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SPLITTER/395: Amateurboxen der USA in einer Identitätskrise (SB)



Kaderschmiede für Olympia oder Reservoir fürs Profigeschäft?

Die Talfahrt des US-amerikanischen Amateurboxens hält ungebremst an und die als Wiederauferstehung angekündigte Reise zum olympischen Turnier in die chinesische Hauptstadt hat sich als um so verheerenderes Debakel erwiesen. Hatten bei den Sommerspielen 1996 in Atlanta noch sechs der zwölf teilnehmenden US-Boxer Medaillen erkämpft, so waren es 2000 in Sydney vier und 2004 in Athen nur noch zwei. In Peking trat eine Mannschaft von neun ambitionierten Boxern an, die als die beste seit Atlanta galt. Inzwischen sind jedoch acht Akteure vorzeitig ausgeschieden, so daß die Ausbeute am Ende wiederum schlechten als vor vier Jahren ausfallen wird. Während Länder wie Thailand, Kasachstan, China oder Italien zu den traditionell führenden Kubanern und Russen aufschließen, fallen die Amerikaner weiter zurück.

An finanzieller Förderung wie im Fall der gescheiterten deutschen Amateurboxer fehlte es in den USA nicht. Als entscheidendes Manko der Vorbereitung kristallisiert sich vielmehr ein Konflikt zwischen den Heimtrainern der Boxer und dem Cheftrainer der Nationalmannschaft heraus, der aus einem offensichtlich verfehlten Konzept der Kasernierung resultiert. Will man noch tiefer fassen, so treffen dabei zwei konkurrierende Boxphilosophien aufeinander, die nicht miteinander zu vereinbaren sind. Während die langjährigen Heimtrainer ihre Schützlinge auf eine spätere Profikarriere vorbereiten, setzt das Olympiazentrum auf das schnelle Punktboxen, bei dem die Zahl der registrierten Treffer im Vordergrund steht, während die Schlagwirkung nachgeordnet bleibt.

Herzstück der Olympiavorbereitung und zugleich Stein des Anstoßes war das erstmals seit 24 Jahren wieder eingeführte Trainingszentrum in Colorado Springs. Bereits im August 2007 fand die Olympiaausscheidung statt, worauf die Kandidaten zehn Monate lang kaserniert wurden, damit sie sich voll und ganz auf ihre kommenden Herausforderungen konzentrieren konnten. Finanziell abgesichert, täglich trainiert sowie von Psychologen und Ernährungsberatern betreut schienen die Boxer die bestmögliche Unterstützung zu bekommen.

Hingegen wenden Kritiker ein, daß es ein grundlegender konzeptioneller Fehler gewesen sei, Sportler im Alter von 18 bis 23 Jahren über einen derart langen Zeitraum von ihrem gewohnten Umfeld, ihren Familien und nicht zuletzt ihren langjährigen Trainern zu trennen und in eine fremde Umgebung zu stecken.

Die Architekten des Kasernierungsprogramms, Cheftrainer Dan Campbell und der Verbandsvorsitzende Jim Millman, setzten auf eine Form der Ausbildung, die nicht von ungefähr an ein Konzept militärischen Drills erinnert. Isoliert in einer unvertrauten Umgebung sollte Kameradschaft gefördert und die Umstellung auf den international maßgeblichen Amateurstil bewerkstelligt werden. Campbell, der früher im Strafvollzug tätig war, hält Kritikern seine Kompetenz als Trainer bei Weltmeisterschaften und Panamerikanischen Spielen entgegen, wobei er die Einmischung der Heimtrainer für das Debakel verantwortlich macht.

Gary Russell sr., der zu den schärfsten Kritikern der Kasernierung zählt, hielt indessen sogar heimliche Trainingseinheiten mit seinem Sohn in einem Hotelzimmer von Colorado Springs ab. Wie Campbell hervorhebt, habe der allein im olympischen Turnier verbliebene Schwergewichtler Deontay Wilder als einziger der neun Boxer einen Trainer, der sich nicht in die Vorbereitung eingemischt hatte.

Bestes Beispiel der vorherrschenden Verwirrung in der US-Staffel war Halbfliegengewichtler Luis Yanez, der offenbar nicht mehr zu wissen schien, wessen Rat er befolgen sollte. Während ihn die Olympiatrainer anwiesen, von Beginn an unablässig anzugreifen, lautete die Anweisung seiner Heimtrainer, den Kampf ruhig anzugehen. Die Folge war eine weitere verheerende Niederlage, die sich nahtlos in die anderen Mißerfolge einreihte. Der amtierende Weltmeister im Fliegengewicht, Rau'shee Warren, schien nicht zu realisieren, daß er vor einer Niederlage in seinem Auftaktkampf stand, und begann erst kurz vor dem Schlußgong heftig anzugreifen, als es bereits zu spät war.

Gary Russell jr. schaffte es gar nicht erst bis in den Ring, da er vor dem Wiegen Gewicht reduzieren mußte und dabei erschöpft und dehydriert zusammenbrach. Weltergewichtler Demetrius Andrade führte seine knappe Niederlage gegen einen Südkoreaner darauf zurück, daß er benachteiligt worden sei, und verließ noch vor der offiziellen Verkündung des Urteils empört den Schauplatz seines Scheiterns. Deontay Wilder konnte von Glück reden, daß sein Unentschieden gegen Mohammed Arjaoui durch die in derartigen Fällen erforderliche Zusatzwertung in einen hauchdünnen Sieg umgewandelt wurde.

Ratlosigkeit befiel die US-amerikanischen Funktionäre, die mit ersten greifbaren Resultaten ihres neuen Konzepts gerechnet hatten und nun vor einem Scherbenhaufen stehen. Auch in anderen Ländern wie Rußland, Italien oder Frankreich werden die Boxer vor bedeutenden internationalen Turnieren für eine gewisse Zeit in Trainingszentren zusammengefaßt, was durchaus zu funktionieren scheint. Offenbar steckt der Teufel in Details, die der US-amerikanische Verband falsch eingeschätzt hat. So sind beispielsweise regelmäßige kürzere Lehrgänge der Nationalmannschaft nicht mit einer monatelangen Kasernierung gleichzusetzen, weil im ersten Fall das Zusammenspiel der verschiedenen Trainer erprobt und verbessert werden kann, während im zweiten die Entfremdung geradezu vorprogrammiert ist.

Verbandschef Millman hat bereits angedeutet, daß er sich für die Vorbereitung auf die Olympischen Spiele 2012 in London eine kürzere Stationierung im Leistungszentrum vorstellen kann, zumal fünf Boxer der Mannschaft selbst Kinder haben. Auch sollten seines Erachtens die Heimtrainer künftig stärker einbezogen werden.

Während das Verhängnis die Verantwortlichen wie ein Blitz aus heiterem Himmel zu treffen schien, waren die Probleme offenbar für kompetente Fachleute durchaus abzusehen. So faßte Teddy Atlas, der zu den renommiertesten Trainern im Profigeschäft zählt und unter anderem als Experte für den Sender NBC tätig ist, den Kernkonflikt zehn Tage vor dem Debakel von Peking folgendermaßen zusammen: Seiner Meinung nach steckt der Boxsport in den USA gegenwärtig in einer Identitätskrise. Während man auf der einen Seite ein Olympiakonzept entwickle, um international wieder konkurrenzfähig zu werden, fasse man das Amateurboxen andererseits als Reservoir des Profigeschäfts auf. Man müsse eine Grundsatzentscheidung fällen: Wenn man wirklich bei Olympia erfolgreich auftreten wolle, müsse man so frühzeitig wie möglich häufige Trainingslager und Lehrgänge abhalten. Für die Boxer der aktuellen US-Staffel sehen die Würfel gefallen. Wenn man etwas ändern wolle, müsse man mit der nächsten Generation anfangen.

20. August 2008