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SPLITTER/416: Inflation der Superlative kündet vom Verfall (SB)



Vermarktungsoffensiven des angeschlagenen Boxgeschäfts

Die gängige Praxis, einem sich selbst legitimierenden Kreis mehr oder minder renommierten Sportjournalisten das Urteil zu überlassen, wer der aktuell beste Boxer aller Gewichtsklassen sei, muß sich zwangsläufig kritische Fragen gefallen lassen. Soweit dafür in Erwägung gezogene Kandidaten miteinander im Ring gestanden haben, kann das Verfahren eine gewisse Plausibilität für sich in Anspruch nehmen. Da jedoch ein direkter Vergleich angesichts der enormen Spannweite zwischen dem Gewichtsminimum und den schwersten Kalibern des Boxgeschäfts die Ausnahme bleiben muß, handelt es sich letzten Endes um eine bloße Einschätzung, der vordergründige und willkürliche Kriterien zugrunde liegen.

In der Vergangenheit pflegte man den Schwergewichtschampion auch als "Weltmeister aller Klassen" zu bezeichnen, weil die Unterteilung in gestaffelte Gewichtslimits nahelegte, daß der beste Akteur der höchsten Klasse alle leichteren Gegner besiegen würde. Mit der Diversifizierung der Titel durch verschiedene Verbände trat jedoch der Fall immer seltener ein, in dem ein Boxer alle maßgeblichen Gürtel in seinen Besitz brachte oder zumindest als unbestritten bester Akteur der Schwergewichtsszene auf den Schild gehoben wurde. Zudem führte der Verfall der Königsklasse in den zurückliegenden Jahren dazu, daß sich das qualitative Zentrum des professionellen Boxsports in die Region leichter und mittlerer Gewichtsklassen verlagerte.

Mußte der Boxsport die Führerschaft in der Publikumsgunst zunächst an das Wrestling abtreten, das die Inszenierung von Charakteren und Fehden bis ins Extrem steigerte, so sind es heute die Mixed Martial Arts, die das Bedürfnis der Zuschauer nach realistischeren Kämpfen aufgreifen und verwerten. Das in die kommerzielle Defensive gedrängte Boxgeschäft reagierte mit diversen Vermarktungsoffensiven, deren gemeinsames Merkmal die Produktion von Superlativen ist. Den angeblich weltbesten Boxer zu küren, ist dabei nur die geläufigste unter zahlreichen Varianten dieser Provenienz.

Längst sind die Verbände dazu übergegangen, neben ihren regulären Titelträgern auch Superchampions, Interimsweltmeister und Besitzer eines Silbergürtels zu führen, was einer entufernden Unüberschaubarkeit Vorschub leistet und klaren Verhältnissen, wie sie das Publikum schätzt und einfordert, den Todesstoß versetzt. Die aus der Not geborene marktschreierische Fiktion gleicht einem Strohfeuer, das die spärlichen Ressourcen hoch auflodernd durch den Schornstein jagt, als gebe es für die Branche kein Morgen. Dauerhaft Qualität zu gewährleisten bedürfte ganz anderer Ansätze wie etwa einer geplanten Nachwuchsförderung im Amateurbereich, die nicht ausschließlich auf kurzfristige Ziele ausgerichtet ist.

Bodenständiger als die inflationäre Kreation von Phantasietiteln muten da schon die populär gewordenen Duelle namhafter Champions an, die ohne sonderliche Rücksicht auf traditionelle Regularien durch die Gewichtsklassen wandern, um sich miteinander zu messen. Indem sie das alte Ideal zelebrieren, daß nur die unmittelbare Konfrontation im Ring unbestreitbare Fakten schaffe, holen sie zumindest das schlichte, aber noch am ehesten faßbare Grundprinzip ins Scheinwerferlicht zurück. Sofern man Boxen nicht mit mißverstandenen Ansprüchen befrachtet, die es als Sport unter reglementierten Maßgaben unmöglich erfüllen kann, trifft man bei derartigen Duellen doch recht häufig reizvolle und unterhaltsame Darbietungen an.

Sieht man von dem daraus erwachsenden Starkult ab, der in forcierter Taktfolge Konsumentenwünsche übererfüllt und damit ebenfalls das Fundament des Gewerbes verschlingt, knüpft diese Variante mitunter an weitgehend aus dem Blick verlorene Problemstellungen grundsätzlicher Natur an. Wenn beispielsweise ein bereits abgeschriebener Veteran in hohem Sportleralter seinen zweiten Frühling generiert und die Jugend das Fürchten lehrt, trotzt dies zumindest befristet dem Primat bloßen Athletentums und seinen offenbar tönernen Füßen. Und gelingt es einem physisch unterlegenen Boxer, einen wesentlich größeren und schwereren Kontrahenten zu besiegen, muß sich die Begeisterung nicht im Abfeiern des Sensationellen erschöpfen.

Als anerkannter Meister dieser Kunst gilt im Boxsport Manny Pacquiao, der seit mehreren Jahren als bester Boxer aller Gewichtsklassen gehandelt wird. Am 13. November 2010 sicherte er sich durch einen Sieg über den Mexikaner Antonio Margarito den vakanten WBC-Titel im Halbmittelgewicht und wurde damit Weltmeister in der achten Gewichtsklasse. Bemerkenswert ist daran insbesondere, daß der Philippiner nicht etwa im Laufe der Zeit so viel Gewicht zugelegt hat, daß er regulär in den höheren Limits antreten würde. Er stand zuletzt durchweg mit Kontrahenten im Ring, die wesentlich größer und schwerer als er waren, und besiegte sie durch die Bank. Inzwischen hat er den WBC-Titel im Halbmittelgewicht niedergelegt und damit einem Limit den Rücken gekehrt, in dem er kurioserweise Weltmeister war, ohne das dort übliche Gewicht jemals zu erreichen.

15. Februar 2011