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SPLITTER/419: Inflation der Titel - Boxsport verheizt seine Geschäftsgrundlage (SB)



Ein halbes Dutzend Weltmeistergürtel pro Verband und Gewichtsklasse

Je mehr der professionelle Boxsport gegenüber dem Wrestling und dem Ultimate Fighting in der Gunst des Publikums ins Hintertreffen gerät, desto hemmungsloser versuchen seine einflußreichen Verbände, die verlöschende Glut durch allerlei Kunstgriffe wieder anzufachen und ein Strohfeuer auflodern zu lassen, das freilich die verbliebenen Ressourcen und Optionen nur um so rascher verbrennt. Als kontraproduktiv erweist sich insbesondere die in jüngerer Zeit um sich greifende Unsitte, immer neue Arten von Weltmeistern zu erfinden und damit deren Vielfalt endgültig zu einem für Außenstehende unmöglich zu entwirrenden Gestrüpp zu verfilzen. Der Wunsch von seiten der Zuschauer, einen einzigen Champion pro Gewichtsklasse zu küren, hat das Boxen seit Jahrzehnten begleitet. Inzwischen haben jedoch nicht nur die vier maßgeblichen sowie diverse kleinere Verbände jeweils ihren eigenen Weltmeister, auch innerhalb der einzelnen Organisationen wird die Auffächerung hemmungslos weiter vorangetrieben.

So gibt es mittlerweile neben dem regulären Weltmeister die Kategorien Superchampion, Interimsweltmeister, Weltmeister im Ruhestand, Diamantchampion und Silberchampion, wodurch eine Vielzahl hochklassiger Akteure und attraktiver Duelle suggeriert wird, ohne daß sich am tatsächlichen Nachwuchsmangel und vielfach sinkenden Niveau, wie es insbesondere im Schwergewicht beklagt wird, etwas geändert hätte. Für das Publikum ist diese Unüberschaubarkeit und Bauernfängerei abstoßend, so daß es ein Wunder wäre, beschleunigte die Inflation der Titel nicht die Abwanderung sportinteressierter Zuschauer zu reizvolleren Disziplinen.

Den Verband WBC und seinen langjährigen Präsidenten José Sulaiman scheinen solche Bedenken jedoch nicht im geringsten zu irritieren, führt er doch den Titel des "absoluten" Champions ein. Lukrativ ist die Kreation solcher Phantasiegürtel für die Verbände allemal, da sie bei jedem Titelkampf Gebühren erheben, die üblicherweise ein bis drei Prozent der Kampfbörse betragen. Führen sie statt einem Weltmeister pro Gewichtsklasse heute vier oder fünf, steigen ihre Einkünfte entsprechend. Daher ist vorerst niemand in Sicht, der diesem Treiben Einhalt gebieten könnte, solange es sich um das fragwürdige Geschäftsgebaren freien Unternehmertums und nicht um Straftaten handelt.

Auch aus den Reihen der Promoter, Manager und Boxer werden kaum Einwände erhoben, erlaubt es die Diversifizierung der Titel doch, sich wesentlich schneller als in der Vergangenheit irgendeinen dieser Gürtel zu sichern und ihn wie im Falle des "Weltmeisters im Ruhestand" mitunter jahrelang zu behalten, ohne zwischenzeitlich auch nur ein einziges Mal im Ring gestanden zu haben. Weithin bekannt wurde dieser Modus im Falle Vitali Klitschkos, der seine Karriere beendet und vier Jahre nicht mehr geboxt hatte. Als er nach langer Abwesenheit beschloß, doch wieder die Fäuste zu schwingen, gewährte ihm der Verband WBC aufgrund einer persönlichen Zusage seines Präsidenten einen sofortigen Kampf um den früheren Titel. Dies führte dazu, daß Klitschko nach seiner Rückkehr durch einen einzigen Sieg sofort wieder Weltmeister wurde und damit allen anderen Kandidaten das Nachsehen gab, die sich in den zurückliegenden Jahren mühsam nach oben gearbeitet hatten.

Der erste "absolute" Champion des WBC wird im Halbweltergewicht gekürt. Weltmeister Timothy Bradley wechselt vermutlich bald ins Weltergewicht und wird künftig als "Champion im Ruhestand" geführt. Dadurch gilt der reguläre Titel als vakant und wird in einem Duell zwischen Erik Morales und Jorge Barrios neu vergeben. Während Morales 51 Kämpfe gewonnen und sieben verloren hat, stehen für Barrios 50 Siege, vier Niederlagen sowie ein Unentschieden zu Buche. Warum der Gewinner dieses Kampfs nicht einfach Weltmeister, sondern "absoluter" Champion genannt wird, bliebe rätselhaft, müßte man darin nicht einen neuerlichen Vorstoß vermuten, einen zusätzlichen Gürtel einzuführen. Dem Sportpublikum wird dieses Treiben früher oder später völlig gleichgültig sein - so gleichgültig wie der Boxsport, der den Eindruck eines gültigen Regelwerks und einer überschaubaren Struktur eigenhändig ad absurdum führt.

29. Juli 2011