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JUGEND/088: Jugend als Problem (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2013 - Nr. 104

Jugend als Problem

Von Nicolle Pfaff



Jugendstudien konzentrieren sich vielfach auf die Risiken des Aufwachsens. Die Jugendforschung hat dabei die gesellschaftlichen Bedingungen ebenso wenig im Blick wie die Diskussion über Benachteiligung und Normabweichung. Beide Dimensionen sind jedoch notwendig, um aus den Ergebnissen sinnvolle politische und pädagogische Folgerungen abzuleiten.

Das Verhältnis von Jugend und Gesellschaft gehört seit jeher zu den zentralen Feldern der Jugendforschung. So interessiert sich die sozialwissenschaftliche Jugendforschung besonders dafür, unter welchen Bedingungen Jugendliche aufwachsen, wie ihre Teilhabechancen im Bildungssystem, auf dem Arbeitsmarkt oder im gesellschaftspolitischen Feld sind und wie sie zur Gesellschaft stehen. Jugend wird dabei entweder als Vorreiterin einer optimistisch gedachten gesellschaftlichen Entwicklung oder als Risikofaktor für den Erhalt der sozialen Ordnung verstanden.

Dass seit Längerem eher eine Wahrnehmung von Jugend als Problemgruppe dominiert, zeigt die auffällige Häufung von Studien zur sozialen Integration wechselnder Gruppen von Jugendlichen seit den 1990er-Jahren. Standen zunächst die Heranwachsenden im Osten Deutschlands im Zentrum (im Sinne einer Metaanalyse dieser Studien Schubart/Speck 2006), bilden aktuell die Nachkommen von Zuwanderinnen und Zuwanderern einen Schwerpunkt der Jugendforschung (kritisch zur dabei eingenommenen Perspektive Geisen 2007). Untersucht werden jugendkulturelle Stile, politische Einstellungen, Bildungswege und Zukunftssichten, Formen des Engagements oder Gewaltverhalten. Integration meint hier, kurz gesagt, die Anpassung der Jugend an die Gesellschaft.

Dies zeigt sich auch in jüngeren Forschungsschwerpunkten der Jugendforschung in Deutschland. So thematisierten Studien zur politischen Sozialisation in den 1990er-Jahren die politischen Einstellungen, die "Politikverdrossenheit", den politischen Extremismus oder das Gewaltverhalten von Jugendlichen (zum Beispiel Heitmeyer 1995; Hoffmann-Lange 1995). Ein zentrales Ergebnis dieser Arbeiten bestand in der Benennung von Risikofaktoren: So gelten seither ein geringer Bildungsstand beziehungsweise Bildungsmisserfolg, soziale Deprivation (beispielsweise Ausgrenzung, Isolation oder Vereinsamung), Armut und spezifische Peerkonstellationen als Bedingungen abweichenden Verhaltens.


Jugendstudien bedienen öffentliche Diskurse

Zu ähnlichen Ergebnissen kommen auch aktuelle Studien zu gesundheitsgefährdendem Verhalten von Jugendlichen, die die Ursachen des Suchtverhaltens, der psychischen Belastungen oder des selbstgefährdenden Verhaltens untersuchten (Hurrelmann u.a. 2003; Niekrenz/Ganguin 2010). Mühelos zu ergänzen wäre hier derzeit ein weiterer Forschungsstrang: Unter Stichworten wie Bildungsbenachteiligung, Bildungsarmut oder Bildungsferne wird die Exklusion Heranwachsender im System der institutionalisierten Bildung und auf dem Arbeitsmarkt thematisiert. Im Blickpunkt stehen wiederum Kinder und Jugendliche, deren Eltern nur geringe Bildungsqualifikationen vorweisen können oder Zuwanderinnen und Zuwanderer sind; die dabei offensichtlich werdenden Teilhaberisiken werden gern als mangelnde Nutzung gesellschaftlicher Potenziale interpretiert.

Alle drei Forschungstraditionen beziehen sich auf einen übereinstimmenden sozialwissenschaftlichen und öffentlichen Diskurszusammenhang: Zunehmende Risiken des Aufwachsens und die Notwendigkeit, höhere Qualifikationen zu erlangen, werden mit Hinweisen auf gesellschaftliche Veränderungen begründet. Diese scheinbar übergeordneten gesellschaftlichen Interessen werden gestützt durch die Finanzierung und politische Nutzung empirischer Studien. So werden in den jeweils vorherrschenden Feldern der Jugendforschung die Exklusionsrisiken ausgewählter sozialer Gruppen untersucht. Die realisierten Studien nehmen dabei affirmativ Bezug auf öffentliche Problematisierungen jugendlichen Verhaltens und legen umfassende Bestandsaufnahmen zu einzelnen Phänomenen jugendlichen (Er-)Lebens und Aufwachsens vor. Doch welche theoretischen Innovationen und welche bildungs- und sozialpolitischen Impulse erbringen diese breit angelegten Forschungsprogramme?

Konzeptionelle Ankerpunkte der Jugendforschung, wie die Theorien der Sozialisation und der Identitätsentwicklung, werden schon seit Längerem infrage gestellt (siehe zum Beispiel Junge 2004). Zugleich mangelt es an systematischen Anknüpfungspunkten, um gesellschaftlichen Wandel und Umbrüche theoretisch in die Jugendforschung einzubeziehen (Riegel u.a. 2010). Die gestiegenen sozialen Unsicherheiten werden in vielen Analysen eher verkündet als systematisch zum Gegenstand der Forschung gemacht. Die daraus bislang formulierten jugendtheoretischen Annahmen sind begrenzt. Die notwendige systematische Aufarbeitung der Ergebnisse empirischer Analysen zum Verhältnis von Jugend und Gesellschaft bleibt - ohne Verständigung über zentrale gemeinsame Begriffssysteme - schwierig.

Unsicherheit ist zugleich der vorherrschende Modus des politischen Umgangs mit Jugend. Seit über einem Jahrhundert setzt sich die anhaltende Pädagogisierung des Jugendalters ungebremst fort. Bildungsgutscheine, Ganztagsschulen wie auch die zunehmende "Verschulung" der offenen Jugendarbeit sind nur einige aktuelle Tendenzen in diesem Bereich. Kurzum: Die Jugendforschung leistet mit der andauernden und dominanten Thematisierung von Jugend als Risiko einen wesentlichen Beitrag zu ihrer Konstruktion als sozialem Problem. Die Forschung zu prekären Bedingungen des Aufwachsens und normabweichenden Verhaltensweisen gerät so zur Erfüllungsgehilfin von Bemühungen um eine Anpassung jugendlichen Verhaltens, wobei hier vor allem die Perspektive auf die Nützlichkeit und die gesellschaftliche Verwertbarkeit der Kompetenzen Heranwachsender eingenommen wird.


Notwendigkeit neuer Forschungsfragen zum Verhältnis von Jugend und Gesellschaft

Theoretisch aufschlussreicher wie auch sozialpolitisch reflexiver wären gleichwohl zwei grundlegende Perspektiven auf die gesellschaftliche Inklusion und Exklusion von Jugend. Das wären zum einen die aktuell weitgehend unbeantworteten Fragen des Verhältnisses von Jugend und Gesellschaft: Wie haben sich Bedingungen des Aufwachsens in den vergangenen Jahrzehnten verändert? Welche Auswirkungen hat dies auf der Ebene jugendlichen Erlebens und Handelns? Wie verändern sich Generationenverhältnisse vor dem Hintergrund des demografischen Wandels? Welche strukturellen Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten kennzeichnen die Jugendphase in unterschiedlichen Weltregionen? Antworten auf diese Fragen könnten dazu beitragen, anspruchsvolle theoretische Konzepte zum Aufwachsen in der Gegenwartsgesellschaft zu entwickeln. Sie würden uns auch dazu befähigen, die Folgen jugend- und bildungspolitischer Maßnahmen einzuschätzen.

Zum anderen müsste es darum gehen, Modi beziehungsweise Mechanismen der Teilhabe und des Ausschlusses aufzudecken. Dabei wäre zum Beispiel zu fragen, wie aus manchen Kindern und Jugendlichen angepasste Schülerinnen und Schüler werden und andere sich den schulischen Verhaltens- und Leistungserwartungen verweigern. Es wäre zu untersuchen, welche biografische Bedeutung formelle Bildung im Verhältnis zu informellen Lernprozessen hat, welche Bildungsräume neben Schule und Ausbildung bestehen und wie Jugendliche Bildungsprozesse außerhalb von Institutionen gestalten. Interessant wären hier auch Fragen zu strukturellen Benachteiligungen, die erklären, wie unterschiedliche Lebenslagen bei Jugendlichen entstehen: Wer erscheint aus der Perspektive der Forschung, der Öffentlichkeit und der pädagogischen Professionellen als benachteiligt? Welche Bedeutung haben diese Konstruktionen für die pädagogische Arbeit mit Jugendlichen? Wie beziehen sich die als benachteiligt beschriebenen Jugendlichen selbst auf diese Darstellungen und welche Bewältigungsformen entwickeln sie?

Dabei könnte nicht zuletzt auch die Jugendforschung selbst zum Forschungsgegenstand werden. Den Beitrag einzelner Forschungslinien zu gesellschaftlichen Bildern von Jugend aufzuklären, kann dazu anregen, blinde Flecken der Jugendforschung sichtbar zu machen und ihre gesellschaftliche und nicht zuletzt politische Bedeutung zu klären.


DIE AUTORIN

Prof. Dr. Nicolle Pfaff ist seit 2012 Professorin in der AG Migrations- und Ungleichheitsforschung der Fakultät für Bildungswissenschaften an der Universität Duisburg-Essen. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Bildungsbezogene Ungleichheitsforschung, Jugendforschung, Schulforschung, Qualitative Forschungsmethoden und Methodentriangulation.
Kontakt: nicolle.pfaff@uni-due.de


LITERATUR

GEISEN, THOMAS (2007): Der Blick der Forschung auf Jugendliche mit Migrationshintergrund. In: Geisen, Thomas/Riegel, Christine (Hrsg.): Jugend, Zugehörigkeit und Migration: Subjektpositionierung im Kontext von Jugendkultur, Ethnizitäts- und Geschlechterkonstruktionen. Wiesbaden, S. 27-60

HEITMEYER, WILHELM (Hrsg.; 1995): Gewalt. Schattenseiten der Individualisierung bei Jugendlichen aus unterschiedlichen sozialen Milieus. Weinheim/München

HOFFMANN-LANGE, URSULA (Hrsg.): Jugend und Demokratie in Deutschland. DJI-Jugendsurvey 1. Opladen 1995

HURRELMANN, KLAUS/KLOCKE, ANDREAS/MELZER, WOLFGANG/RAVENS-SIEBERER, ULRIKE (Hrsg.; 2003). Jugendgesundheitssurvey. Internationale Vergleichsstudie im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation WHO. Weinheim

NIEKRENZ, YVONNE/GANGUIN, SONJA (Hrsg.; 2010). Jugend und Rausch. Interdisziplinäre Zugänge und Jugendliche Erfahrungswelten. Weinheim/München

RIEGEL, CHRISTINE/SCHERR, ALBERT/STAUBER, BARBARA (Hrsg.; 2010): Transdisziplinäre Jugendforschung. Grundlagen und Konzepte. Wiesbaden

SCHUBARTH, WILFRIED/SPECK, KARSTEN (2006): Jugend Ost - kein Thema mehr für die Jugendforschung? Ergebnisse einer Jugend- und Expertenstudie zur "Jugend und Jugendforschung in Ostdeutschland". In: Ittel, Angela u.a. (Hrsg.): Jahrbuch Jugendforschung 6. Wiesbaden, S. 225-254


DJI Impulse 4/2013 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2013 - Nr. 104, S. 9-11
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
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Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm
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veröffentlicht im Schattenblick zum 9. April 2014