlvoller Mann, doch wie diese Geschichte lehrt, stand er jenseits aller Glorifizierung und großen Gesten auch für eine Haltung, die von Achtung und Sorge geprägt war. Wir hatten ja bereits davon berichtet, wie er seinen Freudentanz angesichts des geschlagenen Joe Walcott abbrach und später bekannte, er habe sich dafür geschämt zu tanzen, während der alte Mann noch am Boden lag: Tugenden eines Boxers, die weit mehr als sein ungeschlagener Rücktritt das Bild dieses großartigen Kämpfers in der Erinnerung strahlen lassen.

18. April 2007